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Was tun mit völkerrechtswidrigen Volksinitiativen?

Die schlechte Nachricht für alle Internationalisten: Der souveräne Nationalstaat ist nicht überholt. Die schlechte Nachricht für alle Nationalisten: Die Schweiz würde an Souveränität verlieren, wenn sie infolge von Volksentscheiden internationale Verträge aufkündigt. Eine Suche nach Auswegen aus dem Dilemma.

Was tun mit völkerrechtswidrigen Volksinitiativen?
Weltwirtschaft und Souveränität: je geordneter der globale Wirtschaftsverkehr ablaufen soll, desto mehr muss sich der Staat internationalem Recht beugen. Bild: Fotolia

Die UNO zählt heute 193 «souveräne» Staaten. Wie souverän sie wirklich sind, hängt von der Definition ab – und Souveränitätsdefinitionen gibt es wie Sand am Meer. Man könnte einen Staat etwa dann als souverän qualifizieren, wenn kein anderer auf seinem Territorium Hoheitsrechte ausübt, wenn in seinem Innern geordnete Verhältnisse herrschen und wenn er in der Lage ist, völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen und einzuhalten. Wo Unruhen herrschen, Bürgerkriege toben, die Rechtsordnung zusammenbricht und fremde Mächte intervenieren, ist es mit der Souveränität nicht mehr weit her. Dies dürfte für etwa einen Drittel der UNO-Mitglieder zutreffen.

Eine andere Frage ist, ob die staatliche Souveränität auch durch die Globalisierung der Wirtschaft in Frage gestellt wird. Einiges spricht dafür: Die immer breiter werdenden Ströme von Waren, Dienstleistungen, Menschen, Kapital und Informationen nehmen kaum mehr Rücksicht auf staatliche Grenzen. Deren Kontrolle ist aber ohne Zweifel ein Merkmal der Souveränität. Globale Firmen können einen Staat unter Druck setzen, wenn sie mit der Verlagerung von Produktionsstätten oder Handelssitzen drohen. Die weltweite Arbeitsteilung hat jede Vorstellung einer nationalen Autarkie obsolet werden lassen. Und ein damit einhergehendes, immer dichter werdendes Geflecht internationaler Regeln schränkt die staatlichen Handlungsmöglichkeiten zusätzlich ein.

Nochmals eine andere Frage aber ist, ob die Souveränität im Zeitalter der Globalisierung überholt sei. «Überholt» setzte voraus, dass die Souveränität entweder ihre Funktionen verloren hätte oder dass neue politische Systeme an die Stelle der Staaten getreten wären: internationale Organisationen, supranationale Staatenbünde oder gar ein allmählich entstehender Weltstaat. Dafür gibt es zwar einige Anzeichen, doch für einen Abgesang auf den souveränen Nationalstaat ist es noch zu früh. Eine demokratisch legitimierte und auf Recht beruhende Weltordnung ist nicht in Sicht – im Gegenteil: seit 1989 hat die Welt-Unordnung zugenommen. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Mauerfall in Berlin hatte die Hegemonialmacht USA für einige globale politische Strukturen gesorgt (UNO, Bretton Woods, GATT); doch ihre Mittel und ihr Wille, dies weiterhin zu tun, schwinden. Absehbar ist ein fragiles System neuer Grossmächte, zwischen denen sich Instabilität breitmacht. Zwar versuchen nach wie vor unzählige internationale Organisationen Konflikte zu vermeiden, Recht zu schaffen und Hilfe zu leisten, doch dabei handelt es sich ganz offensichtlich um Sisyphusarbeit.

Etwas besser sieht es in der sogenannten OECD-Welt aus, bei den 34 hochentwickelten und wohlhabenden Staaten, deren Ökonomien in die globale Wirtschaft eingebunden sind. Vielfältige internationale Regelwerke bringen eine gewisse Ordnung in dieses gigantische Austauschsystem. Doch diese Ordnung ist weit davon entfernt, rechtsstaatlichen Anforderungen zu genügen. Die Regeln entstehen oft auf undurchsichtige und undemokratische Weise, und ihre Durchsetzung gegenüber kleineren Staaten erfolgt mehr denn je nach dem Recht des Stärkeren. Zudem löst sich die traditionelle OECD-Welt durch die Entstehung neuer Wirtschaftsgiganten auf: China, Indien, Brasilien. Die Interessengegensätze sind so gross geworden, dass es kaum mehr möglich ist, etwa im Rahmen der WTO neue Regeln zu setzen oder die Institutionen der UNO umzubauen.

 

Die «Innenhöfe der Souveränität» werden nicht angetastet

Ein anderer Kandidat überstaatlicher Ordnung ist die Europäische Union. An sie haben die Mitgliedstaaten aus freiem Willen Teile ihrer Souveränität abgetreten. Ja, dies ist sogar einer ihrer Zwecke von Anfang an: durch Supranationalität die «Wolfsnatur der Nationalstaaten» zu zähmen. Dieses politische Ziel verfolgte die Union bisher in erster Linie durch die Schaffung des Binnenmarktes und der Währungsunion, und zu diesem Zweck hat sie ein umfangreiches Regelwerk erlassen. Sie verfügt über eine Verfassung und über Organe für Gesetzgebung, Vollzug und Rechtsprechung. Das Parlament sorgt für eine beschränkte demokratische Legitimation. Dass diese Institutionen nicht denjenigen eines Staates entsprechen, muss kein Nachteil sein, denn um die Schaffung eines neuen europäischen Grossstaates geht es ja gerade nicht. Es ist eine neuartige politische Ordnung entstanden, deren Finalität in den Sternen steht.

Finden wir bei der EU also eine supranationale Struktur, welche staatliche Souveränität längerfristig überflüssig machen könnte? Ein Vorbild für eine weltweite Entwicklung, für Kants «ewigen Frieden»? Nein. Denn der bisherige Souveränitätstransfer berührt weitgehend nur die Wirtschafts- oder genauer die Marktsphäre. Dies wirkt zwar in die verschiedensten Politikbereiche hinein, trifft sie jedoch nicht in ihrem Kern. Lebensmittelhygienevorschriften sind noch keine Gesundheitspolitik, und eine Koordination von Sozialversicherungsleistungen ist noch keine Sozialpolitik. Infrastrukturen werden fast ganz von den Mitgliedstaaten geplant und finanziert, und Bildungspolitik bleibt ihnen vorbehalten. Die staatliche Ordnung wird durch nationale Polizei- und Justizsysteme gewährleistet. Eine gemeinsame Aussen- und Verteidigungspolitik ist zwar seit langem geplant, doch sie kommt nicht voran. Steuern erhebt die EU nicht. Alles, was die Bürgerinnen und Bürger existentiell betrifft, bleibt in der Kompetenz der Mitgliedstaaten, die «Innenhöfe der Souveränität» werden von Brüssel nicht angetastet. Dies ist auch der Hauptgrund dafür, dass sich die Bürgerinnen und Bürger kaum mit der EU identifizieren und dass Wahlkämpfe zum Europäischen Parlament von mitgliedstaatlichen Agenden dominiert werden. «Mehr Europa» wird zwar von manchen gefordert, doch was dies heisst, darüber wird man sich nicht einig. Wegen der Einstimmigkeit bei der Abänderung der Verträge ist das System inzwischen weitgehend blockiert. Auch hier also: staatliche Souveränität wird nicht obsolet, im Gegenteil, sie bleibt die Voraussetzung für das Funktionieren des supranationalen Staatenverbandes EU.

 

Dort sein, wo die Musik spielt

Der langen Rede kurzer Sinn: der souveräne Nationalstaat ist schon deswegen nicht überholt, weil alle übernationalen politischen Strukturen, die an seine Stellen treten könnten, höchstens einen Teil seiner Funktionen übernehmen können, rechtsstaatlich und demokratisch fragwürdig und zudem von prekärer Verlässlichkeit sind. Doch damit ist das Faktum der Souveränitätsbeschränkung durch die Globalisierung nicht vom Tisch. Und auch das Dilemma nicht, dass wir für die Bändigung des global frei flottierenden Kapitals durchsetzbare Regeln brauchen, diese dann aber die Souveränität weiter einschränken. Oder anders gesagt: je geordneter der globale Wirtschaftsverkehr ablaufen soll, desto mehr muss sich auch der Staat internationalem Recht beugen, auf welches er nur beschränkt Einfluss hat. Ein wirtschaftlich hochverflochtener wohlhabender Staat kann sich diesem Trend auch nicht mehr dadurch entziehen, dass er sich aus der Völkerrechtsgemeinschaft abmeldet. 

Solche Verkehrsregeln werden entweder ordentlich völkerrechtlich erlassen oder aber weniger ordentlich von Grossmächten editiert und durchgesetzt. Ersteres bedeutet, dass sie auf völkerrechtlichen Verträgen beruhen. Da es zum Abschluss oder zur Veränderung solcher Verträge der Zustimmung aller Beteiligten bedarf und da es nur wenige völkerrechtliche Mittel zur Durchsetzung der Regeln gibt, ist es äusserst schwierig, komplexe Pro-bleme bei Interessengegensätzen auf diese Weise zu lösen. (Erst die Einführung der Mehrheitsregeln hat es der EU ermöglicht, einen umfassenden Binnenmarkt zu schaffen.) Wenn nur die «willigen» Staaten einen Vertrag abschliessen, dann sind sie mit dem Problem der «free-riders» konfrontiert: Andere profitieren, ohne die Lasten zu tragen. Aus diesen Schwierigkeiten erwächst die Tendenz, dass bei dringenden Problemen (wie etwa dem Terrorismus oder der Steuerflucht) einige grosse Staaten Regeln setzen und mit Druck auf die andern durchsetzen. Dann bleibt dem Kleinstaat meist nur, sich zähneknirschend zu beugen.

Besser, viel besser ist es für ihn, wenn die internationale Ordnung durch Völkerrecht auf Vertragsbasis entsteht, denn nicht nur kann er hierauf Einfluss nehmen, er kann im Prinzip auch fernbleiben oder Abkommen später wieder kündigen. Allerdings: das Geflecht des Völkerrechts wird notwendigerweise immer dichter, und mehr und mehr hängt alles mit allem zusammen. Dem «pick and choose» sind damit enge Grenzen gesetzt. Wer da abseits steht oder wer aufkündigt, was ihm nicht mehr passt, kriegt bald Probleme, wird nicht mehr berücksichtigt und nicht mehr ernst genommen. Umso mehr steht er unter ständiger Beobachtung und hat Sanktionen zu gewärtigen. Die Schweiz hat in der letzten Zeit eine kräftige Prise davon schnupfen müssen.

Damit aber wird deutlich: Souveränität ist nicht mehr im traditionellen Sinne als völlige Eigenständigkeit bei der Setzung eigener Regeln möglich («Auto-nomie»), das nationale Recht wird durch das Völkerrecht mehr und mehr überformt. Die optimale Wahrung der Souveränität besteht deswegen heute darin, auf die Setzung dieser völkerrechtlichen Regeln möglichst grossen Einfluss zu nehmen, sich nicht abzuschotten, sondern dabei zu sein, wo die Musik spielt. Und grundsätzlich hat ein hochentwickelter mittelgrosser Staat dazu auch umfangreiche Möglichkeiten, vor allem mittels der aktiven Koalitionsbildung mit Staaten, die ähnliche Interessen haben.

 

Die Kollisionen zwischen Volksrechten und Völkerrecht

Wie ist diesbezüglich die Schweiz aufgestellt? Solange es international vor allem um Handelsrecht und verwandte Bereiche gegangen war, gehörte sie zu den Profispielern. Sie verfügte über ausgefuchste Handelsdiplomaten, sie war Mitbegründerin der EFTA, sie stellte lange Zeit die Generalsekretäre des GATT, und in der OECD spielte sie eine bedeutende Rolle. Doch inzwischen erstreckt sich internationales Recht auf fast alle Bereiche der Politik, und seine Auswirkungen sind im Inland spürbarer geworden. In solchen Verhandlungen erfolgreich zu sein, verlangt Beweglichkeit, Strategie und Taktik sowie Bereitschaft zu Konzessionen. Ausserdem gilt es Stärken und Schwächen der Partner zu kennen und «windows of opportunity» zu nutzen. Solches können, wenn überhaupt, nur Regierungen und ihre Diplomaten leisten. Deswegen haben in der Aussenpolitik alle Staaten den Exekutiven grössere Kompetenzen eingeräumt als in der Innenpolitik. Am Parlament ist es dann, Abkommen zu genehmigen oder abzulehnen, an den Gerichten, das staatliche Handeln in den Schranken der eingegangenen Verpflichtungen zu halten.

Nun ist aber in der Schweiz die Regierung schwach, denn der Souverän ist das Volk, und dies zunehmend auch in aussenpolitischen Dingen. Problematisch daran ist vor allem eine begriffliche Verwechslung: Das Volk ist natürlich der Souverän insofern, als alle Macht von ihm ausgeht und den Regierenden gleichsam nur geliehen ist. In diesem Sinne ist sie umfassend, absolut. Doch das Volk kann sich nicht selbst regieren, dazu bedarf es der politischen Institutionen, wie sie sich in den letzten 200 Jahren herausgebildet haben. Als Gesetzgeber muss das Volk seine Gewalt mit den andern Gewalten des Staates teilen, es ist nicht Allein- und nicht Letztgesetzgeber. Und erst recht ist die Souveränität, wie wir gesehen haben, eingeschränkt, wenn es um die Eingliederung des Staates ins Völkerrecht geht. Wenn diese drei Aspekte der Souveränität nicht klar unterschieden werden, kommt es zu Kollisionen zwischen Volksrechten und Völkerrecht, wie wir sie in der Schweiz in der letzten Zeit immer häufiger erleben. Populistische Parteien nützen diese Verwechslung gezielt aus.

 

Aufklärung über Konsequenzen

Kommt es zu solchen Kollisionen, müssen Regierung und Parlament versuchen, die Initiativen halbwegs völkerrechtskonform umzusetzen, denn auch die Schweiz ist an die eingegangenen Verpflichtungen gebunden. Dieses Balancieren und Finassieren beginnt nun aber das Vertrauen in die politischen Institutionen zu unterminieren: Entweder gerät die Schweiz immer mehr in die internationale Kritik oder der «Classe politique» wird vorgeworfen, den Volkswillen zu missachten. Da das Völkerrecht grundsätzlich über dem Landesrecht steht, ist eigentlich klar, in welche Richtung eine Lösung zu suchen wäre. Doch die Ängstlichkeit aller politischen Parteien verbietet es ihnen, Einschränkungen der Volksrechte auch nur anzudenken, geschweige denn, sie dem Verfassungsgeber einsichtig zu machen.

Gibt es einen andern Ausgang aus diesem Dilemma? Optimisten sind der Meinung, man könne das Volk so weit über internationale Zusammenhänge aufklären, dass es von selbst seine diesbezügliche Verantwortung wahrnehmen werde – dies wäre eine Art kluger, freiwilliger Selbstbeschränkung. Diese hat bisher dann funktioniert, wenn ökonomische Interessen tangiert waren und die Wirtschaft sich geschlossen in einen Abstimmungskampf gestürzt hat. Nach dem 9. Februar 2014 ist aber auch dies nicht mehr sicher. Wenn es jedoch um Minarette, Ausschaffung, Verwahrung und ähnliches geht und wenn isolationistische Propagandisten in den Ring steigen, dann geht es eben schief. Deshalb sind Pessimisten eher der Ansicht, man solle eben in Gottes Namen alle internationalen Verträge aufkündigen, die dem Volkswillen widersprechen. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass ein Staat, der sich dadurch immer stärker ins Abseits manövriert, nicht nur seinen guten Ruf, sondern recht eigentlich seine Souveränität verliert.

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