Welche schwarzen Leben zählen?
Die Aktivisten von Black Lives Matter wollen der Polizei die Mittel entziehen. Die Folge ist mehr Kriminalität – deren Opfer meist schwarz sind.
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Liest man die Schlagzeilen, könnte man meinen, das grösste Problem von Afroamerikanern heute sei die Gefahr, von einem Polizisten getötet zu werden. US-amerikanische wie auch internationale Medien berichten ausufernd über Fälle wie jenen von George Floyd, der 2020 von einem Polizeibeamten in Minneapolis getötet worden war. Aktivisten machen sich diese Berichterstattung zunutze, um ihre Agenda durchzusetzen. Als Floyds Tod im Sommer 2020 landesweite Rassenunruhen auslöste, forderte die Bewegung Black Lives Matter (BLM), der Polizei die Finanzierung zu entziehen («defund the police»). Linke Politiker versuchten, diese Forderung in die Tat umzusetzen.
Die Bewohner überwiegend schwarzer Stadtteile haben jedoch eine andere Sichtweise, wie ich bei Treffen zwischen Polizisten und Bevölkerung sowie im Gespräch mit Leuten auf der Strasse immer wieder festgestellt habe. Was die anständigen, hart arbeitenden Menschen in diesen Vierteln am meisten fürchten, ist nicht die Polizei, sondern ihre Abwesenheit. Minderheitenviertel sind leider oft von Kriminalität geprägt. Die gesetzestreuen Bewohner dieser Viertel sehen die Polizei als ihre einzige Hoffnung auf ein normales Leben. Eine ältere Frau aus der South Bronx in New York rief vor ein paar Jahren bei einem Treffen zwischen Polizei und Gemeinde: «Wie schön, wenn wir die Polizei sehen! Sie sind meine Freunde!» Für diese schutzbedürftige Seniorin und ihre Nachbarn ist der progressive Traum von der Abschaffung der Polizei ein Albtraum.
Was passiert, wenn sich die Polizei zurückzieht
Um zu verstehen, warum das so ist, braucht man sich nur die Daten anzusehen. Im Jahr 2021 wurden in den USA laut der Datenbank der «Washington Post» sechs unbewaffnete Schwarze von einem Polizisten erschossen, bei einer schwarzen Bevölkerung von etwa 44 Millionen.1 Für das gleiche Jahr werden wahrscheinlich weit über 10 000 schwarze Mordopfer zu beklagen sein, sobald die vollständigen Daten vorliegen. Diese schwarzen Opfer wurden zum überwiegenden Teil nicht von Polizisten, nicht von Weissen, sondern von anderen Schwarzen getötet. Schwarze im Alter von 10 bis 34 Jahren sterben 13mal häufiger durch Mord als Weisse, denn die Rate, mit der Schwarze Morde begehen, ist ebenso überproportional hoch. Eine Kürzung der Mittel für die Polizei wird nicht helfen, diese Zahl zu senken – ganz im Gegenteil.
Nach dem Tod von George Floyd und den darauffolgenden Unruhen haben sich die Polizisten von der proaktiven Polizeiarbeit zurückgezogen, die Kriminelle abschreckt. Nachdem ihnen von den Medien und den Eliten des Landes unablässig gesagt worden ist, dass es rassistisch sei, Verdächtige anzuhalten und zu befragen und leichte Straftaten zu verfolgen, kehrten viele Beamte zu einer rein reaktiven Polizeiarbeit zurück, das heisst, sie reagieren auf Gewalt und Eigentumsdelikte erst, nachdem es bereits Opfer gegeben hat.
«Was die anständigen,
hart arbeitenden Menschen in diesen
Vierteln am meisten fürchten,
ist nicht die Polizei,
sondern ihre Abwesenheit.»
Das Ergebnis war vorhersehbar: Die Kriminalitätsrate schoss in den Städten im ganzen Land in die Höhe. Die Zahl der Tötungsdelikte stieg im Jahr 2020 um fast 30 Prozent – der grösste Anstieg innerhalb eines Jahres in der Geschichte der USA. Schwarze zahlten wie üblich den höchsten Preis, mit 2000 zusätzlichen schwarzen Mordopfern, darunter mehr als vier Dutzend schwarze Kinder, im Vergleich zu 2019. BLM-Aktivisten protestierten gegen keinen dieser Morde, weil diese nicht in ihr Narrativ passten.
Die Mainstreammedien und demokratische Politiker machen die Covidpandemie für diese Welle von Gewaltverbrechen verantwortlich, wenn sie sie überhaupt zur Kenntnis nehmen. Wenn die Pandemie den Anstieg der Gewaltverbrechen erklären würde, dann hätte dieser Anstieg allerdings schon früher beginnen müssen. Er begann jedoch erst nach den Krawallen im Juni 2020. Ausserdem hat kein anderes westliches Land einen vergleichbaren Anstieg von Schiessereien und Tötungsdelikten erlebt, obwohl viele Länder ähnliche oder strengere Lockdowns hatten. Die Bewegung, die vorgab, das Leben von Schwarzen schützen zu wollen, hat zu mehr schwarzen Todesfällen geführt.
Phantomrassismus
Die Anwendung tödlicher Gewalt durch die Polizei in den USA (die Polizei tötet etwa 1000 Zivilisten pro Jahr) ist eine Folge der im Vergleich zu anderen westlichen Ländern sehr hohen Gewaltrate. 15- bis 24jährige Amerikaner begehen fast 43mal mehr Tötungsdelikte mit Waffen wie ihre Altersgenossen in ähnlich wohlhabenden Ländern. Die Gewaltanwendung eines Polizeibeamten hängt davon ab, wie oft er auf bewaffnete, gewalttätige und sich wehrende Verdächtige trifft; solche Begegnungen kommen in den USA viel häufiger vor, und innerhalb des Landes treten sie viel häufiger in Minderheitenvierteln auf. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Polizeibeamter von einem schwarzen Verdächtigen getötet wird, ist etwa 400mal höher als die Wahrscheinlichkeit, dass ein unbewaffneter Schwarzer von einem Polizisten getötet wird.
«Die Zahl der Tötungsdelikte
stieg 2020 um fast 30 Prozent –
der grösste Anstieg innerhalb
eines Jahres in der Geschichte der USA.»
Doch Politiker und Kommentatoren leben selten in den Vierteln, die am stärksten von Kriminalität betroffen sind und in denen die Polizei am meisten gebraucht wird. In den vergangenen fünf Jahrzehnten haben sich Amerikaner geradezu obsessiv mit dem Phantom des Polizeirassismus beschäftigt, um nicht über ein grundlegenderes Problem sprechen zu müssen: die sehr hohe Kriminalitätsrate unter Schwarzen. Alle zwei Stunden wird in Chicago ein Mensch mit einer Schusswaffe angegriffen; alle 14 Stunden wird ein Mensch getötet (und Chicago ist bei weitem nicht die gewalttätigste amerikanische Stadt). Sowohl die Täter als auch die Opfer sind mehrheitlich schwarz. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein schwarzer Chicagoer auf einen Menschen schiesst oder ein Tötungsdelikt begeht, ist 80mal höher als bei einem weissen Chicagoer. Diese Ungleichheit bei der Kriminalität, nicht der systemische Rassismus, ist der Grund dafür, dass Schwarze überproportional häufig inhaftiert sind (sie machen etwa ein Drittel der Gefangenen des Landes aus, obwohl sie nur 13 Prozent der Bevölkerung ausmachen).
Die Ursachen bekämpfen
Das Leben in Amerikas Städten wird sich erst dann verbessern, wenn die Ursachen für die hohen Kriminalitätsraten in Minderheitenvierteln beseitigt sind: die Zerrüttung der Familien und das geringe Sozialkapital. Mehr als 70 Prozent der schwarzen Kinder werden von alleinstehenden Müttern in instabilen Familien geboren, die durch das gekennzeichnet sind, was Soziologen als «multi-partner fertility» bezeichnen. Infolgedessen werden junge Männer nicht von ihren Vätern sozialisiert und haben Mühe, bürgerliche Charaktereigenschaften wie Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin zu entwickeln – Eigenschaften, die notwendig sind, um ein zuverlässiger Mitarbeiter und ein verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden. Stattdessen zieht es diese vaterlosen Männer schon in jungen Jahren zu einem Leben von Bandenkriminalität und Raubüberfällen.
Progressive mögen das Ideal der stabilen Zwei-Elternteile-Familie als eine Funktion des «Patriarchats» ablehnen. Aber wenn wir unsere Augen vor den kulturellen Problemen der Innenstädte verschliessen und die Polizei dämonisieren, wird das nur noch mehr schwarze Leben kosten.
Die Datenbank definiert «unbewaffnet» sehr grosszügig und zählt
beispielsweise auch Leute dazu, die nach der Waffe eines Polizisten
greifen. ↩