Wechselfreiheit
Situationen der Ernüchterung sind Testfälle für die Freiheit. Was tun Menschen, wenn sie unzufrieden sind mit dem Staat, der Sozialkasse, ihrer Firma oder Ehe? Eine Weile warten sie ab und hoffen auf bessere Zeiten. Dann regt sich Protest. Verärgert gehen sie auf die Strasse, beschweren sich, streiten sich herum. Fruchtet dies nichts, ziehen sie sich […]
Situationen der Ernüchterung sind Testfälle für die Freiheit. Was tun Menschen, wenn sie unzufrieden sind mit dem Staat, der Sozialkasse, ihrer Firma oder Ehe? Eine Weile warten sie ab und hoffen auf bessere Zeiten. Dann regt sich Protest. Verärgert gehen sie auf die Strasse, beschweren sich, streiten sich herum. Fruchtet dies nichts, ziehen sie sich entweder in die Resignation zurück oder nutzen ihre Freiheiten. Sie bringen sich und ihr Geld ins Ausland, wechseln Kasse, Arbeit oder Partner. Am Ende langer Leidens- und Bedenkzeit ist Treulosigkeit oft der einzige Ausweg in die Freiheit.
Wechsel halten die Menschen in Bewegung. In einer freien Gesellschaft kann kein soziales System mit der Konstanz seiner Mitglieder rechnen. Kunden wechseln die Marke, Firmen den Standort und Angestellte die Firma. Und manchmal verlassen die Enttäuschten die offizielle Gesellschaft ganz. Sie pfeifen auf den Arbeitsmarkt und verschwinden in der Schattenwirtschaft. Sie treten aus der Kirche aus und lassen sich von obskuren Sekten trösten. Sie verabschieden sich von der Familie und frequentieren den Beziehungsmarkt.
Wer Geld und Glück anderswo sucht, zwingt Institutionen zum Wettbewerb. Freizügigkeit schürt Konkurrenz. Abspenstige Kunden mindern die Marktmacht des Anbieters, Austritte den Monopolanspruch von Parteien, Verbänden, Vereinen. Nicht Tradition, Loyalität oder Gesinnung verbinden den Wechselwilligen mit der Organisation, sondern der Kalkül des Tauschs: Beitrag gegen Leistung, Steuern gegen Staatsdienst, Arbeit gegen Lohn. Wechsel sind Reaktionen auf Leistungsabfall, auf Ungerechtigkeit und Enttäuschung in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Unter den Verlassenen indes grassieren Ärger, Wut und Ressentiments. Abwanderer werden als Verräter, Deserteure, unpatriotische Gesellen beschimpft. Auf Emigranten ist man in der Provinz selten gut zu sprechen. So greift man zu Etikettierung und Freiheitsentzug. Man verunglimpft
Abtrünnige und Überläufer, schmäht sie der Treulosigkeit und Fahnenflucht, ruft zu Einkehr, Pflicht und Verantwortung auf. Immer hält man die Verrechnung der Leistungen für ein Sakrileg an der heiligen Institution. Versagen Appelle, greift man zu härteren Mitteln. Um die Bürger im Lande zu halten, verwandeln sich Staaten in Gefängnisse und errichten Mauern mit Stacheldraht und Minenfallen. Demokratien beschränken die Abwanderung, indem sie Devisen bewirtschaften, den Kapitalexport limitieren und Auswanderer zum Abbruch aller Heimatbindungen zwingen. Wer dem Steuerstaat den Rücken kehrt, darf nirgendwo im Lande noch ein Bettgestell stehen haben. Wer unbedingt gehen will, der soll gefälligst andernorts bei null anfangen.
Auf privaten Märkten sind solche Zwangsmittel kaum durchzusetzen. Umso einfallsreicher ist die Erfindung von Anreizen, welche die Wechselkosten in die Höhe treiben. Vermieter bevorzugen Verträge mit langer Mietzeit, Telefongesellschaften verkaufen billige Handys mit langer Tarifzeit, Banken vergeben Kredite mit langer Tilgungszeit und Eheleute versprechen einander Treue auf Lebenszeit. Oft sind Wechsel nur zu bestimmten Terminen gestattet oder kosten hohe Straf- und Scheidungsgebühren. Abonnements, Garantien, Rabattpunkte, Prämien – oft zahlt man für die Vergünstigung mit der Wahlfreiheit. Nicht ohne Kreativität installieren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Dauerbindungen, um sich vor dem Wankelmut freier Subjekte zu schützen.
Privatpersonen können potentielle Ausreisser nur mit sozialen Strafen in Ketten halten: mit Hausarrest, Liebesentzug oder übler Nachrede. Ein besonders wirksames Mittel gegen Abwanderung ist Abhängigkeit. Eltern halten ihre flüggen Kinder mit Schuldappellen, Schenkungen und Erbschaften gefügig; Eheleute beugen dem frühzeitigen Abschied mit gemeinsamen Schulden, Kinderliebe und endlosen Gesprächen vor. Der Staat sichert Treue durch äusseren Zwang, in intimen Beziehungen nutzt man den moralischen Zwang der Dankbarkeit. So dauert es manchmal Jahrzehnte, bis die Menschen sich ihrer Freiheit erinnern, indem sie aufstehen und gehen.