Was ist der Westen?
Philippe Nemo, Professor an der Ecole Supérieure de Commerce de Paris, und Verfasser unter anderem einer zweibändigen «Histoire des idées politiques» (1998 – 2002), zeigt in seinem neuesten Buch, dass das, was wir den Westen nennen, trotz aller Vielfalt aufgrund der Geschichte zu einer kulturellen Einheit geworden ist: die abendländische Zivilisation.
«Zumindest haben die beiden immensen Traumata des faschistischen und des kommunistischen Totalitarismus im zwanzigsten Jahrhundert dem Westen geholfen, sich der grundlegenden Werte bewusst zu werden, die ihn als Zivilisation ausmachen. Der Nationalismus – eine jüngere, erst in der Moderne zu verzeichnende Erscheinung – hatte Europa tief zerschnitten, was zu den schier unaufhörlichen europäischen Kriegen zwischen dem sechzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert führte. Doch dem «europäischen Bürgerkrieg» von 1914 bis 1945 kam das Verdienst zu, das «Fass zum Überlaufen zu bringen». Gerade durch das bis dahin nie dagewesene Ausmass und die absolute Absurdität der Gewaltsamkeiten bewies diese Zeit der Feindseligkeiten, dass allein die Westeuropa eigenen Ideale der liberalen Demokratie im Stande waren, die Zivilisation und einen angemessenen Lebensstandard aufrecht zu erhalten – und somit jene Ziele zu erreichen, die angeblich auch der Nationalismus verfolgt hatte. Der Kampf der beiden «Blöcke» hat immerhin lange genug gedauert, dass die Überlegenheit der Marktwirtschaft über den real existierenden Sozialismus nunmehr einwandfrei erwiesen ist. Und so haben sich allmählich die nationalen Grenzen und die Klassengrenzen aufgelöst, die den Menschen des Westens lange nicht erlaubten, die tiefe Ähnlichkeit ihrer Werte und Institutionen wahrzunehmen. Bis zum zwanzigsten Jahrhundert blieb die objektive historische Tatsache einer abendländisch-westlichen Identität weitestgehend ignoriert oder bestritten. Die Krisen des zwanzigsten Jahrhunderts dann aber haben den Menschen die Augen geöffnet und es ermöglicht, dass die Identität des Westens an sich zu einer Identität für sich wurde. Indem es ihnen misslang, die Zivilisation zu zerstören, haben Shoah und Gulag den Menschen des Westens den Preis dieser Zivilisation zu erkennen gegeben. Vielleicht sind es daher am Ende gerade sie, denen der Westen das Licht der Welt verdankt.
Die ideologische Lage scheint heute ein wenig aufgeklärter. Von dumpfen Minderheiten werden totalitäre Entwürfe zwar auch heute noch vertreten. Doch die demokratischen und liberalen Lehren – präzisiert durch das Werk grosser Sozialphilosophen der post-totalitären Ära wie Karl Popper, Michael Polanyi, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek, Hannah Arendt, Bruno Leoni und Walter Eucken – sind mittlerweile zu einer Reife gelangt, die sie nunmehr auch für viele Politiker, für Wirtschaftsführer und grosse Teile der Öffentlichkeit verständlich macht. In seinem berühmten Werk über das «Ende der Geschichte» ist der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sicherlich in übermässigen Optimismus verfallen, als er davon ausging, nach dem Fall der Berliner Mauer würde das Modell der freiheitlichen Demokratie von allen Ländern der Erde praktisch übernommen. Aber er hatte nicht unrecht mit der Behauptung, dass es vorläufig keinerlei ernsthafte Alternative dazu gab.»
zitiert aus Philippe Nemo, «Was ist der Westen? Die Genese der abendländischen Zivilisation», herausgegeben vom Walter Eucken Institut, Tübingen: Verlag Mohr und Siebeck, 2005, S. 92 f.