Waterloo hat keine Zeit
Wie sähe unser Leben aus, wenn wir von kleinen elektronischen Geräten namens «Mütter» gesagt bekämen, was wir zu jedem möglichen Zeitpunkt tun sollten?
Physik war das liebste Hobby der Menschen von Waterloo; besonders gern stürzten sie sich auf die echten Physikerinnen und Physiker, die in den Cafés zusammensassen und sich unterhielten. Die Hobbyphysikerinnen traten zu den Fachleuten an den Tisch und stellten ihnen Fragen, einfache, offensichtliche Fragen. Oder sie stellten ihnen Fragen, die selbst von Physikern nicht beantwortet werden konnten, oder Fragen, die gar nichts mit Physik zu tun hatten, sondern eher mit Biologie oder herkömmlicher Informatik. Leute, die fast nichts von dem verstehen, wovon sie reden, lehnen sich gern weiter aus dem Fenster als die Experten, deswegen reden sie sehr viel, und die, die sich wirklich auskennen, halten den Mund und bekommen einen roten Kopf.
Wenn eine echte Physikerin dann anfing, etwas zu korrigieren oder eine fundierte Erklärung zu liefern, lächelte und nickte die Amateurin und verkündete lautstark, genau darüber habe sie vor kurzem etwas in einer Zeitschrift oder einem Buch gelesen. Wenn sie sich dann in langatmigen Erklärungen erging, hörte die Physikerin schmallippig zu oder beendete das Gespräch abrupt.
Dann kehrte die Physikerin zurück ins Perimeter Institute, das oben auf einem grünen Hügel lag, und seufzte erleichtert, dass sie wieder zu Hause war und Formeln an die Tafel schreiben konnte.
***
An einem Märznachmittag machte das Gerücht die Runde, die Mütter mehrerer Jungs hätten vorhergesagt, ein Jugendlicher würde die Einkaufsmall auf der linken Stadtseite in die Luft sprengen. Alle Teenager stiegen auf ihre Scooter und flitzten zum Parkplatz der Mall.
Sunni war schon auf dem Weg aus der Wohnung, als ihre Mutter, die wie üblich auf dem Sofa lag, ihr hinterherrief, wo sie denn hinwolle. Sunni drehte sich zu ihr um, erzählte ihr von dem Gerücht und gab zu, wie begierig sie darauf sei, die Mall in die Luft fliegen zu sehen – ihre Freundinnen und sie hätten zu viel angestaute Energie, es müsse endlich mal etwas passieren.
Sunnis Mutter fand es ein wenig traurig, dass Sunni sich die Explosion der Einkaufsmall anschauen wollte, machte aber keine Einwände; wenn das Sunnis Schicksal war, wie konnte sie sich dann einmischen?
Vor der Mall unterhielten sich die Teenager aufgeregt, sammelten sich zu Grüppchen, verteilten sich wieder und konnten es kaum erwarten, dass die Show losging. Sie fragten herum, wessen Mütter die Explosion vorhergesagt hätten, aber niemand schien es genau zu wissen. Als die Mall nach anderthalb Stunden immer noch stand, konsultierten sie ihre Mütter, um herauszufinden, ob sie vielleicht selbst dazu ausersehen waren, die Mall in die Luft zu jagen. Aber keiner schien dazu bestimmt zu sein.
Daraufhin wurden die Teenager erst nervös, dann ärgerlich. Es war nicht das erste Mal, dass so etwas passierte. In der Vorwoche hatte das Mütter eines Jungen eine Schlägerei vorhergesagt, aber niemand hatte die Faust erhoben. Vor einem Monat hätte angeblich eine Orgie irgendwo am Hintereingang der anderen, hübschen Mall stattfinden sollen, aber sie hatten nur eine Weile herumgestanden, dann bei ihren Müttern eingecheckt und erfahren, die Wahrscheinlichkeit, dass sie an einer Orgie teilnehmen würden, sei sehr gering.
Genau wie von der Wetter-App vorhergesagt fing es an zu regnen. Deprimiert zerstreuten sich die Jugendlichen. Nur Sunni und ein paar ihrer Freundinnen und Freunde standen noch da, weil sie ihre Diskussion über Filme beenden wollten. Jeder hatte eine eigene Meinung über Kunst, aber sie konnten sich darauf einigen, dass dramatische Filme keine zutreffende Repräsentation des echten Lebens darstellten: Die besten Storys folgten immer dem Pfad der grössten Wahrscheinlichkeit. Wenn man an die besten Geschichten der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte dachte, dann rührte ihre Grossartigkeit und Schrecklichkeit doch daher, dass die vorhersagbarsten und glaubhaftesten Dinge auch immer eintraten.
«Wie bei Ödipus», sagte Sunni. In diesem Augenblick warf einer von Sunnis Freunden ein Streichholz in die Luft, mit dem er sich gerade eine Zigarette angezündet hatte. Es landete direkt auf Sunnis Mütter, wo sich eine kleine Flamme entzündete.
«Verdammte Scheisse!», schrie Sunni und schleuderte ihr Mütter in hohem Bogen von sich. Rauchend und verbogen landete es auf dem Asphalt.
«O Gott, Sunni – ist dein Mütter tot?», keuchte Danny.
«Nein! Nein! Nichts passiert, zum Glück!», rief Sunni, als sie es aufhob. Sie warf das glühend heisse Gerät von einer Hand in die andere. Während es allmählich abkühlte, sah sie, dass der Bildschirm zu einem zugekniffenen Auge zusammengeschmolzen war. Die Tasten waren mit der Verkabelung verschmolzen, und das Gehäuse war verkohlt wie weicher Teer.
«Geht noch!», verkündete Sunni. Dann stieg sie, ihr Mütter hinter die Windschutzscheibe geklemmt, schnell auf den Scooter, weil sie das Gefühl hatte, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Sie warf immer wieder einen Blick auf das Mütter, aber sie sah immer nur das verkohlte Wrack, das es beim letzten Blick gewesen war.
Auf dem Parkplatz hinter ihrem Wohnhaus parkte sie den Scooter, stieg ab, krümmte sich, keuchte und rannte ein Stück weg, um sich zu übergeben. Als sie zu ihrem Scooter zurückkehrte und das Mütter da sah, überkam sie erneut eine Welle von Schwindel. Noch war nicht ganz klar, ob es sich um das schlimmste, tragischste Ereignis handelte, das ihr je zugestossen war, oder ob es der aufregendste Augenblick ihres Lebens war. Sie wusste nur, dass sie noch nie von so einem Schwindelgefühl überwältigt worden war, und als sie sich fragte, was sie jetzt unternehmen sollte, und dann automatisch hinunter auf ihr Mütter sah, wo die Antwort stehen müsste, wurde ihr schon wieder übel.
Zwanzig Jahre zuvor waren die Einwohnerinnen und Einwohner von Waterloo begeistert gewesen von dem Buch eines Physikers, der zu einem Arbeitsaufenthalt ins Perimeter Institute eingeladen worden war. Das Buch hiess «The End of Time», und sein Autor hatte auf überzeugende und elegante Art dargelegt, dass es die Zeit nicht gebe und das Universum statisch sei. Es gebe eine nicht ganz unendliche Menge möglicher Zukünfte, schrieb er, wie auf einem Dachboden gelagerte Gemälde, alle echt, aber unzugänglich, und die Bestimmung eines jeden Menschen sei nicht mehr und nicht weniger als die wahrscheinlichste dieser möglichen Zukünfte.
Die begeisterten Anhänger dieser Meinung führten hitzige Diskussionen darüber, wie man diese Theorie am besten im eigenen Leben umsetzte. Genau wie viele andere Menschen wollten sie keine Zeit verschwenden. Sie wollten ihre Bestimmung so schnell und effizient wie möglich finden – nicht die letztendliche Bestimmung, nur die vorletztendliche. Und deswegen schien es sinnvoll, sich möglichst in Übereinstimmung mit dem zu verhalten, was am wahrscheinlichsten war.
Die Manager am Hauptsitz der Firma BlackBerry in Waterloo beschlossen, aus diesem Wunsch Kapital zu schlagen, und begannen mit der Herstellung von Geräten, die sie «Die Mütter aller BlackBerrys» nannten. Es handelte sich nach wie vor um ein Smartphone, mit dem man Nachrichten und Mails verschicken konnte, aber es hatte ein ganz besonderes, neues Feature: Basierend auf dem fortlaufenden Input war es dazu programmiert, für jeden Nutzer individuell festzustellen, was er oder sie als nächstes tun sollte.
«Es handelt sich um ein Gerät, das die wahrscheinlichste nächste Handlung einer Person bestimmt, basierend auf bisherigen Verhaltensmustern. Wenn man sein Leben als Input eingibt, dann erhält man als Resultat sein Leben», erklärte ein Manager den anderen, als sie um den Konferenztisch versammelt waren.
«Genial!», erwiderte einer und fasste nach einem Plundergebäck. Und dann fassten alle nach einem Plundergebäck und nickten einander lächelnd zu.
Die Mütter – wie man sie bald nannte – waren ein Hit. Ihr Erfolg übertraf alles, was es in der Kultur zu dem Zeitpunkt gab, ähnlich wie bei allen grossen Trends der Menschheitsgeschichte. Die Menschen von Waterloo konsultierten ihre Mütter auf Schritt und Tritt, und ein Leben ohne sie wurde sehr schnell undenkbar, wie es einst undenkbar gewesen war, seine E-Mails nicht ständig checken zu können. Die Leute fragten sich, wie man früher ohne Mütter überhaupt hatte leben können. Sogar für ihre Babys kauften sie Mütter.
Ja, das Leben wurde insgesamt vorhersehbarer, aber auch behaglicher, und sehr bald fiel den Bürgerinnen und Bürgern von Waterloo nicht einmal mehr auf, dass sie sich im Kreis drehten: Dass immer und immer wieder dasselbe passierte.
Zwar waren die Physiker in gewisser Weise für die Überhandnahme der Mütter verantwortlich, aber sie standen ihnen grösstenteils skeptisch gegenüber. Es geschah gar nicht so selten, dass man beim Schlangestehen an der Supermarktkasse eine schlechtgelaunte Physikerin hörte, die einen der Hobbyphysiker beim Blick auf sein Mütter ärgerlich anraunzte: «Und berechnen diese Mütter die Wahrscheinlichkeit jetzt klassisch oder quantenmechanisch?», eine Frage, mit der man die Amateure zum Stottern brachte. Aber nach Konsultierung ihrer Mütter fassten sie sich schnell wieder: Auf die Frage, ob ihnen die Fortsetzung dieses Gesprächs nützen würde, antworteten die Mütter, die Wahrscheinlichkeit sei sehr gering.
Was wird Sunni ohne ihr Mütter machen? Manchmal stelle ich mir eine ähnliche Frage. Was würde ich tun, wenn ich nicht wüsste, was auf mich zukommt? Wenn das Wissen aus meiner Vergangenheit einfach weg wäre, hätte ich keine Ahnung, wie ich mich in der Vergangenheit jemand anderem gegenüber verhalten habe, und würde nicht wissen, wie ich mich jetzt verhalten soll. Ich würde jedes Mal alles anders machen, weil ich nicht wüsste, wie ich mich normalerweise in so einer Situation verhalte. Vielleicht hätte ich vergessen, wie schrecklich ich es fand, auf einem Fussballplatz herumzustehen, und deswegen keinen Fussball mehr spiele. Womöglich würde ich zu den Fussballern im Park sagen: «Braucht ihr noch jemanden zum Kicken?» Dabei wollte ich doch eigentlich nur auf dem Rasen liegen.
Wenn man einen Strich auf ein Stück Papier zeichnet, ist das die King Street. Dann zeichnet man rechtwinklig dazu einen kurzen Strich, der die King Street fast in der Mitte kreuzt. Das ist die Princess Street. An dieser Ecke treiben sich die Verlierer, Aussenseiter und Waisenkinder herum. An dieser Ecke torkelt der eine betrunken über die Strasse, und ein anderer schlurft mit zerfetzten Jeans und Schielauge über die Kreuzung.
An die beiden Enden der King Street zeichnet man ein Kästchen. Das sind die beiden Malls. Die Mall am rechten Stadtrand steht in der wohlhabenderen Gegend rund um das Perimeter Institute, die Uni und das Institute for Quantum Computing – all die Forschungseinrichtungen, die das repräsentieren, was an Waterloo herausragend ist. Die andere Mall, die, vor der sich die Teenager versammelt hatten, steht in der Nähe des Altstadt-Krankenhauses, des Rathauses und anderer heruntergekommener Institutionen, die sich mit Geisteswissenschaften und dem menschlichen Körper befassen.
Und jetzt seht euch Sunni an, wie sie die lange King Street hinunterbrettert und nach wenigen Minuten an der Ecke Princess Street angekommen ist.
Sunni war genau wie ihre Freundinnen und Freunde. Und ihre Freundinnen und Freunde waren wie Sunni. Ihre Geräte ähnelten dem Bereich des Gehirns, das Muster erkennt und nichts anderes als Muster. Für diesen Bereich des Gehirns passt alles zusammen. Es gibt keine Zufälle im Leben, nichts Beliebiges. Sollte das Mütter einmal etwas nicht berücksichtigen, oder es geschah etwas, das nicht vorhergesagt worden war, dann korrigierte es das für die Zukunft, lernte aus dem Geschehenen und passte es in ein besseres, umfassenderes Bild des Ganzen ein. Auf diese Weise war jetzt vielleicht noch nicht alles berücksichtigt, aber Sunni und ihre Freundinnen waren davon überzeugt, dass es früher oder später perfekt sein würde. Das Leben würde wie vorhergesehen ablaufen. Man musste nur den vorgezeichneten Pfad beschreiten.
Bisher hatte Sunni die Princess Street immer gemieden, weil da nur die Loser abhingen. Aber da praktisch alle Teenager, deren Mütter kaputtgingen, früher oder später auf der Princess Street landeten, beschloss sie, sofort dorthin zu fahren. Noch hatte sie die Instinkte von jemandem mit einem Mütter, wollte keine Zeit verschwenden und möglichst schnell zur wahrscheinlichsten nächsten Phase ihres Lebens übergehen. Sie stellte den Scooter ab, lief geradewegs zur nächsten Bar und stiess die rote Tür auf.
Zwei Teenager, die sie noch nie gesehen hatte, sassen auf Barhockern, rauchten, tranken und flüsterten bei Sunnis Eintreten hörbar: Die sieht doch aus wie Shelly, oder nicht? Nein, aber sie erinnert mich an unsere Sportlehrerin aus der vierten Klasse. Eigentlich erinnert mich heute der ganze Tag an die vierte Klasse.
Sunni setzte sich auf den Barhocker neben sie und sagte Hallo. Die beiden sahen sie ausdruckslos an. Ohne ein Zeichen ihres Interesses abzuwarten, erklärte Sunni, ihr Mütter sei gerade kaputtgegangen.
Der Junge nickte ernst. Wenn die Mütter erst einmal tot sind, kriegt man sie nie mehr wieder. Die Fabrik war seit sieben Jahren geschlossen, da ausser in Waterloo niemand Mütter wollte, und keine einzige Reparaturwerkstatt der Stadt konnte sie reparieren.
Der Junge erklärte, ihm sei vor vier Jahren genau dasselbe passiert, aber Sunni solle sich keine Sorgen machen; das Leben würde sich nicht so stark verändern, wie sie befürchtete. Als er das gesagt hatte, drehte er sich wieder zu seiner Bekannten um und erzählte die Anekdote zu Ende, die er gerade über seine Kindheit zum Besten gab, und schloss mit den Worten: «Und die Auswirkungen davon spüre ich noch heute.» Dann legten die beiden Geld auf den Tresen und suchten ihre Sachen zusammen, um zu gehen.
«Hey, wartet doch! Wo geht ihr hin?», rief Sunni verängstigt. Der Junge stiess einen tiefen Seufzer aus. «Entspann dich. Dein Charakter ist so statisch wie die Zeit, er ist ein feststehendes Gesetz. Die Menschen ändern sich nicht. Wenn du das im Kopf behältst, passiert schon nichts. Wir müssen jetzt gehen und Tagebuch schreiben.» Und damit gingen sie.
Sunni sass immer noch da und sah hinunter auf ihren Ältesten-Pin, der angefangen hatte, zu blinken und zu piepsen.
Zeit ist das Mass der Veränderung. Eine Veränderung in der Position eines Quantenteilchens kann nicht immer bekannt sein, weil es nicht an einem festgelegten Punkt zu existieren scheint. Auf Ebene des menschlichen Körpers können wir sehen, dass Zeit vergangen ist, weil ich in einem Augenblick hier am Tisch sitze und im nächsten Augenblick am Herd stehe. Aber auf der Quantenebene ist alles wolkig. Das ist der Mechanismus, der die Zeit zum Verschwinden bringt. Den Menschen in Waterloo gefiel diese Theorie, weil sie es tief im Inneren genauso empfanden. In ihrem Leben wurde die Theorie auf vielerlei Weise widergespiegelt. The End of Time verlieh ihrer Intuition einfach eine gewisse Autorität: Ihr Gefühl war wirklich wahr.
***
«Nein», sagte eine der Physikerinnen, im offenen Pavillon des Parks stehend, zu den zwanzig bis dreissig vor ihr bei einem Picknick sitzenden Waterlooern. «Wir sind nicht alle davon überzeugt, dass die Zeit statisch ist.»
Die Picknickenden lächelten zu der Physikerin hoch, assen ihre belegten Brote und warfen die Erdbeeren ins Gras.
Obwohl Sunni sich auf schnellstem Weg zum Rathaus aufmachte, sobald sie die Benachrichtigung erhielt, traf sie als letzte dort ein, was typisch für sie war. Die anderen Ältesten waren schon da und warteten auf den Beginn der Krisensitzung.
In der Stadt war man davon überzeugt, dass die Teenager von Waterloo, deren Mütter seit dem Tag ihrer Geburt mit Input gefüttert worden waren, am besten wussten, was die Zukunft bringen würde. Im Vergleich zu ihren Müttern waren die Mütter ihrer Eltern mit vielen Mängeln behaftet: zwanzig, dreissig Lebensjahre fehlten einfach. Deswegen genossen die Jugendlichen in Waterloo eine Sonderstellung. Ihnen wurde eine Menge Respekt entgegengebracht. Sie trugen den offiziellen Titel «Extraspezielle Älteste», denn zu etwas Besonderem bestimmt zu sein, war der Inbegriff davon, speziell zu sein. Bei besonders feierlichen Anlässen wurden sie öffentlich geehrt, und wenn es etwas Wichtiges gab, wurden sie zur Beratung der Stadtverwaltung herbeigerufen.
Sunni schlich zur Seitentür herein und zu ihrem Stuhl in der vierten Reihe auf dem Podium, wo dreissig Leute nebeneinander Platz fanden. Alle zweihundertachtundfünfzig in der Stadt geborenen Teenager sassen bereits auf ihren Plätzen und wandten Sunni die Köpfe zu, obwohl sie versucht hatte, so unauffällig wie möglich hereinzuschlüpfen. Der Bürgermeister, der vor ihnen auf dem Podium stand, war bereits dabei, die aktuelle Krise zu erklären. Nach zwei Minuten hatte Sunni immer noch keine Ahnung, wovon er redete, deswegen fragte sie den Jungen neben sich leise, was sie verpasst habe.
Er flüsterte schnell zurück: «Heute morgen hat das Perimeter Institute die Meldung aus Afrika erhalten, dass alle Fragen der Physik gelöst worden seien.»
«Was?», wisperte sie zurück. «Ganz sicher? Auch das Problem der Messgrössen und –»
«Ja, genau, alles», zischte er zurück. Dann verdrehte er die Augen. «Frag mich nicht.»
Sunni lehnte sich fassungslos zurück. Der Bürgermeister war mittlerweile schon bei den trivialen Einzelheiten hier auf örtlicher Ebene angelangt und erklärte, wie viel es die Stadt kostete, das Perimeter Institute zu finanzieren, und argumentierte, es sei demütigend für Waterloo, mit dem Projekt «Physik» weiterzumachen, wenn das Forschungsgebiet nun unnütz geworden sei. Er zeigte auf die beiden Physiker, die da waren, um den Beweis zu erläutern, sollte es jemanden interessieren. Er sagte, die beiden repräsentierten die Physiker, die davon überzeugt wären, dass das Perimeter Institute am Leben erhalten werden sollte – nicht weil der Beweis aus Afrika falsch sei, das sei er nicht, sondern aus anderen Gründen, die er, der Bürgermeister, nicht vollständig verstehe, aber falls die Ältesten die Ausführungen der Physiker hören wollten, stünden sie dafür zur Verfügung. Die anderen Physiker waren mit dem afrikanischen Beweis beschäftigt und konnten deshalb nicht an der Zusammenkunft teilnehmen.
«Möchte einer von den Ältesten den afrikanischen Beweis sehen?», fragte der Bürgermeister.
Sunni sah sich verunsichert um. Sonst schien niemand Interesse an der Beweisführung zu haben, aber da es sie interessierte, hob sie die Hand. Der Bürgermeister nickte den Physikern zu, und der Jüngere stand auf, trat ans Whiteboard, zeichnete eine Gleichung und ein kleines Diagramm. Er drehte sich zu den Ältesten um und fing an mit seiner Erklärung. Er war erst ein paar Sätze weit gekommen, als der Bürgermeister ihn mit dem Ausruf unterbrach: «Ha – schaut euch das an! Das sieht doch aus wie ein betender Regenwurm!»
Daraufhin pfefferte der Physiker wutentbrannt den Marker zu Boden und setzte sich wieder neben seinen Kollegen. Die Ereignisse des Tages hatten ihn aus der Bahn geworfen, und er konnte nicht fortfahren. Dass ein Beweis gefunden worden war, war gar nicht das Schlimmste; was ihm im Herzen wehtat, war der unbefriedigende Charakter des Beweises. Es war einfach nicht die schöne, elegante Formel, auf die jeder gehofft hatte.
Sunni hätte den Physiker liebend gern gefragt, was der Beweis über das Existieren oder Nichtexistieren der Zeit zu sagen hatte, aber gerade, als sie die Hand wieder heben wollte, beugte sich der Junge neben ihr herüber und zeigte auf Sunnis Mütter, das sie instinktiv immer noch in der Hand hielt.
«Ist dein Mütter etwa tot?», ächzte er.
Sunni versteckte es schnell unter der Jacke und erwiderte gespielt locker: «Ach, Quatsch, das ist nur eine neue Hülle. Hat ein Freund für mich gemacht. Er ist cool.»
«So eine Hülle würde ich aber nicht benutzen, wie die aussieht.»
«Ist doch egal.»
«Mach die Hülle lieber ab.»
«Mache ich sicher irgendwann.»
Daraufhin wandte der Bürgermeister sich an die Teenager und fragte: «Soll das Perimeter geschlossen werden oder nicht?» Damit begann die Abstimmung.
Die erste Älteste sprach: «Ja.»
Die zweite Älteste sah von ihrem Mütter auf, das wusste, dass etwas meist geschlossen wird, wenn man erst mal anfängt, über seine Schliessung zu sprechen. «Ja!», sagte sie.
Der dritte Älteste sprach: «Ja.»
Und so ging es immer weiter: Ja ja ja ja ja ja ja ja.
Nun war Sunni an der Reihe. Sie zögerte, warf einen kurzen Blick auf das schwarze Display ihres Mütters, das sie unter der Jacke herausgeholt hatte. Es war ein krummes, zusammengeschmolzenes, verkohltes Etwas. Sie atmete tief ein und sagte sehr leise, aber doch so laut, dass es alle hören konnten: «Ich bin nicht mehr speziell.»
Sie stand schnell auf und stieg vorsichtig vom Podest herunter. Es war ein demütigender Gang, den schon andere vor ihr gegangen waren, und sie hatte voller Mitleid und Angst zugeschaut. Hinter ihr erhob sich eine Wand des Flüsterns: Die Welt, an der Sunni Anteil gehabt hatte, verschloss sich hinter ihrem Rücken.
Sie ging am Bürgermeister und den Physikern vorbei auf die Tür am Ende des Saals zu. Bevor sie hinausschlüpfte, hörte sie, wie der Bürgermeister das Ergebnis der Abstimmung verkündete: einstimmig. Perimeter würde noch in derselben Stunde geschlossen werden.
«Scheiss-Jugendliche», brummte der ältere Physiker.
Sunni trat blinzelnd hinaus an die frische Nachmittagsluft. Sie stand auf der Rathaustreppe, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, und dachte, etwas benommen, nichts, nur Leere. Ihr Blick ruhte auf einem Baum, der nicht weit entfernt auf dem Rasen stand und sanft in der Brise schwankte. Was würde Sunni jetzt antreiben, wo ihr Mütter tot war? Sie spürte, dass ihre Bestimmung mit jedem Tag ein bisschen unklarer werden und das Wahrscheinliche immer weniger über ihr Leben herrschen würde. Sie versuchte sich vorzustellen, von welchem Gesetz die Wahrscheinlichkeit ersetzt werden würde, aber ihr fielen keine anderen Gesetze ein.
Vielleicht könnte sie ja etwas über das Leben von diesem Baum lernen, überlegte sie – vielleicht könnte sie sich von denselben Gesetzen leiten lassen, die auch diesen Baum bewegten. Sie wusste, dass sie im Grunde aus denselben Teilchen bestand wie der Baum; in gewisser Weise musste sie baumähnlich sein. Sie trat auf den Rasen.
In diesem Augenblick erregten vage Geräusche aus der Ferne ihre Aufmerksamkeit. Sie kniff die Augen zusammen. Eine Art Parade schien langsam die King Street hinunterzukommen. Sie starrte einen Augenblick hin, bis sie verstand, was sie da sah: Es war eine kleine Flutwelle niedergeschlagener Physikerinnen und Physiker, die aus den Türen des Perimeter Institute schwappte. Sie kamen immer näher, schleppten sich mit gramgebeugtem Rücken und leerem Blick die King Street entlang, in der Hand Kartons mit Laptops, Papier und Kreide, strömten zu ihren Autos, die sie in die Universitätsstädte zurückbringen würden, aus denen sie gekommen waren.
«Wie traurig», war eine leise Stimme zu hören.
Sunni drehte sich um und sah, dass unter dem Baum ein magerer Junge ihres Alters im Schneidersitz sass. Sie wusste auf den ersten Blick, dass er ein Verlierer war, aber so ein krasser Aussenseiter, dass er noch nicht mal zu den Princess-Street-Verlierern gehörte.
«Sie brauchen nicht zu gehen», sagte er.
«Aber das ist ihre Bestimmung», entgegnete Sunni. «Ich war bei der Besprechung. Ich habe gesehen, wie es dazu gekommen ist.»
Der Junge betrachtete sie skeptisch und strich sich die Haare aus den Augen. «Bestimmung? Das Leben ist nicht vorherbestimmt. Diese Physiker glauben nicht an die Zukunft. Die meisten auf jeden Fall nicht. Ich weiss das. Ich bin mit ein paar von ihnen befreundet.»
«Aber…» Sunni schüttelte den Kopf. «Wenn es keine Bestimmung gibt, woher willst du dann wissen, was als nächstes passiert?»
Der Junge, Raffi hiess er, runzelte die Stirn. Er zögerte einen Augenblick, und dann erklärte er es ihr, so leise, dass er fast flüsterte; Sunni musste näherkommen, um ihn zu verstehen.
Er erläuterte ihr, dass der letztjährige Bora-Bora-Beweis, der in den Afrikanischen Beweis miteingeflossen sei, gezeigt habe, dass man nicht alles, was sich ereigne, vorhersagen könne, sondern dass sich alles in einem kontinuierlichen Zustand des gemeinsamen Werdens und Erneuerns befinde und alles zusammen eine ständige Evolution durchlaufe. Das Universum sei letztendlich nicht berechenbar und nicht vorhersagbar – im Grunde möglicherweise überhaupt nicht mathematisch beschreibbar. Keine Zukunft kann existieren, bis sie existiert, weil wir gemeinsam in einer radikal flexiblen Gegenwart die Realität erschaffen. «Die Dinge können sich in sehr unterschiedliche Richtungen entwickeln», sagte er. «Es gibt eine ganz reale Möglichkeit, etwas grundlegend Neues zu erschaffen – selten und kostbar, aber möglich.»
Sunni liess sich gegen den Baum sacken. Der Bora-Bora-Beweis konnte doch gar nicht sein! Sie drehte den Kopf, als die extraspeziellen Ältesten aus den grossen Türen des Rathauses kamen und sich über den Rasen verteilten, weggingen, die Köpfe über ihre Mütter gebeugt, die für sie entschieden, was sie als nächstes tun sollten. Sunni wollte gerade etwas sagen, als in der Ferne eine grellblaue Spirale am Himmel aufleuchtete.
Sunni keuchte. «Das ist der Krieg», sagte Raffi leise. «Wie ich sehe, kommt er näher.»
«Was für ein Krieg?», fragte Sunni.
Er sagte langsam: «Du bist wirklich eine extraspezielle Älteste, wie sie im Buch steht. Du hast nichts davon gewusst.»
Eine weitere blaue Spirale explodierte am Himmel in der Nähe der Mall. Ein hohes Pfeifen war zu hören. Geschmeidig wie ein Tier erhob sich Raffi. Er beugte sich vor und suchte etwas in der grossen Tasche, die neben ihm auf dem Rasen stand.
Erstaunt drückte sich Sunni dichter an den Baum. In der Ferne hatte eine Physikerin in einem roten Mantel kehrtgemacht und kam jetzt wieder auf sie zu. Raffi sah auf und beantwortete die Frage, die er auf Sunnis Gesicht sah: «Es ist eine Türkisbombe. Wir wissen vielleicht, wie wir damit umgehen können.» Die Physikerin kam auf den Baum zu, und Raffi ging mit ihr zusammen zum Perimeter Institute und verschwand darin.
Jetzt war Sunni allein. Sie stand vom Boden auf und beobachtete die Ältesten; die meisten starrten zum Horizont, wo die Spirale immer noch am Himmel hing. Sie sah, wie sie verzweifelt hinunterblickten auf ihre Mütter, um zu verstehen, was vor sich ging und wie sie reagieren sollten. Aber ihre Mütter hatten keine nützlichen Informationen, konnten die Spirale nicht ins Muster einpassen, hatten noch nie von so etwas gehört.
Steig auf deinen Scooter und fahr heim, stand auf den Displays; diese Anweisung passte auf viele Situationen und war sowieso das, was am häufigsten zu lesen war.
Die Teenager gingen sicheren Schrittes zu ihren Scootern, weil sie tief in ihren Herzen die Gewissheit verspürten: Nicht ihren Müttern fehlte das Verständnis, sie hatten einfach die falsche Frage gestellt – die Frage nach den Explosionen war nicht relevant. Was dort am Himmel passierte, hatte nichts mit den Mustern in ihrem Leben zu tun. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie auf so vielerlei Weise speziell waren. Sie stiegen auf ihre Scooter und verliessen die Innenstadt, genau wie die Physikerinnen und Physiker.
Sunni blickte auf, als eine Eichel vom Baum fiel und auf ihrem Kopf landete. Sie dachte darüber nach, was sie wusste.
Nachdruck mit Genehmigung von SLL/Sterling
Lord Literistic, Inc. Copyright von Sheila Heti und Margaux Williamson.