Webber mit Cook auf grosser Fahrt
Lukas Hartmann: «Bis ans Ende der Meere. Die Reise des Malers John Webber mit Captain Cook». Zürich: Diogenes, 2009.
Immer wieder verbindet der Romancier Lukas Hartmann sein kleines Bern mit der grossen Welt, indem er Reisende aus seiner Heimatstadt auf Expeditionen in entlegene Gegenden nacherzählend begleitet, wie in «Die Tochter des Jägers» (2002), oder Wendepunkte der Weltgeschichte in Geschehnissen spiegelt, die sich in seinem Kanton zugetragen haben, wie in «Die letzte Nacht der alten Zeit» (2007). Auch in seinem neuen Roman «Bis ans Ende der Meere» ist Hartmann dem Konzept treugeblieben, den Mikrokosmos Berns mit dem Makrokosmos ins Benehmen zu setzen, diesmal vermittels John Webbers, eines jungen Engländers, der mit sechs Jahren aus materieller Not zur Schweizer Verwandtschaft nach Bern geschickt wird, nach seiner Lehrzeit als Maler nach London zurückkehrt und James Cook auf seiner dritten Weltreise von 1776 bis 1780 als offizieller Maler begleitet. «Offiziell» freilich bedeutet, dass er nicht mit kritischen Augen sehen und mit Herz und Hand gestalten darf, was ihn bewegt, sondern seine Arbeitgeber mit ihnen genehmen Bildern zu beliefern hat, also eine Art embedded journalism betreiben muss.
Früh schon wird Webber nämlich von Kapitän Cook darüber unterrichtet, was er zeichnen soll (heroische Charaktere bei lauteren Verrichtungen), was er nicht zeichnen darf (das Elend in den Häfen beispielsweise) und vor allem, aus welchem Blickwinkel er die Dinge einzufangen hat (aus einer offiziellen Perspektive nämlich, da er aus der Staatsschatulle alimentiert wird, keinesfalls aber mit den Augen der Wilden). Empathie also ist unerwünscht, und stets haben die Briten in reinem Lichte zu erscheinen. «Über dem, was Sie und andere sehen, steht die Staatsräson, sie ist die notwendige Klammer, welche die individuellen Wahrheiten zusammenhält», wird Webber eines Tages von Cook belehrt. Dazu passt es, dass Hartmann den sensiblen Maler zu dem Schluss kommen lässt, er zeichne «sehend und blind zugleich: sehend, weil meinen Augen kaum ein Detail entgeht, blind, weil der Zusammenhang des Ganzen mir fremd bleibt.»
Dass der Roman diese Dialektik der Wahrnehmung unerbittlich durchexerziert, macht seine Qualität aus: Hartmann lässt Webber mit Cook auf grosse Fahrt gehen und weit mehr als nur die blütenkranztrunkene Südsee des Klischees sehen. Er lässt ihn das rauhe Südpolarmeer streifen, vor allem aber schickt er ihn ausführlich in die Arktis, wo Cook die Nordwestpassage hätte finden sollen, im Beringmeer aber umkehren musste. Was Hartmann hoch im Norden an Begegnungen mit Fremden evoziert, lässt an das halluzinatorische Ende von Jim Jarmushs «Dead Man» denken, wo der tödlich verwundete William Blake von Indianern im hohen Norden der amerikanischen Westküste im Kanu auf seine letzte Fahrt hinaus auf den bleigrauen Pazifik geschickt wird. Wie dort das hohe Lied vom Sterben des weissen Mannes vor einer Wand unbegriffener Bilder inszeniert wird, so begegnen wir auch im frühverstorbenen John Webber einem Menschen, der ursprünglich als souveräner Schilderer von Wirklichkeit hat Karriere machen wollen, um dann auf seiner strapaziösen Reise um die Welt zu erkennen, dass sich die Wirklichkeit nicht abbilden lässt und die erwünschten Bilder allesamt beschönigte Zurichtungen der Welt sind, die politische Zwecke erfüllen, Ansprüchen ästhetischer Wahrhaftigkeit jedoch nicht genügen können. Wer diesen Befund zu einer Pathologie der Künste erweitert, steht vor einem Scherbenhaufen.
Lukas Hartmann hat mit diesem Roman, der einmal mehr von Sprachkraft und intellektueller Brillanz ist, die Grenzen der Kunst ausgelotet, und sein Befund ist denkbar bitter: statt idealistischer Aufschwünge bleibt wenig mehr als das Eingeständnis eines grossen Unvermögens zurück – dies freilich (wie schon bei Hofmannsthal im Brief des Lord Chandos) auf höchstem Sprachniveau.
vorgestellt von Andreas Heckmann, Münche