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Was unsere Identität ausmacht

Auf der Suche nach Idylle und Exotik: urbane Bohémiens entdecken den Kulturraum Appenzell. Roland Inauen, Volkskundler und Konservator, über die neue Brauchtumseuphorie, die einfache Schönheit der Bauernmalerei und wie die Kunst Appenzell für immer veränderte.

Was unsere Identität ausmacht

Roland, wir sitzen bei dir im Museum Appenzell, rund um uns Alpaufzüge – was macht die Kunst?

Als ich vor zwanzig Jahren hier begonnen habe, war dies ein typisches Heimatmuseum. Man hat alles gesammelt, was irgendwie in diesem Kanton bemerkenswert und wertvoll war. Letzteres Kriterium sorgte dafür, dass man etwa traditionelle Bauernmalerei – mit ihren Sujets der sennischen Kultur – genau nicht sammelte. Aus einem einfachen Grund: diese Bauermalerei – eine Volkskunst eben – war ohnehin allgegenwärtig. In jeder Bauernstube hingen die Werke der Bauernmaler. Man hat sie schlichtweg als «nicht sammelwürdig» betrachtet.

 

Wie ich sehe, hat sich das geändert.

Richtig. Entdeckt wurde die Appenzeller Bauernmalerei bemerkenswerterweise von Städtern. In Basel und Zürich entstanden grosse Sammlungen, die auch ausgestellt wurden. Und plötzlich sind vielen die Augen aufgegangen. Etwas zu spät, könnte man sagen, denn zu diesem Zeitpunkt war der Zug für das Museum schon abgefahren: die Werke waren bereits zu teuer, um sie anzukaufen. Das war natürlich fatal. Wir haben folglich nur eine rudimentäre Sammlung dieser Paradekunstwerke.

 

Sammelt ihr nun auch zeitgenössische Kunst, um nicht nochmals den Zug zu verpassen?

Der Kanton hat die Innerrhoder Kunststiftung gegründet, die den Auftrag hat, zeitgenössische Kunst zu sammeln. Das war 1999. Seitdem stehen wir pünktlich am Perron.

 

Nun bist du neben deiner Tätigkeit als Museumsleiter auch Sekretär eben dieser Stiftung. Ausserdem bist du Leiter des Kulturamtes des Kantons Appenzell Innerrhoden. Und als Richter bist du auch noch tätig. Führt das nicht zu Interessenkonflikten?

(lacht) Die Personalunion ist bedingt durch die Kleinheit des Kantons: Appenzell Innerrhoden hat nur 15 000 Einwohner, braucht aber die ganze Infrastruktur eines Kantons, Ämter und Verwaltungen. Wenn man für jedes Amt einen Menschen hinstellen würde, dann wäre die ganze Bevölkerung beschäftigt. Und so kommt es halt, dass ein und dieselbe Person mehrere Ämter auf sich vereinigt. Salopp gesagt: Jeder Einwohner, der einen Kopf auf der Schulter trägt, wird irgendwann mal für ein politisches Amt angefragt.

 

Wer kommt zuerst, der Volkskundler oder der Richter Inauen?

Der Volkskundler. Auf der einen Seite also zunächst der Kulturbereich, der immer noch tendenziell die schöne Seite des Lebens darstellt. Die Richtertätigkeit zeigt mir jedoch auch die gesellschaftlichen Realitäten dieses Kantons: auf der anderen Seite stehen also die Rechtsfälle, die zeigen, wo der Schuh drückt.

 

Du hast den Kulturbereich gerade das «Schöne» genannt…

…was ich nicht nur als ästhetisch schön verstanden wissen will. Man bringt das aber fast nicht aus den Köpfen raus. In der aktuellen Ausstellung zeigen wir die beiden Bauernmaler Albert Enzler und Johann Baptist Inauen, die nicht im eigentlichen Sinne «schön» malen. Ganz im Gegenteil! Es geht bei diesen beiden Künstlern darum, aus ihrer Biographie heraus zu sehen, was für sie Kunst bedeutete. Beide haben als gesellschaftliche Aussenseiter gelebt, der eine war behindert, der andere ein Armenhäusler. Beide haben mit ihrer Kunst auf ihre Art und Weise ihr Leben bewältigt und für sich und auch andere lebenswert gemacht. Diese Bilder haben eine Ausstrahlung. Das versuche ich dem Publikum zu vermitteln: «Schaut mal genau hin! Versucht, diese Ausstrahlung der Bilder und die Biographien auf euch wirken zu lassen!»

 

Dann erzähl uns doch bitte etwas mehr zum Leben der Künstler und wie es letztendlich zu dieser Ausstellung gekommen ist.

Albert Enzler war Schuhmacher aus Innerrhoden und hat sehr kleinformatig gemalt. Und dies aus einer ganz praktischen Überlegung heraus: die Bilder mussten in seinem Rucksack Platz finden, damit er sie mitnehmen und verkaufen konnte. In den Wirtschaften zeigte er sie rum und verkaufte sie für ein paar Franken. Ich wollte schon lange eine Ausstellung mit Enzler machen, aber seine Bilder sind so klein – rein formatmässig –, dass man nur schwer die Museumswände damit füllen kann.

 

Da hast du dir noch einen zweiten, grossformatigen Maler dazugesucht. 

Genau. Vor ein paar Jahren kam eine Frau ins Museum und bot mir etwa ein Dutzend Sennenstreifen von einem Johann Baptist Inauen an. Ich habe sie dann gekauft und gedacht: Irgendwann werde ich den Wert dieser Bilder erkennen. Nun ist es so weit – Inauen ist übrigens nicht mit mir verwandt!

 

Kommt es oft vor, dass Leute mit ihren Bildern ins Museum kommen?

Ja. Das Museum hat zum grossen Glück auch einen Ankaufskredit. Die Bilder von Inauen sind nach diesem spezifischen Ankauf dann zunächst im Depot verschwunden. Und ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Bis ich eines schönen Tages irgendwo im Toggenburg beim Wühlen in einer Sammlung wieder auf ihn stiess. In einem Raum, der bis zum Rand gefüllt war mit Antiquitäten, habe ich in der hintersten Ecke ein grosses Bild gesehen, das mir sofort ins Auge gesprungen ist! Ich habe gefragt, von wem das sei. Da hat man mir gesagt: «Den kennst du sicher nicht. Das war ein Bauernknecht hier in Mosnang und hiess Inauen.» (lacht) Von diesem Moment an hat er mich nicht mehr losgelassen. Was die beiden Künstler vor allem auch verbindet: beide haben ein wirklich himmeltrauriges Leben gehabt.

 

Und daran willst du uns nun das Schöne zeigen? Ein anspruchsvolles Unterfangen!

Das Ziel meiner Kulturvermittlungsarbeit ist letztendlich die Schaffung von Sinn und Halt. Und zwar für den Kunstschaffenden wie für den Betrachter. Im weitesten Sinne soll sie Identität schaffen. Das ist mein grosses Anliegen. Ich möchte vermitteln, was eigentlich unsere Identität ausmacht und wie sie geprägt wird. Mein Bestreben als Museumsleiter ist, Objekte zu sammeln, die unsere Identität mitprägen. Was heute vielleicht als banal betrachtet – oder kaum beachtet – wird, kann morgen schon ein wichtiges Objekt sein. Letztlich steht meine Arbeit unter der Frage: Was tragen diese Objekte, die wir hier täglich um uns haben, zu unserem Selbstwertgefühl bei?

 

Bleiben wir gleich bei der Volkskultur: In den letzten Jahren wurde Schwingen zum Massensport, der Popstar Bligg macht Hip-Hop mit der Alder-Streichmusik und Pro Helvetia fördert nun auch Folklore. Erlebt das Volksgut gerade einen Boom?

Ich kann das absolut bestätigen. Einerseits ist das natürlich sehr erfreulich, auf der anderen Seite traue ich der Geschichte nicht ganz. Wir hatten das auch in den 1970er Jahren schon mal. Ich möchte das aber in keiner Weise schlechtmachen. Im Gegenteil, es kann durchaus sehr kreative Auseinandersetzungen geben. Es wird sich aber erst herausstellen müssen, ob das wirklich nachhaltig ist.

 

Ist dieses Interesse auch der Grund dafür, dass man im Appenzellerland praktisch keine Häuser mehr kriegt? Kürzlich titelte das Magazin des «Tages-Anzeigers»: «Das Kalifornien der Schweiz».

Die wollen alle nur auf der Sonnenseite wohnen. In Brülisau etwa, wo es ein bisschen schattiger ist, bekommt man immer noch Boden und Bauland zu günstigsten Preisen. Aber da will keiner hin. Im Kanton Schwyz ist es dasselbe. Da wollen alle bloss an der Küste des Zürichsees wohnen.

 

An beiden Orten gibt es relativ gute Steuerbedingungen. Das hat dann weniger mit Kultur zu tun.

Genau, das ist der zweite Punkt. Aber zurück zu diesem Interesse an Appenzell und Volkskultur: dieser «Tages-Anzeiger»-Artikel ist voller Klischees. «Ihr kurligen Typen da oben mit euren kuriosen Bräuchen.» Es ist eine Art Gier nach dem Exotischen. Gegen diese Leute bin ich allergisch. Sobald es aber seitens der Zugezogenen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit unserer Kultur, mit der Lebensweise und der Mentalität gibt, ist das etwas anderes. Das tut uns nämlich extrem gut.

 

Zurück zur Kunst: Zeigst du im Museum auch zeitgenössische Kunstausstellungen?

Eher selten. Es gibt natürlich viele zeitgenössische Kunstschaffende, die gerne hier ausstellen würden. Hierzu braucht es dann aber schon mindestens einen runden Geburtstag seitens des Künstlers. Oder eben eine spezielle Intervention im Dialog mit dem Historischen oder der Volkskunst.

 

Wir haben beim Dorfeingang gleich zwei Installationen des international bekannten Appenzeller Künstlers Roman Signer gesehen.

Er ist so etwas wie unser Aushängeschild und es war für mich ein denkwürdiger Augenblick, als Signer den Kunstpreis der Stadt St. Gallen bekommen hat. In seiner Rede hat er mindestens eine halbe Stunde lang nur von seiner Jugend an der Sitter in Appenzell erzählt. Danach habe ich meinen Vorgesetzten gesagt: «Ihr habt keine Ahnung, wie der an Appenzell hängt.»

 

Obwohl sich Signer 1989 mit einer beeindruckenden Zündschnuraktion ganz offiziell nach St. Gallen verabschiedet hat.

Was ja auch ziemliches Aufsehen erregt hat – und grosses Kopfschütteln. Er hat entlang der Appenzellerbahn von Appenzell nach St. Gallen eine Zündschnur gelegt. Und alle rund 100 Meter gab es eine kleine Explosion. Die Zündschnur brannte über einen Monat lang und wurde Tag und Nacht von ihm und Freunden begleitet. Das war etwas Ungeheuerliches für die Leute hier.

 

Weswegen das Projekt auch sabotiert wurde?

Wohl ja, die haben ihn angegriffen, als absoluten Spinner verunglimpft. Er hat das aber durchgezogen bis nach St. Gallen. Wo dann nach 35 Tagen und 20 Kilometern eine kleine Explosion im Bahnhof das Ende dieser Reise markierte. Das war gleichzeitig die Ankunft der zeitgenössischen Kunst im Appenzellerland.

 

Wie gelang es dir, ihn wieder zurückzuholen?

Ich habe ihn angerufen und gesagt: «Innerrhoden möchte dich auch gerne haben.» Darüber hat er sich wahnsinnig gefreut. Und da der Platz, an dem er geboren wurde und wo er seine Jugend verlebt hatte, gerade neu gestaltet und umgebaut wurde, habe ich ihn gefragt, ob er sich an diesem Umbau mit einem Kunstwerk beteiligen wolle. Und: das passende Projekt hatte er bereits in der Schublade!

 

Die sich im Boden drehende Scheibe am Dorfeingang?

Genau, die sich ruhig bewegende Skulptur,  die eigentlich ja erst entsteht, wenn Leute darauf stehen, Kinder darauf spielen. Ich fahre täglich mindestens viermal an dieser Scheibe vorbei und jedesmal ist es ein anderes Bild. Man hat noch immer die Vorstellungen, bei Signer müsse immer etwas in die Luft fliegen, da er stets viel mit Pyrotechnik gearbeitet hat. Und stattdessen kommt er dann zu uns und bringt etwas absolut Stilles. Sein Ziel war, die Scheibe nahezu unsichtbar zu gestalten. Und sie durfte auch nirgends angeschrieben werden! Sie solle sich einfach ruhig drehen. Das war dann sogar den Kritikern und Geldgebern etwas gar still (lacht). Andererseits melden noch heute regelmässig erschrockene Touristen: unten in der Strasse sei ein Schachtdeckel, der sich drehe.

 

Stille, poetische Kunst, die dennoch irritiert.

Genau, und damit regt sie auch zum Nachdenken an. Zur Selbstreflexion, zum Innehalten in unserer Alltagshetze. – Stell dich einmal drei Minuten auf Signers Platte und schau, wie lange dir diese eine Umdrehung vorkommt! Drei Minuten sind unendlich lang. Ist schier nicht zum Aushalten. Es ist ein Segen für uns, unsere Gesellschaft, wenn man sich dessen noch einmal bewusst wird. Und eben auch für unsere Identität. Ich komme immer wieder auf diesen Begriff zurück. Wenn wir dieses Selbstwertgefühl leben dürfen, sind wir automatisch tolerant. Das ist heute ein grosses Wort. Und ein grosses Problem.

 

Die Intoleranz gegenüber Andersartigen, -gläubigen, -denkenden?

Für mich schlägt die Kunst dort eine enorm grosse Brücke, wo Individuen dazu beitragen, dass das Selbstverständnis ein gesünderes wird. Wenn ich in mir verankert bin, wenn ich mit mir einigermassen zufrieden bin, dann bin ich automatisch auch mit anderen umgänglicher und toleranter. Kunst muss das zwar nicht leisten, aber wenn sie aus sich heraus arbeitet, dann bewirkt sie viel mehr als irgendwelche grossen Konzepte und Imagestudien – oder weiss der Teufel was alles, für das sehr viel Geld ausgegeben wird.

 

Kannst du etwas konkreter werden? Wie beeinflusst denn Kunst das Selbstverständnis der Appenzeller tatsächlich?

Ein gutes Beispiel ist der Maler Johannes Hugentobler (1897–1955). Er hat das Dorfbild von Appenzell in den 1930er Jahren radikal verändert. Innert weniger Jahre war der junge Künstler im Alleingang dafür verantwortlich, dass aus einem grauen Dorf ein extrem farbiges wurde, das bis heute für seine Buntheit bekannt ist. Zuerst hat er nur den Auftrag bekommen, am Kirchturm den heiligen Mauritius, den Kirchen- und Landespatron von Appenzell Innerrhoden, zu malen. Damals war gerade ein Gerüst am Kirchturm: die Glocken mussten repariert werden. Der Pfarrer meinte: wenn da nun ein Gerüst steht, dann packen wir die Gelegenheit beim Schopf und verschönern diesen Turm ein bisschen. Irgendwann kam dann das Gerüst weg und man hat die Bescherung gesehen. Am ältesten, zentralen Bauwerk im Kanton prangte in bunten Farben ein über 10 Meter grosses Wandgemälde. Moderne Kunst!

 

Gab es einen Skandal?

Gewisse Leute haben sicher den Kopf geschüttelt. Aber die Folge war vielmehr, dass der Drogerist an der Hauptstrasse den Künstler beauftragte, seine Fassade mit ein paar Heilkräutern zu verschönern. Hugentobler hat daraufhin die Fassade mit einer wahren Farb-orgie eingedeckt. Ich hätte ja gerne die Blicke gesehen, als auch dieses Gerüst abgebaut wurde. Man muss sich das einmal vorstellen: links und rechts alles grau und mittendrin ein buntes Haus. Die Kunst hat das Dorf auf den Kopf gestellt – und Hugentobler konnte sich vor Anfragen der Nachbarn kaum retten. Man kann sagen: die Kunst hat Appenzell für immer verändert.

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