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«Was mit den Uiguren passiert, ist ein Warnsignal für uns»
Adrian Zenz, zvg.

«Was mit den Uiguren passiert, ist ein Warnsignal für uns»

Die chinesische Regierung betreibe in Xinjiang ein Testlabor für ­Überwachung und Repression, sagt der Ethnologe Adrian Zenz. Aus seiner Sicht fehlt im Westen ein realistisches Verständnis von China.

Adrian Zenz, Sie waren massgeblich daran beteiligt, das ­Ausmass der Arbeitslager und der Repression in der Provinz Xinjiang aufzudecken und zu dokumentieren. Wie kommt ein Ethnologe auf dieses Thema?

Ich habe für meine Doktorarbeit am Zusammenspiel von Minderheiten, Bildungssystem, der Berufswahl und ethnischer Identität geforscht. Dabei bin ich auf Zahlen dazu gestossen. Ab 2007 veröffentlichte auch die chinesische Regierung Informationen zunehmend im Internet. So bin ich auf die Idee gekommen, öffentliche Stellenausschreibungen systematisch auszuwerten. Mir fiel auf, dass in ­Tibet auffallend viele Stellen für Polizeikräfte ausgeschrieben waren, oder für andere sicherheitsbezogene Arbeiten, etwa für das innere Sicherheitssystem. Als mich ein Professor fragte, ob ich mit meiner Methodik auch Daten aus Xinjiang auswerten könne – Xinjiangs Parteisekretär Chen Quanguo baue dort die Sicherheitskräfte massiv aus –, hat sich mein Fokus darauf verlagert, aktuelle Entwicklungen zu verstehen. Mit einer Kombination verschiedener ­Methodiken ist es mir gelungen, in der sich sehr schnell entwickelnden Situation in Xinjiang systematisch Regierungsmassnahmen zu erfassen und so auch dokumen­tarisch nachzuweisen, was dort passiert.

Was hat Sie bei Ihren Recherchen am meisten schockiert?

2018 stiess ich in meiner Suche auf Stellenausschreibungen, aus denen herauszulesen war, dass Personal gesucht wurde für ein Berufsbildungszentrum mit hohen Mauern, Stacheldraht, Wachtürmen und Polizeistationen. 2019 entdeckte ich dann ein ganzes System, um die uigurische Gesellschaft in Zwangsarbeit zu stecken. In den Fabriken wurden auch Horte gebaut für Kleinkinder und Babys der Uiguren. Dieses systematische Reengineering der Ge­sellschaft hat mich schockiert, wurde dann aber noch deutlich übertroffen, als ich auf Interniertenlisten stiess inklusive Internierungsstatus: Listen mit Tausenden von Menschen, geordnet nach Familien und versehen mit einem Status wie «in der Umerziehung» oder «im Gefängnis». Das Schlimmste, was ich mir anschauen musste, waren wohl die Nachweise der Zwangssterilisierung.

Wie ist die Lage in Xinjiang jetzt?

2018 und 2019 existierte ein drakonischer Polizeistaat mit sehr viel sichtbarer Polizei. Viele Uiguren waren plötzlich nicht mehr da, ihre Häuser standen leer. Nun ist die Polizei stärker in den Untergrund gerückt, und es gibt mehr verdeckte Polizeikräfte und Spione, die innerhalb der Gesellschaft arbeiten. Die sichtbare Polizeipräsenz wurde auch deshalb zurückgefahren, weil die Umerziehungskampagne erfolgreich war. Die Uiguren trauen sich nicht mehr, Wider­stand zu leisten, und haben auch nicht mehr die Möglichkeit dazu. Zudem hat die chinesische Regierung immer drakonischere Massnahmen ergriffen, um jeglichen Informationsfluss zu verhindern. Folglich können wir nicht zuverlässig sagen, was genau passiert. Wir wissen aber durch manche Zeugenaussagen und interne Dokumente, dass viele Uiguren, die bisher in Lagern waren, entweder in gesicherten Fabriken Zwangsarbeit leisten oder in Gefängnisse gesteckt wurden. Das erklärt auch den ­massiven Ausbau der Gefängniskapazität.

Warum macht China das?

Ethnische Probleme und Differenzen gibt es, seit Mao ­Zedong 1949 mit seiner Armee in Xinjiang einmarschiert ist und die kurze Unabhängigkeit von Ostturkestan mit dem Einverständnis der Sowjetunion beendet hat. Sie haben sich durch die Kulturrevolution verstärkt. Die Regionen im Westen von China wurden von der Regierung im Rahmen des Great Leap Forward mit Milliardenbeträgen überschüttet – Geld, das hauptsächlich den Hanchinesen zugutegekommen ist und nicht der Stärkung der Infrastruktur. Mit der 2013 ins Leben gerufenen Belt and Road Initiative hat sich das geändert. Xinjiang ist nun das Herzstück dieses Prestigeprojekts, weshalb die Regierung die Stabilität und die absolute Kontrolle in dieser Region als sehr wichtig ansieht.

«Die Kommunistische Partei ist im Kern

überhaupt nicht modern und flexibel.

Sie war nur stets pragmatisch und anpassungsfähig,

und das ist auch ihr ­Überlebensrezept.»

Peking beklagt Terror seitens der Uiguren. Für wie glaubwürdig halten Sie das?

Uigurische Gruppen haben vorgeblich einen blutigen Messer­angriff auf die Bahnstation in Kunming verübt und eine Autobombe in Peking gelegt. Das hat die diesbezüglich sehr sensible hanchinesische Bevölkerung auf den Plan gerufen, was die Regierung ein Stück weit dazu gezwungen hat, stärker durchzugreifen. Im Zuge der US-amerikanischen Terrorismusbekämpfung nach 9/11 ist sie dann dazu übergegangen, den Widerstand in der Bevölkerung als Terrorismus darzustellen – eine effektive Propagandastrategie. Das Hauptproblem für die Regierung in Xinjiang war jedoch schon immer der passive Widerstand und nicht der aktive. Im Grunde genommen hat sie ein ­Problem mit der Gesamtbevölkerung.

In kommunistischen Regimes gab es immer Zwangsarbeit und Überwachung. Und doch haben viele den Eindruck, China sei mit den vielen marktwirtschaftlichen Reformen zu ­einem modernen Staat geworden. Trügt der Eindruck?

Die chinesische Regierung gibt sich nach aussen als modern aus und hat aus pragmatischen Gründen schnell ­gelernt. Aber wir haben die Entwicklung falsch verstanden. Schon Deng Xiaoping hat intern gesagt, dass seine marktwirtschaftlichen Reformmassnahmen eine Art Kompromisslösung wären, um China wirtschaftlich zu stärken. So dass dann zu einem späteren Zeitpunkt die sozialis­tische Revolution erfolgreich durchgeführt werden kann. Was Xi Jinping tut, ist die konsequente Fortsetzung dieses Kurses. Die sozialistische Revolution ist ein Ziel, das nie aufgegeben wurde.

Alle sieben Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Polit­büros der Kommunistischen Partei Chinas sind in den 1950ern geboren, sie sind aufgewachsen mit der Kulturrevolution. ­Besteht nicht auch in China selber eine Kluft zwischen diesen Leuten, die diese Politik durchsetzen, und der Bevölkerung, die vielleicht vieles komplett anders sieht, das aber nicht ­äussern darf?

Ja, so ist es. Die Regierung nimmt jetzt auch die Techno­logiefirmen an die kurze Leine und nimmt so einen Innovationsverlust in Kauf. Man sollte dazu wissen, dass die Kommunistische Partei im Kern überhaupt nicht modern und flexibel ist. Sie war nur stets pragmatisch und anpassungsfähig, und das ist auch ihr Überlebensrezept. Mit der Kombination von technologischem und wirtschaftlichem Fortschritt hat sie die Bevölkerung bei Laune gehalten und vorgegeben, das liege an der Kommunistischen Partei und ihrer Führung. Tatsächlich hat die Partei Stabilität geschaffen. Unter diesen stabilen inneren Bedingungen konnte sich China auch gut entwickeln. Jetzt kommen wir aber an einen Punkt, wo diese Stabilität und Kontrolle zu einem Hindernis werden. In anderen Ländern wie Süd­korea oder Brasilien, die sich wirtschaftlich entwickelt ­haben, war der nächste logische Schritt, zur Demokratie überzugehen, weil eine starre Führung von oben eigentlich nur noch ein Nachteil ist. Die Kommunistische Partei setzt auf das Gegenteil. Die Konsequenzen davon werden jetzt zunehmend sichtbar.

In welcher Beziehung steht das, was Peking in Xinjiang tut, zur allgemeinen Tendenz der verstärkten Überwachung und Repression?

Es ist eine Wechselbeziehung. Von 2011 bis 2016 war Chen Quanguo Parteisekretär von Tibet, danach bis Ende 2021 von Xinjiang. Unter ihm sind Innovationen wie das Grid-Management eingeführt worden – eine Art Matrix, mit der man eine Stadt engmaschiger kontrollieren kann. Dieses in Peking und Schanghai erprobte System hat er in Tibet verfeinert und in Xinjiang mit der neusten Technik chinesischer Firmen zu Überwachungskameras und Datenbanken zusammengeführt. Er installierte die immer raffinierteren Polizeisysteme Ostchinas in Xinjiang und machte die Region so zu einem Testlabor für den Rest des Landes. So konnte man diese Systeme praktisch ohne Grenzen an Menschen austesten und hatte keine Probleme mit Hanchinesen, die sich beschweren würden.

Ist Xinjiang somit eine Blaupause für den Überwachungsstaat im Rest des Landes?

Huawei hat einen Vertrag mit der Polizei in Urumqi für ein Innovations-, Design- und Entwicklungslabor und für polizeiliche Zwecke. Polizeikräfte besuchen regelmässig Xinjiang und lassen sich dort schulen, so etwa auch die Polizei von Hongkong 2018. Das war übrigens auch ein Grund, weshalb die Hongkonger auf die Barrikaden gegangen sind, als es noch möglich war: Sie haben das kommen sehen von Xinjiang. Was in Xinjiang entwickelt wird, fliesst zurück in den Rest Chinas, wird aber auch profitbringend exportiert nach Zentralasien oder in Länder wie Simbabwe oder Ecua­dor.

Erleichtern digitale Technologien die Repression?

Ja. Daten jedoch sind ein zweischneidiges Schwert: Sie ermöglichen einerseits eine sehr detaillierte Überwachung, andererseits schaffen sie auch noch mehr Verdachts­momente. Sie erzeugen das Gefühl, dass man wirklich alles kontrollieren kann. Wenn ich mir diese internen Dokumente der Regierung ansehe, bemerke ich ein Gefühl von Übermacht, ein übersteigertes Selbstbewusstsein, das Menschen zwar oberflächlich mit Daten kontrollieren kann, ihre Herzen damit aber nicht gewinnt. Verlässt sich eine Regierung allzu sehr auf ihr digitales Überwachungssystem und wähnt sich sicher damit, schafft sie sich selbst auf lange Frist ein grosses Risiko.

«Verlässt sich eine Regierung allzu sehr

auf ihr digitales Überwachungssystem und

wähnt sich sicher damit, schafft sie sich selbst

auf lange Frist ein grosses Risiko.»

Sehen Sie eine Bedrohung durch die Ideologie der Kommunistischen Partei auch im Westen?

Wer Chinas Aussenpolitik analysiert, sieht, wie sie jetzt ihre Wirtschaftsmacht einsetzt gegenüber Ländern wie Australien, Norwegen, Schweden oder Litauen. Der Westen wird in China oft sehr negativ dargestellt; schon im Schulunterricht lernen die Kinder, dass man sich auf den Westen nicht verlassen könne, dass er China für über 100 Jahre unterdrückt habe. Solange diese historischen Verletzungen und Beleidigungen immer wieder hochgespielt und immer wieder für Propagandazwecke genutzt werden, wird der Nationalismus gestärkt. Das sind gefährliche ­Tendenzen. Wir müssen uns genau überlegen, wie abhängig wir uns von einer solchen Regierung machen möchten.

Warum haben Länder, die bisher als freiheitlich galten, wie beispielsweise Australien und Neuseeland, die extremen, schon fast totalitären Coronaregeln Chinas praktisch ­übernommen und im eigenen Land durchgesetzt?

Die Möglichkeiten, die durch die digitale Überwachung entstanden sind, müssen uns nachdenklich stimmen. Die Lockdowns in Australien und Neuseeland gehen schon drakonisch an die Freiheit und werfen die Frage auf, wo das Mandat des Staates endet, seine Bevölkerung in einer Pandemie zu schützen. Auf der anderen Seite gilt es die Krankenhäuser unter der Kapazitätsgrenze zu halten. Über beides wurde breit debattiert, und das ist das Wichtigste: Dass es in Ländern wie Australien und Neuseeland eine freie Presse gibt und im Rahmen der Meinungsfreiheit ­solche Themen kritisch hinterfragt und debattiert werden können. Wenn man die aktuelle Politik nicht mag, kann man eine Partei wählen, die eine andere Politik fährt. Das ist ein ganz grosser Unterschied zu China.

Was ist der richtige Umgang von westlichen, freiheitlich demokratischen Ländern mit China?

Zu viel von dem, was gesagt wird, auch von Politikern wie Frau Merkel oder Herrn Scholz, ist blauäugig. Es basiert nicht auf einem guten Verständnis der Entwicklung Chinas und der Ideologie der Partei. Man sieht ein China, wie man es vor zwanzig Jahren zu verstehen geglaubt hat. Und nicht das China, wie es sich tatsächlich entwickelt hat.

Im Westen haben die Enthüllungen aus Xinjiang vielfach ­Achselzucken ausgelöst. Auch bei Leuten, die «Nie wieder!» in bezug auf Nationalsozialismus zu ihrem moralischen ­Mantra gemacht haben. Wie ist das zu erklären?

Ich bin schockiert, ich bin verstört, ich bin frustriert – dabei sind meine Erwartungen schon sehr gering geworden. Ich finde es eine absolute Katastrophe, wie wenig diese massiven und dramatischen Menschenrechtsverletzungen thematisiert werden. Allgemein gesehen ist das geschichtliche Verantwortungsbewusstsein in Zentraleuropa doch hoch. Und in Deutschland besonders hoch.

In China waren die Reaktionen auf Ihre Recherchen ganz ­andere. Sie wurden angeklagt, die Staatsmedien griffen Sie persönlich an. Hat Sie das überrascht?

Die Chinesen haben lange geschwiegen und mich nicht beim Namen genannt. Irgendwann konnten sie das Pro­blem aber nicht mehr ignorieren und haben mich persönlich öffentlich angegriffen. Wenn man nicht faktenbasiert ­argumentieren kann, bleibt nur übrig, die Person, die massgeblich dazu beigetragen hat, die Verbrechen aufzudecken, namentlich anzugreifen.

Warum setzen Sie sich solchen Angriffen aus? Was treibt Sie an?

Für mich ist Wissenschaft etwas, das auch im Hier und Jetzt relevant sein muss. Ich habe nie geplant, dass ich Menschenrechtsverbrechen aufdecke, es hat sich vielmehr aus meinem Fähigkeitsprofil ergeben. Ich bin auch christlich motiviert: Es ist mein Glaube, dass wir nicht nur für uns selber leben, sondern auch für unsere Mitmenschen. Ich will die moralische Verantwortung, die wir unseren Nächsten gegenüber haben, wahrnehmen. In der heutigen Zeit sind die Uiguren unsere Nächsten, auch wenn sie weit weg wohnen.

Was sollten wir tun, wenn wir keinesfalls so leben möchten wie in China? Also ohne Gesichtserkennung, ohne digitale ­Ausweispflicht, ohne Überwachungsdrohnen und ohne ein ­total überwachtes Finanzsystem?

Die Tendenz geht dahin, dass der Mensch immer digitalisierter wird. Das wird in Europa allerdings auch diskutiert: In Deutschland ist der Datenschutz deutlich gestärkt worden. Es ist wichtig, dass diese Problematik gesellschaftlich und politisch thematisiert wird und dass man es nicht einfach für selbstverständlich nimmt, dass der Mensch immer stärker kontrolliert werden kann.

Die Technologie macht unser Leben ja auch besser.

Ja, leichter, angenehmer und vielleicht auch schöner in mancher Hinsicht. Es ist ein Zwiespalt, mit dem wir leben. Wie man damit umgehen will, muss jeder selber ent­scheiden. Was mit den Uiguren passiert, ist jedenfalls ein Warnsignal für uns. Wir müssen schauen, dass diese ­Entwicklungen nicht zu uns kommen, auch dadurch, dass der Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas in Europa zunimmt. Wir müssen das verhindern, um unsere Freiheiten zu erhalten.

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