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Was ist ein Mann?
Marko Kovic, zvg.

Was ist ein Mann?

Ein Verunsicherter.

Wir leben in einer aus liberaler Sicht sehr erfreulichen Zeit. Das ehemals enge Korsett tradierter Geschlechterrollen bricht auf, und Menschen, die sich darin unwohl fühlen, können aufatmen. Auch heute noch kann, wer mag, das Glück in «klassischen» Konstellationen finden (z.B. die Frau als Hausfrau und der Mann als Versorger). Die politische und ökonomische Integration von Frauen in den vergangenen Jahrzehnten erlaubt es heute aber sowohl Frauen als auch Männern, ihre Lebensentwürfe freier und selbstbestimmter zu gestalten. Das ist ein zivilisatorischer Fortschritt.

Die Kehrseite: Starre Vorstellungen von Geschlechtern und Geschlechterrollen engen ein, aber sie bieten auch Halt und Orientierung. Fällt dieses Gerüst weg und werden keine alternativen Gerüste angeboten, droht Orientierungslosigkeit – ein normatives Vakuum, das mit problematischen Ideologien gefüllt werden kann. In dieser Situation der Orientierungslosigkeit befinden sich heute viele junge Männer.

Das Aufbrechen tradierter Geschlechterstrukturen bringt aktive weltanschauliche Angebote für Mädchen und Frauen mit sich. Es ist richtig, dass wir ihnen jene Freiheiten und Lebenschancen zugänglich machen, die ihnen so lange verwehrt blieben. Im Zuge dieses positiven Fortschritts wird die Rolle von Buben und Männern zu grossen Teilen ex negativo beleuchtet: Wir thematisieren, was sie nicht tun sollen. Natürlich zu Recht: Wir müssen beispielsweise bereits Kindern beibringen, dass Männer keinen Anspruch darauf haben, dass eine Hausfrau ihnen dient.

Der Ex-negativo-Abbau männlicher Geschlechtervorstellungen führt jedoch zu Verunsicherung. Auch wenn man nun weiss, was man nicht tun soll, weiss man dadurch noch lange nicht, was man aktiv tun soll. In diesem Zustand der Verunsicherung greifen junge Männer nach weltanschaulichen Rettungsringen, die ihnen Stabilität geben. Viele davon sind leider illiberale reaktionäre Sackgassen.

Eine dieser Sackgassen wird beispielsweise von Andrew Tate ausgefüllt. Der ehemalige Kickboxer verdient Millionen damit, jungen Männern vermeintlich simple Lifehacks anzudrehen, mit denen sie angeblich schnell reich werden. Natürlich wurde Tate selbst nicht mit diesen Methoden reich, sondern mit dem Verkauf von Anleitungen für diese Methoden.

Warum fallen so viele auf Tates Masche rein? Weil er mit seinen Ideen von Maskulinität und der Rolle, die Frauen dabei spielen sollen, gezielt junge Männer anspricht, die nach Halt suchen. Die meisten von denen, die an seinen Lippen hängen, glauben wahrscheinlich (oder hoffentlich) nicht wirklich, dass Frauen eine Form von Besitz von Männern sein sollen, wie das Tate postuliert. Aber sie sehen in Tates Sicht auf die Welt eine Art von Ordnung, die sie dem Chaos und der Unberechenbarkeit vorziehen.

Tate ist nur die Spitze des Eisbergs. Von Pick-up-Artists (manipulative Methoden, die Frauen dazu bringen sollen, zu Sex einzuwilligen) und Alpha-Männer-Bootcamps (ein paar Tage pseudomilitärischer Drill und Wühlen im Schlamm) bis hin zu Gruppierungen wie der in Selbst- und Frauenhass getränkten Incel-Bewegung buhlen heute eine Vielzahl von Akteuren um die Gunst von verunsicherten Männern (und ziehen ihnen dabei teilweise richtig viel Geld aus der Tasche).

Ändern sich Machtverhältnisse und geben Gruppierungen, die traditionell überproportional viel Macht innehatten, Macht ab, sind Gegenbewegungen und Widerstand unausweichlich. Wir können die Reibung auf dem Weg zu einer freieren Gesellschaft aber reduzieren, indem wir beginnen, die Verunsicherung junger Männer ernst zu nehmen und aktiv positive Formen männlicher Identität zu formulieren. Wie diese genau aussehen können, ist eine offene und alles andere als einfach zu beantwortende Frage. Nehmen wir uns ihrer aber nicht an, überlassen wir junge Männer weiterhin den Andrew Tates dieser Welt.

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Ahmad Mansour und Donat Blum, fotografiert von Ioannis Politis.
«Männlichkeit wird nach wie vor viel zu stark mit Dominanz gleichgesetzt»

Schriftsteller Donat Blum hält Männlichkeit für ein soziales Konstrukt und will ihr ­Empathie entgegensetzen. Psychologe Ahmad Mansour widerspricht und kritisiert die Verteufelung «alter weisser Männer». Ein Streitgespräch über Gendern, ­muslimischen Antisemitismus und Zärtlichkeit.

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