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Weg vom Willkürregime!
Olivier Kessler, zvg.

Weg vom Willkürregime!

Die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden den Bürgern als alternativlos, der ­Impfpass als Instrument der Rückkehr zur Freiheit verkauft. Tatsächlich aber stellen sie den liberalen Rechtsstaat in Frage.

 

Der Staat wird nicht erst seit der Coronakrise von vielen als eine quasireligiöse Instanz, ja eine Art Gottersatz wahrgenommen. Trotz einer Aneinanderreihung gravierender Staatsversagen scheint sich in den letzten Monaten der Glauben noch weiter ausgebreitet zu haben, die Staatsgewalt könne den Bürgern nicht nur barmherzig und mit unendlichen Mitteln ausgestattet unter die Arme greifen, sondern diese sogar davor bewahren, krank zu werden und zu sterben.

Aus Angst vor einem Virus, von dem sich eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung problemlos wieder erholt, befürworteten viele, dass Menschen sozial auseinandergetrieben, Schulen, Geschäfte und andere öffentliche Einrichtungen geschlossen und Menschenrechte wie die Bewegungs-, Versammlungs- und Wirtschaftsfreiheit über Bord geworfen wurden. Manchen gingen diese restriktiven Massnahmen sogar noch zu wenig weit – man denke hier nur an Bewegungen wie «Zero Covid».

Wie auch in anderen Politikbereichen wurden Folge- und ­Nebeneffekte des politischen Handelns rund um die Covid-19-­Bekämpfung kaum in Betracht gezogen: etwa die Gesundheitsschäden aufgrund der angeordneten Verschiebung von Operationen, der dramatische Anstieg häuslicher Gewalt1, die durch das «Social Distancing» verursachten psychischen Schäden, die drastische Zunahme von Depressionen, die wirtschaftlichen Schäden sowie der explosionsartige Anstieg der Verschuldung.

«So stehen wir nun vor ­einem riesigen Scherbenhaufen,

weil die Kolla­teralschäden der ver­hängten Massnahmen um ein

Vielfaches grösser sind als der

Schaden, den das Virus hätte ­anrichten können.»

Eine rationale Abwägung möglicher Vor- und Nachteile der Massnahmen fand schlichtweg nicht statt: Alle starrten gebannt auf die wenig aussagekräftigen Zahlen der Neuinfektionen, die vom Bundesamt für Gesundheit in alarmistischem Ton verkündet und von den Medien erschreckend unkritisch verbreitet wurden. Der Blick für das grosse Ganze ging dabei vollkommen verloren.

Grosse Kollateralschäden der verhängten Massnahmen

Eine Studie von Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg im Breisgau mit Bezug auf den Lockdown in Deutschland im Frühjahr 2020 kommt jedenfalls zu bedenklichen Schlüssen: Wirtschaftswachstum und Lebenserwartung sind gemäss Raffelhü­schen sehr eng miteinander verbunden, weil durch Wachstum ein technischer Fortschritt in der Medizin erzielt werden kann. Der Autor zeigt auf, dass selbst dann, wenn man die Zahl der durch die Coronamassnahmen geretteten Lebensjahre sehr grosszügig ansetzt – also zum Beispiel die Vorerkrankungen der Verstorbenen nicht berücksichtigt, sondern annimmt, dass sie eine durchschnittliche Lebenserwartung hatten –, die Zahl der durch den Lockdown in der Zukunft verlorenen Lebensjahre die Zahl der durch den Lockdown maximal gewonnenen Lebensjahre immer noch um ein Vielfaches übersteigt.2 In Grossbritannien kamen andere Autoren zu ähnlichen Schlüssen.3 So stehen wir nun vor ­einem riesigen Scherbenhaufen, weil die Kollateralschäden der verhängten Massnahmen um ein Vielfaches grösser sind als der Schaden, den das Virus hätte anrichten können.

Die Kollateralschäden betreffen auch das Meinungsklima und den relativ freiheitlichen institutionellen Rahmen in der Schweiz: Nach über einem Jahr der willkürlichen Aussetzung von Grundrechten scheinen sich viele an die «neue Normalität» gewöhnt zu haben. Die noch vorhandenen liberalen Überzeugungen, wonach wir alle frei und gleich an Rechten sein sollten, wurden von vielen aufgegeben. Lehnten etwa im November 2020 noch 59 Prozent der Schweizer eine Sonderbehandlung für Personen mit Nachweis eines Covid-Free-Passes ab, befürwortete eine Mehrheit im April 2021 nun solche Sonderprivilegien.4

Auch wenn er uns als Weg zurück in die Freiheit verkauft wird, ist die Einführung eines Impfpasses, an den die Gewährleistung von Grundrechten wie die Versammlungs-, Wirtschafts- oder Bewegungsfreiheit geknüpft wird, das Ende der freiheit­lichen Ordnung und des liberalen Rechtsstaats. Denn die Gewährleistung der Grundrechte hängt damit von einer Genehmigung ab, die eine Elite von Experten erteilt oder verweigert. Damit schaffen wir ein Willkürregime, in dem eben nicht mehr die Grundrechte zuoberst stehen, sondern politisch vorgegebene Ziele, denen sich alle zu beugen haben.

Diese Politik führt zu einer Enteignung des persönlichen Risikomanagements, das nun plötzlich öffentlich verwaltet werden soll. Doch es darf niemand kategorisch vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden, weil er hinsichtlich seiner Gesundheitsprävention eine andere Strategie verfolgen möchte, als das von den Behörden gefordert wird. Es ist Sache der individuellen Risikoabwägung, ob man das Risiko einer neuartigen Impfung mit unklaren Langfristfolgen als höher erachtet als eine Erkrankung am Virus. Alle, die sich vor dem Virus fürchten, können sich impfen lassen und/oder eigenverantwortlich ein Social Distancing praktizieren, ohne dies allen anderen aufzuzwingen.

Kein Impfzwang durch die Hintertüre

In einer liberalen Ordnung geht es darum, den Menschen als Zweck per se anzusehen – und nicht als Mittel zum Zweck. Jeder einzelne darf selbst darüber entscheiden, welches Leben er führen und mit wem er sich treffen möchte. Ein liberaler Staat strebt mit seinem Handeln keine konkreten Ergebnisse an. Dies unterscheidet ihn von einem Willkürstaat, in dem sich das Individuum einem von der Obrigkeit oder einer demokratischen Mehrheit aufgezwungenen Gruppenziel unterzuordnen hat. Die Rolle des Staates beschränkt sich darauf, die Freiheit jedes einzelnen zu ­garantieren, wobei unter «Freiheit» im Kern die Abwesenheit von menschlichem Zwang verstanden wird – dass man andere also nicht mit Gewalt oder Drohung dazu bewegen darf, gegen ihren eigenen Willen zu handeln.

Natürliche Zwänge fallen nicht in diese Kategorie. «Freiheit» kann also nicht bedeuten, sämtliche Bürger um jeden Preis durch staatliche Interventionen vor natürlichen Zwängen zu schützen, wie beispielsweise Naturkatastrophen – zu welchen Erdbeben, Lawinen oder eben auch Pandemien zählen. Wenn Freiheit in diesem weiten Sinn ausgelegt wird, pervertiert sich ihr Kerngehalt und die Freiheit verkommt zu einer leeren Worthülse.

Was gilt es also zu tun? Es gilt den liberalen Rechtsstaat rasch zu rehabilitieren. Als Rechtsstaat, der sich nicht in die individuellen Entscheidungen der Bürger und Betriebe einmischen darf. Jene, die sich impfen lassen wollen, sollen das tun. Jene, die das nicht wollen, sollen das nicht tun müssen. Dass die Politik durch die Erteilung von gesetzlichen Sonderprivilegien und die Etablierung einer Zweiklassengesellschaft einen Impfzwang durch die Hintertür einführt, ist ein No-Go.

Jene, die ihre Betriebe öffnen wollen, sollen das dürfen. Jene, die nur mit Schutzkonzepten öffnen wollen, sollen dies ebenfalls nach ihrem Ermessen handhaben. Die entsprechenden Einlass­bedingungen werden ja dann gegenüber den potentiellen Kunden kommuniziert, weshalb auch die Konsumenten entsprechend ­ihren individuellen Präferenzen und ihrem Risikomanagement jene Orte besuchen könnten, an denen sie sich sicher genug fühlen. Mit dieser Überführung von der staatlichen Kompetenz hin zur zivilgesellschaftlichen und marktwirtschaftlichen Kompetenz könnten die verschiedenen Bedürfnisse in der Gesellschaft wieder friedlich miteinander in Einklang gebracht werden, anstatt die ­Bevölkerung durch politische Befehlsausgabe zu spalten und unliebsame Lebensweisen zu verbieten.

Die Politik hat mehr als genug Schaden angerichtet und es gibt keinerlei Anzeichen von Reue oder Lernbereitschaft. Es reicht ­daher nicht, einfach nur zu hoffen, dass die alte Normalität einkehrt. Zu glauben, die Politik gebe uns dann von sich aus schon wieder unsere Grundrechte dauerhaft zurück, wäre reichlich naiv. Zu gross dürften die Verlockung der Macht und der Druck entsprechender Interessengruppen sein. Es braucht daher nun ein aktives Engagement der Bürger und ein klares Aufzeigen von Grenzen der staatlichen Zuständigkeit, wenn wir unsere Freiheiten zurückerobern wollen. Es braucht jetzt Mechanismen, damit sich dieses Ungemach nicht wiederholen kann, wie etwa eine Politiker­haftung für jene, die mit ihren Entscheidungen solche Schäden verursachen können, ein Verbot freiheitsfeindlicher Lockdowns sowie allgemeine Entstaatlichungsreformen zur Vermeidung von künftigem Staatsversagen.

  1. http://www.20min.ch/story/gewalt-gegen-kinder-hat-nach-lockdown-zugenommen-­450778887119

  2. Bernd Raffelhüschen: Verhältnismässigkeit in der Pandemie: Geht das? In: WiSt – Wirtschaftswissenschaftliches Studium, Juli 2020.

  3. David K. Miles, Michael Stedman & Adrian H. Heald: «Stay at Home, Protect the National Health Service, Safe Lives»: a Cost Benefit Analysis of the Lockdown in the United Kingdom. In: International Journal of Clinical Practice, August 2020.

  4. http://www.comparis.ch/gesundheit/corona/analyse/corona-privilegien

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