Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Was ist ein «Citoyen»?

Bürger. Bourgeois. Aktiver Staatsbürger. Staatsdiener. Weltbürger. Wie steht es um den Bürgersinn heute? Und was hat uns Karl Schmid dazu zu sagen?

Was ist ein «Citoyen»?
Bernd Roeck, Thomas Sprecher, Adolf Muschg und Monika Weber, photographiert von Philipp Baer.

Thomas Sprecher: Was ist heute ein Citoyen, worin zeigt sich Bürgersinn? Diese Fragen möchten wir heute diskutieren. Zunächst aber bitte ich die vier Diskutanten, ihre persönlichen Bezüge zu Karl Schmid zu schildern.Frau Weber, Sie sind politisch nicht mehr aktiv, aber immer noch sehr interessiert. Ich habe gelesen, dass Sie jedes Jahr einen Leserbrief schreiben. Was schreiben Sie in Ihrem Leserinnenbrief an uns?

Monika Weber: Ich mahne manchmal. Zwar nehme ich nicht mehr Stellung zu politischen Angelegenheiten, aber manchmal empfinde ich den Tonfall derart, dass ich doch etwas dazu sagen möchte, wie gleich auch zum Thema Citoyen. (lacht) Aber der Reihe nach und also erst zu Karl Schmid. Es begann an einem Samstag anfangs der 1990er Jahre hier in der Aula der ETH, als die Karl-Schmid-Stiftung gegründet wurde. Hans Künzi lud mich – spontan, wie er war – ein und so ging ich hin. Ebenfalls anwesend war eine Reihe von Offizieren – in Uniform. Einige von diesen sind auch heute hier, aber ohne Uniform. Sie erwiesen Karl Schmid damals mit ihrer Präsenz die Ehre. Auch in den Folgejahren waren die Themen der Tagungen von strategischen Fragen geprägt. Ich finde, das ist nicht unwichtig. Peter von Matt hat darauf hingewiesen: das Militär und das Engagement für das Land, als Ci­­-toyen, als Diener des Landes. Seither habe ich mich nicht mehr direkt mit Karl Schmid beschäftigt, und der heutige Anlass forderte mich entsprechend heraus. Eigentlich war es Georg Kohler, der mich da herausgefordert hat, wofür ich jetzt sehr dankbar bin. Und das Lesen hat sich gelohnt: Karl Schmids Denken kann einen faszinieren; seine Betrachtungen, die er mit einer akribischen Analytik formuliert, sind höchst eindrücklich, wie auch die dialektische Form seiner Argumentation, die er ja durchzieht in aller Konsequenz. 

Einen Bezug zu Karl Schmid habe ich darüber hinaus auch als Präsidentin der Jeanne Hersch-Gesellschaft. Schmid und Hersch waren nämlich nicht nur Zeitgenossen, sondern sie waren beide auch Citoyens, aktive Staatsbürger. Das muss man in aller Deutlichkeit so formulieren. Es gibt interessante Parallelen, als Beispiel möchte ich hier nur die 1968er, 1970er Jahre erwähnen. Damals wurden sie beide unabhängig voneinander als reaktionär bezeichnet und beide wurden sie irgendwie missverstanden. Denn beide, Karl Schmid und Jeanne Hersch, begriffen sehr wohl, dass die Jugend etwas Neues brauchte. Aber sie waren auch der Meinung – und das ist ja auch typisch für Karl Schmid –, dass nicht alles, was früher war, dass nicht alle alten Werte in Bausch und Bogen als null und nichtig abgetan werden sollten, sondern dass es auch Gutes in und aus der Vergangenheit gebe. Beide erwarteten eigentlich den Diskurs, beide warben für eine differenzierte Betrachtungsweise, aber die Zeit damals war stärker. Dass sie als Reaktionäre und als konservativ abgestempelt wurden, führte dazu, dass sie vergessen gingen. Beide müssen sie für eine junge Generation wieder neu entdeckt werden. Das Eintreten für bewährte Werte gelang Karl Schmid in sehr subtiler Art und Weise. Auch davon können wir etwas lernen, gerade in der heutigen Zeit. Die Haltung bezüglich dieser schwierigen Jahre ist bei beiden die gleiche. Sie lautet sinngemäss: es ist nicht alles zum vornherein deshalb besser, weil es neu ist. Das gilt heute so wie damals. Dazu zu stehen braucht manchmal eine gehörige Portion Zivilcourage – und die haben sie beide bewiesen.

Herr Roeck, Ihr Büro liegt, was der Karl-Schmid-Stiftung zu verdanken ist, an der Karl Schmid-Strasse. Was verbindet Sie über die Adresse hinaus mit Schmid? 

Bernd Roeck: Sie haben mich ja wahrscheinlich eingeladen, weil Sie einen Blick von aussen wollten. Den können Sie in mehrfacher Hinsicht haben: Erstens bin ich «nur» an der Universität, nicht an der ETH; zweitens bin ich nicht Germanist, sondern Historiker; und drittens bin ich kein Schweizer. Ich bin zwar Süddeutscher, das hilft aber wenig, und ich stimme mit Georg Kohler überein, dass ich damit nicht mal aus einem Grossstaat komme. Behagen empfinde ich aber durchaus in diesem angeblichen Kleinstaat – sonst wäre ich nicht seit über einem Jahrzehnt hier. Was nun Karl Schmid betrifft, muss ich sagen, dass mir bis vor kurzem jeglicher Bezug zu ihm gefehlt hat. Der erste, der gegeben war, war zunächst ein Ärgernis. Als ich hierher berufen wurde, erwähnte mir gegenüber jemand am Rande, dass die Karl Schmid-Strasse früher Künstlergasse geheissen habe. Ich hätte natürlich viel lieber an einer «Künstlergasse» residiert, das steht uns als Mitgliedern der Philosophischen Fakultät, der einstigen Artistenfakultät ja auch gut an. Und wer dieser Karl Schmid war, wusste mein Gesprächspartner, immerhin ein Kollege der Universität, nicht zu sagen. Mit der Zeit gab es dann Gelegenheit, das eine oder andere von ihm wahrzunehmen und jetzt diese Biographie zu lesen. Dabei habe ich zunächst einen Wissenschafter und einen Menschen kennengelernt, der mit grösster Wahrscheinlichkeit heutzutage nicht berufen worden wäre – nicht einmal an die Uni. Das mag an der Zeit liegen, ändert aber nichts daran, dass er enorme Wirkung entfaltet hat und alle froh sein können, dass man damals so kühn war, ihn doch an unsere Alma mater zu holen. Wie man dem Buch entnehmen kann, war das ja auch nicht ganz unstrittig. Kühn fand ich dann, auch wieder mit einigem Widerwillen, die Beziehung von Schmids Denken zu dem C.G. Jungs. Ich glaube nicht, dass dessen Kategorien wirklich taugen, um eine Volksbefindlichkeit zu erklären. Es ist nicht einmal sicher, ob sie dazu taugen, die Befindlichkeit eines einzelnen Menschen zu erschliessen. Aber das ist gleichzeitig das Positive: ich fand es ausserordentlich interessant, dass jemand diesen Sprung gewagt hat. Das war interdisziplinär gedacht – so etwas wird heute sehr geschätzt – und war und ist absolut nicht alltäglich. Mit zunehmender Lektüre wuchs die Sympathie. Nicht wegen seiner Beziehung zu Frau Attenhofer, zur Gattin. Da verwahre ich mich natürlich. Ich habe auch einen Moment lang überlegt, ob man die Karl Schmid-Strasse nicht besser Attenhofer-Strasse genannt hätte.

Die gibt es schon!

Roeck: Ja, aber ich meine diese Karl Schmid-Strasse! Was mir gefallen hat – und damit bin ich vermutlich bei einem weiteren Grund, weshalb ich die Ehre habe, heute hier zu sein –, war der Citoyen. Es war eine Lebensform, die sich zum einen im Engagement für den Staat zeigt, im Bekenntnis zu bestimmten Werten dieses Staates, zum andern natürlich aber auch eine Lebensform, die den Genüssen der Welt nicht völlig abgeneigt und dabei dem Schreiben verpflichtet ist. Biographien sind ja immer mehr oder weniger Konstruktionen einer Person, die so nie gelebt hat. Das ist bei Wolfgang Hardtwigs Jacob Burckhardt ebenso der Fall wie bei Ernst Gombrichs Aby Warburg, um zwei ganz berühmte Beispiele zu nennen. Aber was Ihnen, Herr Sprecher, ungeheuer eindrucksvoll gelungen ist, die Atmosphäre, die Zeit einzufangen. Aus der Moderne – sozusagen aus einer bürgerlichen Postmoderne – wird zurückgeblickt auf einen Abend des Bürgertums. Jedenfalls sind das Perzeptionen, die man in Ihrem Buch finden kann. Ich bin nicht so sicher, ob nicht jede Moderne von sich überwältigt ist. Aber wir haben dadurch einen wirklich sehr leibhaften Bürger von der Sohle bis zum messerscharfen Scheitel. Der ist mir auch wirklich aufgefallen, auf jeder Fotografie! Wunderbar. Man muss allerdings dazu die Haare haben – in meinem Fall geht das nicht. (lacht)

Der Blick von aussen hat natürlich auch einige Irritationen erlitten. Die Vorstellung eines Professors in Uniform ist ein wenig exotisch, und für einen Deutschen ganz besonders. Schmid hat selbstverständlich die richtige Uniform getragen. Das ist der Unterschied. Insofern fand ich die Strassenbenennung, mal abgesehen davon, dass Schmid ein sehr bedeutender Germanist war, dann doch wieder erfreulich. Er hört ja auf einen Namen Schmid, der nicht wirklich selten ist. Daraus könnte man doch ableiten: es ist eine Strasse für den unbekannten Citoyen – zumindest auch ein wenig. Also für alle diese anderen Schmids, die nicht unser Karl Schmid sind, sondern die Vereinen vorstehen, in Gremien sitzen, Stiftungsräte sind, die in Stunden über Stunden für das Gemeinwohl arbeiten, die vielleicht auch Uniform tragen und die – sei es im Reduit – über Jahrzehnte ausharren und darüber wachen, dass keine Deutschen und andere Feinde kommen.

Herr Muschg, als Schriftsteller waren Sie Karl Schmids Untersuchungsobjekt, als Germanist und Professor sein Kollege. Was haben Sie zu ihm zu sagen?

Adolf Muschg: In den tief vergangenen Fünfzigerjahren, als ich in Zürich Germanistik studierte, war – nicht nur für mich – das Vorabendprogramm der ETH-Freifächerabteilung obligatorisch. Jean Rudolf von Salis oder Herbert Lüthy sagten mir mehr als ihre Fachgenossen an der Uni. Auch Karl Schmid mehr als Emil Staiger? Hier wurde es heikel: jedenfalls schätzte ich – passend zu diesem ganz anderen Lehrer – sein komplementäres Angebot. Nach Staigers Begriffen war Schmid wohl weniger Germanist als Kulturphilosoph; eben darum war er mir teuer. In seinen Vorlesungen holte ich mir Dispens vom Spitzentanz auf den «Gipfeln der Zeit». An der ETH wurde dem Wind unserer Zeit ein Fenster geöffnet, ohne dass er davon zum Zeitgeist geworden wäre. Er wehte auch nicht, wie er wollte, dafür war der Fensterrahmen zu solide. Der bestand aus gutem Schweizer Holz, aber es war mit bestimmten archetypischen Essenzen behandelt, die weiter her waren, und aus anderen Tiefen geschöpft. Bei Karl Schmid fühlte man sich als Zeitgenosse in Anspruch genommen, und dieser Anspruch hatte eine ganz eigene Weihe. Sie begann mit einem fast lautlosen Auftritt, aber nach drei Sätzen hatte Karl Schmids Stimme zuverlässig die atmosphärische Dichte hergestellt, die für die Wahrnehmung seiner Halb- und Nebentöne unentbehrlich war. Ich, Apostat von Staigers Stilkritik, habe Karl Schmid gerade wegen seines Stils bewundert; und seine Schriften haben bei mir – angefangen bei Titeln wie «Hochmut und Angst» oder «Unbehagen im Kleinstaat» – deutlicher nachgewirkt als mein Fachstudium. Dass der Nachfolger Staigers – Peter von Matt – derselben Meinung ist, hat mich glücklich gemacht. Bei Schmid «fremdete» ich nicht mehr, ich atmete auf. Als Leser von Sprechers vortrefflicher Monographie muss ich allerdings, ein wenig traurig, zur Kenntnis nehmen, was ich damals nicht zu ahnen gewagt hätte: wie sehr für ihn selbst auch sein Bestes immer zweifelhaft blieb und der hinreichenden Legitimation entbehrte.

Das galt für jede Stelle, die er – und jede vorbildlich – bekleidet hat; jede kam seinem selbstkritischen Gewissen als Ausflucht vor, vor einer Existenz, die er nicht nur bekleidet, sondern mit Haut und Haar verkörpert, mit seinem ganz eigenen Leben erfüllt hatte, weil er sicher sein konnte – buchstäblich tod-sicher –, dass es für das Leben einer zivilen Gesellschaft unentbehrlich war. Keine seiner Errungenschaften entsprach diesem selbstgesetzten Mass – trotzdem, oder eben darum, besetzte er jede mit einer Empfindlichkeit, die man – hinterher – zu gern als überflüssig betrachten möchte. Er wirkte so glaubwürdig, dass er sich diesen Kleinglauben hätte sparen dürfen; etwas davon bemerkten wir wohl an seiner Ironie, doch hielten wir sie für souveräner, als sie war. Das Salz seiner unvergleichlichen Rede war bitter, es war – mit Keller zu reden – jener Grundtrauer abgewonnen, deren «Stille» das Kennzeichen ihrer Unheilbarkeit ist.  

Als Leser Sprechers habe ich den Eindruck mitgenommen, dass es nur eine Stelle gab, die er fast restlos glücklich gefüllt hat: die des Soldaten. Doch bei ihrer Charakteristik gerät man gleich ins Stocken: gibt es das, einen Soldaten, dessen Geist vollkommen zivil bleibt, weil er Dienst als Auftrag an der Zivilisation versteht? Der mit Kastengeist nichts am Hut hat, auch wenn dieser mit drei goldenen Nudeln geschmückt ist? Schmid war Oberst im Generalstab und hat die besten Jahre seines Lebens, als junger Ehemann, im Reduit am Gotthard versessen. Es waren dennoch, oder darum, produktive Jahre, denn sie verbanden die Gegensätze, die ihn lebenslang beschäftigten: das Genaue, das ein Artillerieoffizier am Geschütz benötigt, und das Mächtige, das er, wie der Reiter sein Pferd, zugleich fühlen und beherrschen darf, mit dem, wie er es nennt, «teleologischen», soll heissen: dem guten Sinn auch des persönlichen Opfers. Dieser Sinn durfte in den Jahren geistiger Landesverteidigung für Schmid frag-los bleiben. Es war ein Ausnahmezustand des Landes, an dem er auch dann festhielt, wenn ihm dieses Land frag-würdig wurde. Und selbstverständlich hatte jede, auch die radikale Frage für ihn ihre Berechtigung, nur: sie durfte seine Leistung nicht gefährden; das persönliche Opfer, die geistige Disziplin, das soldatische Mass im Angesicht des Todes. Dieses Mass verteidigte er, wie mir auch heute noch scheint, immer wieder ohne Not, etwa gegen einen abtrünnigen Waffen-Bruder, den Kanonier Max Frisch. Doch als Leser seiner Biographie kann ich sehen, welche persönliche Not er mit dieser Landesverteidigung gehabt hat. Wahrlich, ein Soldat und brav; aber einer, dem der alte Wortsinn des Braven, die Tapferkeit, zum Fluch ausgeschlagen ist: an nichts hat er empfindlicher gelitten als am Verdacht der Bravheit im landläufigen Sinn.

Karl Schmid ist für mich ein Muster dessen, was Graf Keyserling vor hundert Jahren «die intime Tragik der Schweiz» genannt hat: jene, die sich, aus Gründen ehrenhafter Scham, als Tragik nicht einmal zeigen darf und will. Dazu eine Fussnote, aber eine bezeichnende: der Schweizer, der unser Deutschschweizer Verhältnis zu den Deutschen und dem Deutschen sein Leben lang als Kerngeschäft behandelte, ist in Deutschland kaum bekannt. Die Namensnähe zu Carl Schmitt und Carlo Schmid steht ihm im Wege, einem voluntaristischen Staatsdenker und einem feingeistig-liberalsozialen Mitbegründer der alten Bundesrepublik. Karl Schmid gleicht keinem von beiden und ackerte doch, quasi haarscharf daneben, auf dem gleichen Feld. Er war der Denker eines Kleinstaates, zu dessen geistiger Begründung eine bestimmte Grösse gehörte. Der Meister im Bestimmen kleiner, doch lebensfähiger und lebenswürdiger Grössen blieb gehemmt in der Verteidigung der eigenen.Die Schweiz, die er meinte, bleibt immer noch und heute erst recht eine patrie à faire. Er hat ihr Stoff erster Güte zugedacht, und im republikanischen Rom hätte man ihn als Pater patriae geehrt; man sieht das karge Lächeln leibhaftig vor sich, mit dem er den Titel von sich gewiesen hätte. Auch dafür verdient er den Dank der Republik, den einzigen, den er hätte gelten lassen: tätigen Dank. Nicht ihm, sich selbst ist die Schweiz Weiterbildung schuldig, unbehagliche, aber anständige.

Herr Bütler, auch Sie sind von Haus aus Historiker. Haben Sie ebenfalls den Weg zur ETH und zu Karl Schmid gefunden?

Hugo Bütler: Nein, ich habe die Vorlesungen von Karl Schmid nicht gehört. Von 1964–1968 studierte ich als Werkstudent an der Universität. Die Zeit reichte zu meinem Bedauern nicht für mehr Fächer, obwohl ich neben der Geschichte durchaus freiwillige Kurse belegt habe. Begegnet bin ich ihm als Journalist – aber nur indirekt. 1971 kam es zu einer grossen Diskussion über Akademikerbedarf, Akademikerüberfluss und Akademikermangel. Eine vom Wissenschaftsrat, den er präsidierte, in Auftrag gegebene Studie von Matthias Jermann, Beat Blankart und Leopold Kohn gab den Anstoss dazu. Diese Studie hat einen Akademikerüberfluss prognostiziert, und zwar in hohem Masse und mit sehr genauen Zahlen. Schmid, so meine Diagnose damals, tat sich schwer im Umgang mit dieser Studie. In den Wissenschafterstellen wurde sie zur Vernehmlassung gegeben mit der Auflage, sie nicht zu publizieren. Natürlich geschah dies trotzdem – und ebenso natürlich immer aus einem Interessengesichtswinkel. Fred Luchsinger, mein damaliger Chef bei der «Neuen Zürcher Zeitung», seinerseits ein verschworener Angehöriger der Aktivdienstgeneration und zu allen Zeiten in unterschiedlichen Ausmassen mit Karl Schmid befreundet, erteilte mir daraufhin den Auftrag, die Stichworte des Akademikerüberflusses gründlich zu analysieren. In einer dreiteiligen Artikelserie – so etwas gab es damals noch – kam ich dann unter anderem zu dem Schluss: Das Klügste wäre gewesen, diese Studie tel quel zu veröffentlichen und zur Diskussion freizugeben und nicht für Winkelschüsse und Winkelspiele halb im dunkeln halten zu wollen. Ich habe zwar nichts von Karl Schmid selbst gehört, dafür von Fred Luchsinger: «Er ist fuchsteufelswild über diese Kritik an der Nichtveröffentlichung!» Luchsinger hat – zumindest hatte ich Anlass, das zu glauben – mich und das, was ich geschrieben habe, verteidigt. Schmid hat mir gegenüber nie ein Wort darüber verloren. Das war also meine interessante Nichtbegegnung mit Karl Schmid. Früher habe ich natürlich dieses und jenes von ihm gelesen, unter anderem auch «Hochmut und Angst» – mit dem ich allerdings Mühe hatte: die psychologisierende Analyse, diese eigentliche Selbstanalyse der Schweiz mit sehr vereinfachten, meiner Meinung nach zu vereinfachenden Bildern über Amerika und über Russland. Damals im Kalten Krieg wurde mit diesen Ausdrücken gearbeitet. Einen Zugang bot Schmid mir dann mit seinem Vortrag «Schweizerisches Selbstverständnis heute» von 1972 im Forum Helveticum. Ich dachte: jetzt hat er den Weg vom Unbehagen im räumlich verstandenen Kleinstaat – das war die Gegebenheit für die, aber auch ein Problem der Aktivdienstgeneration – auf den Horizont Welt hin in einer Weise geöffnet, die absolut wohltuend für mich war. Ich war Teil der Zwischengeneration, die das Aktivdienstdenken vom eigenen wie von anderen Vätern sehr genau kennengelernt hat. Aber ein 68er war ich nicht, weil mein Geschichtslehrer, ein katholisch-konservativer philosophierender Mann, uns 1962 verordnet hat: «Jetzt wird Marx gelesen!» – und zwar ausgiebig. Das habe ich ihm nie vergessen. Dennoch war ich neugierig auf eine neue Weltlage und fand diese Öffnung des Selbstverständnisses, Schmids vermittelnde Betrachtung über die ältere Generation, ihr Denken und die junge Generation, die in die Welt hinausschauen wollte, hervorragend. Das war eine höchst positive Begegnung mit dem Denken Karl Schmids, das ich in seinen späten Jahren und dann bei Gelegenheit, wenn Zeit da war, nachholend durch Lektüre höchst geschätzt habe.

Ich danke Ihnen für diese Statements. Gehen wir nun einen Schritt weiter: Was ist ein Citoyen heute? Herr Muschg, Bürger, Staats-bürger, Staatsdiener, Citoyen: Welcher dieser Begriffe würde aus welchen Gründen für Schmid am besten passen?

Muschg: Ich habe Ihnen Ihre Schwierigkeit, den richtigen Untertitel zu finden, herzlich nachfühlen können. Ich bin auch der Ansicht, dass «Citoyen» sehr gut gemeint ist, aber nicht genau passt. Zum Citoyen gehört eine Verbindung des Staatspolitischen mit dem Naturrechtlichen. Diese Verbindung ist wesentlich. Hinter ihr steckt Rousseau – und bei Schmid steckte natürlich C.G. Jung dahinter, wenn überhaupt. Der Bürger ist so polyvalent, wie Sie ihn geschildert haben, und die Nuance, in der man ihn hierzulande zur Not gerade noch richtig verstehen kann, diese Nuance wird historisch. In diesem Saal, wo auch nicht mehr die Allerjüngsten sitzen – jedenfalls dem Durchschnitt nach –, kann man vielleicht noch ein Verständnis dafür voraussetzen. Aber für einen anderen, gleichzeitigen Kontext beispielsweise stimmt es schon nicht mehr. Wenn Thomas Mann vom Bürger und Bürgerlichen spricht, meint er etwas völlig anderes, allenfalls das in der Freien Reichsstadt Lübeck erzogene Bürgertum, das in einem ganz anderen Umfeld wurzelt als das schweizerische. Es gibt kein Wort dafür, wirklich nicht. Ich wüsste nicht welches und möchte eigentlich fragen, ob jemandem in der Runde ein besserer Titel einfiele. Das Französische am Citoyen war ja übrigens gefühlsmässig auch nicht seine Atmosphäre. Ich habe ihn nie über ein französisches Buch, ausser ein französisch-schweizerisches, reden hören.

Das Wort ist an die Historiker gerichtet. Gibt es Ergänzungen aus Ihrer Sicht?

Roeck: Ich kann mir vorstellen, dass der Begriff für Schweizer Ohren schon etwas plausibler klingt als für deutsche. Aber es gestaltet sich in der Tat sehr schwierig: «Bürger» trifft es nicht völlig und das Wort «Bildungsbürger» hat auch einen ähnlich seltsamen Beigeschmack wie «Bourgeois». Das alles passt also nicht, was aber eigentlich nur zeigt, wie sehr sich die Figur des Bürgers, wie auch immer sie literarisch stilisiert wird, in der historischen Wirklichkeit verflüchtigt. Man könnte sagen: das ist einer, der aufsteigen kann und Angst davor hat abzusteigen. Ein solches Verhalten mag bürgerlich sein, das sagt aber noch nicht viel. Was schon eher passt, ist ein Begriff aus der Soziologie: «Habitus». Pierre Bourdieu spricht von diesem nicht nur rational inszenierten, sondern auch unbewusst gepflegten Stil, angefangen beim Scheitel à la Schmid bis zu der Gewohnheit, Zigarren zu rauchen, guten Wein zu trinken, aber eben auch der Art, sich zu bilden, das Erfahrene weiterzugeben und sich staatsbürgerlich zu engagieren. Das Wort zu finden bleibt jedoch schwierig.

Bütler: Ich möchte dafür plädieren, den Begriff «Citoyen» nicht leichtfertig aufzugeben. Natürlich hat das Französische eine Rolle gespielt. Es ist ja nicht so, dass er keinen Blick warf auf unsere westlichen Nachbarn. Schmid zitiert in Französisch gerne Paul Valéry und andere. Der Ausdruck Citoyen ist aber, so denke ich, nicht erschöpfend, weil das Freiwillige, das Engagement des Bürgers in konkreten Dingen und Aufgaben fehlt. Der Verfasser der Biographie hat in seiner Einleitung zu der sechsbändigen Ausgabe, die ja zunächst der Hauptzweck der Stiftung war, in diesem Zusammenhang den Begriff «Milizionär» gebraucht. (lacht) Das ist ein bei Schmid durchaus interessanter Begriff. Der politische Bürger bildet das Wesentliche, in das der Miliz-Begriff irgendwo rein muss. Aber man kann in einem Untertitel auch nicht von einem Schweizer Miliz-Bürger sprechen, daher dies nur als Denkübung. Persönlich habe ich immer danach gesucht, wie sehr die Weltbürgerlichkeit denn bei Schmid eine Rolle spielt. Er war lange, gezwungen durch die zeitgeschichtlichen Umstände, zu sehr in der schweizerischen Grundsituation verankert, als dass er sich wie ein Weltbürger hätte entfalten können oder wollen. Die Ansätze des Weltbürgertums sind vorhanden, aber ausgefaltet hat er es selten, sein Denkraum blieb auf Europa bezogen. Was Schmid unter dem Begriff «Amerika und Russland» versammelt hat, war mir zu undifferenziert und hat mir nicht hingereicht in der Auseinandersetzung zum Beispiel in «Hochmut und Angst». Es ging ja im Kalten Krieg nicht eigentlich um Russland, sondern um die UdSSR, was nicht dasselbe war, wie sich bald danach gezeigt hat. Und da frage ich mich nun, ob man diesen Begriff «Weltbürger», der ein Stück weit mitschwingt im Citoyen, für Schmid zu Recht gebrauchen kann.

Roeck: Dieser Begriff stammt ja auch aus einem Kleinstaat, nämlich der griechischen Polis. 

Muschg: Den Fund «Milizionär» finde ich unglaublich gut. Es schleckt ja keine Geiss weg, dass Miliz von militia kommt und mit Heer und Dienst zu tun hat. Und diese Komponente ist unvereinbar mit dem Citoyen. Der Milizionär ist auf einem anderen Planeten angesiedelt. Im Grunde hat Schmid das sacrificium intellectus für den Dienst erbracht, ein Leben lang. Nicht im Kopf, aber de facto. Und das liegt für mich im Wort «Milizionär», und da es auch halb humoristisch ist, würde es zu ihm passen.Wenn wir nun von Polis und Politik sprechen, kommen wir unweigerlich zum «Kleinstaat». Deshalb will ich noch etwas zu Georg Kohler und seiner in meinen Augen vollkommen berechtigten und begründeten Zurückweisung des Kleinstaatsbegriffs als Schema, als Verständnisschablone für die Einschätzung von Schmids Werk sagen. Selbst wenn er diese Schablone gebraucht hat, hat er oft sehr anders gehandelt. Ich erinnere daran, dass es von Karl Schmid ein europapolitisches Buch gibt. Es ist so gut wie untergegangen und ist auch bei Ihnen, Herr Sprecher, in der Biographie nicht allzu wichtig. Es handelt sich dabei um das Buch über die europäische Integration und die Rolle der Schweiz darin. Ich hatte damals die Ehre und auch den inneren Drang, es für «Die Zeit» zu besprechen, weil ich dankbar war, dass aus diesem Land wieder einmal ein ideeller Anstoss zur europäischen Einigung, ein distanzierter zwar, ein kritischer, aber ein affirmativer, kam. Zu dem, was ich damals in einem Keyserling-Zitat «die intime Tragik der Schweiz» genannt habe, gehört für mich persönlich, dass die Anstösse zu Europa, die aus der Schweiz kommen, von den Europäern, namentlich von den Deutschen, nicht aufgenommen werden. Einer der wichtigsten Europa-Denker ist Denis de Rougemont, ein Neuenburger, mit seinem Konzept «Europe des régions». Er spielt geistig keine Rolle im EU-Diskurs. Dasselbe gilt für Karl Schmid – und das kränkt mich immer wieder. Denn der Grund dafür liegt nicht bei Schmid und liegt auch nicht bei der EU, sondern er liegt in einem Schweizer Selbstverständnis, das Beiträge dieser Art als leicht «gênant» behandelt, sie sich entweder nicht zutraut oder überflüssig findet oder sich aktiv daran stösst – sie jedenfalls ignoriert. Schmid ist wirklich nicht dafür verantwortlich zu machen, dass es diesen Dialog nicht gibt, denn er hat Anstösse dafür geliefert. Was Subsidiarität und viele andere Dinge angeht, die er in diesem Buch ausführlich entwickelt und gegen den von ihm befürchteten Bürokratenstaat Brüssel empfiehlt, so sind die heute genauso gültig oder gültiger als je, aber in den Köpfen finden sie nicht statt. Nicht in der Schweiz. Nicht in Europa. Und da gilt es – auch nach der Auflösung der Stiftung – für Schmids Andenken zu wirken. 

Karl Schmid war selber kein Politiker, er sass in der Primarschulpflege Bassersdorf, und bereits das war seinem Verständnis nach zu viel des Politischen. Er fühlte sich darin genauso unwohl wie als Präsident des Wissenschaftsrats. Frau Weber, wie sehen Sie den Staatsdienst im Rahmen der Politik und ausserhalb? Sie kennen beide Sphären. Welche Unterschiede gibt es zwischen ihnen?

Weber: Zuerst einmal würde ich nicht von Staatsdienst sprechen, weil das heute ein bisschen seltsam klingt. Wir alle hier verstehen, was Citoyen heisst. Es bedeutet ins Deutsche übersetzt wohl «aktiver Staatsbürger», zumindest meinen wir in ungefähr das damit. Ich habe meinen 25jährigen Patensohn gefragt, ob er mir sagen könne, was er unter einem Citoyen verstehe. Zurückgeschickt hat er mir eine Google-Abhandlung. Man sieht: die jungen Leute haben keinen Zugang zu dem, was unter einem Citoyen zu verstehen ist, wir aber tun dies noch. Karl Schmid drückte es so aus: «Die Anstrengung der Sorge für das Ganze auf sich nehmen.» – Ja! Derjenige ist ein aktiver Staatsbürger oder eine aktive Staatsbürgerin, der nicht nur seine eigenen Interessen sieht, sondern eben das Allgemeininteresse und das Gemeinwohl ins Auge fasst und der sich freiwillig dafür einsetzt. Das beginnt mit dem Abstimmen – das muss man heute erwähnen –, mit dem Interesse an der Politik und der Demokratie, mit dem Militärdienst – immer noch, darauf möchte ich hinweisen –, mit dem Zivildienst, mit der Kommissionstätigkeit, mit dem Parlament, mit dem öffentlichen Dienst, als Experte, aber auch in der Nachbarschaftshilfe, als Samariter, in Vereinen, in Hilfswerken usw. Kurz, ein aktiver Staatsbürger ist einer, der nicht sagt: «Ich will keine Steuern bezahlen, ich will den Staat aushungern lassen», sondern der weiss: «Es braucht mein Engagement in irgendeiner Form für die Allgemeinheit und für das Gemeinwohl.» Von solchen aktiven Staatsbürgern zu sprechen, sie zu haben und heranzuziehen, ist auch heute notwendig; es müssen weiterhin Menschen herangezogen werden, die nicht nur das Minimum machen, sondern die über das Minimum hinaus einen freiwilligen Dienst leisten – Dienst im Sinne eines Engagements. Wenn Sie vorher von uns gesprochen haben, die wir alle nicht mehr 40 oder 50 sind, möchte ich anfügen: dann müssen wir die Vorbilder sein. Die Demokratie trägt sich nur dann, wenn im Staat eine Freiwilligkeit da ist.

Roeck: Ich finde Ihr Plädoyer sehr schön, aber es wäre sicher auch möglich zu sagen: Wir schauen jetzt im Abendlicht auf ein untergehendes und allmählich in allen möglichen anderen Gruppen verschwindendes Bürgertum. Dafür gibt es mehr als ein Indiz. Ein ganz wesentliches Kriterium dieser Mittelschicht war ursprünglich die Abkömmlichkeit. Das heisst: die finanzielle Möglichkeit, die ökonomische Situation, die es einem erlaubt, diverse Ehrenverpflichtungen zu erfüllen, z.B. in Parlamenten zu wirken. Deswegen waren die Parlamente auch sehr bürgerlich und dezidiert bürgerlich dominiert. Diese Abkömmlichkeit ist entweder nicht mehr so verbreitet, oder es ist auch nicht mehr der Wille da, die Zeit zu opfern. Beides mag sein. Auf jeden Fall ist es ein Indiz für den Verlust dieser Bürgerlichkeit, dass zum Beispiel Parlamentariertätigkeit bezahlt, und zwar zum Teil gut bezahlt wird, wenn man beispielsweise nach Italien schaut. Wenn also ganz grossen Teilen der Bevölkerung entweder die Zeit oder der finanzielle Anreiz für das Engagement fehlt, scheint es mir zu einfach, zu sagen: «Wir müssen uns einsetzen, wir müssen dies und jenes tun!» Die Dinge haben sich seit den Tagen von Schmid wirklich gewandelt; er hatte, wie man der Biographie entnehmen kann, sehr viel zu tun, aber eben doch genug Zeit, auch neben seinem Hauptberuf Aktivitäten zu entfalten. So etwas findet sich heute nur noch in einigen wenigen Nischenberufen. Ein Professor könnte vielleicht gerade noch nebenher Politiker werden, wenn er nicht gerade an einer grossen Universität wie Zürich tätig ist. (lacht)

Karl Schmid sah in den Professoren, mindestens jenen der Freifächerabteilung, tatsächlich eine Art Reservoir für den Staatsdienst. Ich wollte Ihnen eigentlich die Frage stellen, ob der Bund vermehrt auf dieses Reservoir greifen sollte – verzichte jetzt aber aus Pietätsgründen darauf. 

Roeck: Seit dem Bologna-Programm ist es mit solchen Möglichkeiten weitgehend vorbei. (lacht)

Frau Weber, möchten Sie stattdessen darauf antworten?

Weber: Wenn ich von der Demokratie spreche, dann bin ich überzeugt davon, dass sie angewiesen ist auf Freiwilligkeit und auf eine gewisse Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern oder Einwohnerinnen und Einwohnern, die diese Haltung einnehmen. Natürlich haben Sie recht. Wer heute eine Karriere machen will, darf sich nur auf den Job konzentrieren. Früher hat man vom «sozialen Kapital» gesprochen, heute könnte man sagen, dass auch die Firmen eine gewisse Verantwortung für die Allgemeinheit übernehmen sollten. Es könnte sich durchaus lohnen, den Firmenchefs verständlich zu machen, dass Mitarbeiter, die eine Haltung für die Freiheit einnehmen und sich für das Gemeinwohl engagieren, auch für ein Unternehmen ein Mehrwert sind. 

Herr Muschg, ich möchte ein Thema ansprechen, das wir bisher nicht berührt haben. Wir haben gehört, dass es 1974 zu einem Zusammenprall zwischen Max Frisch und Karl Schmid kam, und Sie, Herr Muschg, waren mittendrin. Grob zusammengefasst warf Schmid Frisch und anderen Schriftstellern vor, sie seien nicht recht legitimiert, den Staat zu kritisieren, weil sie selbst keinen Staatsdienst geleistet hätten und «aus der nationalen Gemeinschaft ausgeschert» seien. Worin besteht in Ihren Augen der Staatsdienst der Schriftsteller? Gibt es einen solchen überhaupt? Und inwiefern sind die Schriftsteller in ihrem Tun an die «nationale Gemeinschaft» gebunden?

Muschg: Ich glaube, als erstes muss man dazu sagen, dass der Begriff «nationale Gemeinschaft» nur als Desiderat verstanden werden kann, nicht als Fundus, auf den man zurückgreifen kann und muss. Den Schriftstellern warf er also vor, sich an diesem Desiderat nicht mehr zu beteiligen. Aus persönlicher Sicht kann ich sagen, dass Karl Schmid einer der wenigen akademischen Lehrer in meinem Leben war, bei denen ich mich genau dazu angestiftet fühlte. Wenn er Schriftsteller vorstellte, damals von mir verehrte, junge Leute, die ernsthaft zu schreiben begonnen hatten, dann rühmte er an ihnen genau jene Eigenschaften, die er im von Ihnen erwähnten Kontext als fehlend anmahnte. Zur Angelegenheit mit Frisch hat Peter von Matt bereits das Nötigste gesagt. Es gab eine Grundrivalität um die Themenhoheit in diesem Gebiet. Er hatte sie sich verdient – und zwar durch sein Opfer. Frisch hatte sie in seinen Augen nicht verdient. Umgekehrt sah es so aus, dass Schmid auf Frisch eigentlich nicht geantwortet hat – ausser mit Empfindlichkeiten. Das war sein Weg, die Diskussion zu vermeiden, die Frisch angezettelt hatte, indem er den Finger auf diese und jene Geschäfte der Schweiz gelegt und sich damit geweigert hatte, dem Land jenen Persilschein auszustellen, den Schmid gewissermassen einforderte. Genau die Schweiz, die heute ins internationale Gedränge geraten ist, hat Frisch in den 1970er Jahren bereits bei Schmid angemahnt, als er sich gegen die idealisierte Verkürzung der Schweiz aussprach. Auf diese Art des Diskurses wollte sich Frisch nicht einlassen, weil ihm zu viel daran fehlte. Nämlich genau das, was dann etwa in der Bergier-Kommission zur Sprache kommen musste.

Werfen wir am Ende einen Blick auf unsere Diskussion: Herr Roeck, wie beurteilen Sie aus Ihrer Aussenperspektive unser Gespräch? Würde eine Diskussion über Bürgerqualitäten in Deutschland ähnlich geführt oder zeigt sich hier eine stark nationale Komponente?

Roeck: Ich glaube, ganz so würde es in Deutschland nicht ablaufen, auch nicht in Süddeutschland. Ich bin ja nun seit fast 13 Jahren hier und dabei, einen Pass zu beantragen, den ich hoffentlich auch kriege. Aber man hat hier in der Schweiz doch oft das Gefühl, in einem Staat zu sein, der seine Geschichte ganz gut hingekriegt hat. Das ist mit der deutschen Geschichte absolut nicht zu vergleichen, ich muss mich für meine Geschichte ja beinahe entschuldigen und kann als deutscher Historiker vieles nicht sagen, was ich als Schweizer Historiker sagen könnte. Wir haben eine völlig andere Art, mit unserer Geschichte umzugehen. Wir müssen das auch. Ich finde es gut, dass man die Dinge, die Frisch damals angesprochen hat, heute diskutiert, auch wenn es unangenehm ist. Es sind aber doch im Vergleich zu den Diskussionen, die in unserem Land geführt werden müssen, vollkommen kleine Dinge.

Muschg: Hüten Sie sich, lieber Herr Kollege, vor Schuldstolz! (lacht)

Lassen Sie mich die Diskussion mit zwei Brecht-Zitaten schliessen: «Das Denken gehört zu den grössten Vergnügungen der menschlichen Rasse.» Ich füge an: Karl Schmid kann Ihnen dabei helfen. Das zweite Brecht-Zitat lautet: «Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.» Und so will ich für Karl Schmid hoffen, dass er noch lange nicht tot sein wird. Damit danke ich Ihnen für die Teilnahme an dieser Diskussion. 

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!