Was heisst denn hier Freiheit?
Eine Antwort aus dem Stegreif von Yves Kugelmann Mit einem Anstoss von George Orwell:
«Wenn Freiheit überhaupt irgend etwas bedeutet, dann das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.»
(Zitiert aus «The Freedom of the Press», in «The Times Literary Supplement», 15. September 1972.)
«Das Zitat von Orwell hat mit unserem daily business viel zu tun. Dass die Leute nicht immer hören wollen, was wir schreiben, gehört zur Mediengesellschaft. Und das ist gut so. Medien brauchen diese Reibung.
Eine Konsequenz: wir wurden in den letzten Jahren oft eingeklagt oder vor Schiedsgerichte gezerrt. Etwa vom Jüdischen Weltkongress ab 2003. Es ging damals um den Generalsekretär Israel Singer, den wir im Wochenmagazin «Tachles» als wenig integren Funktionär entlarvt hatten. Die grossen Schweizer Verlage reagierten auf die Klagen mit aussergerichtlichen Vergleichen und stoppten die Berichterstattung. Doch unser damaliger Verleger sagte: Wir lassen uns den Mund nicht verbieten. Es folgten heftige Jahre, aber so musste es sein. Entscheidend war, dass der Verleger bereit war, hohe Kosten für Prozesse und Anwälte aufzubringen. So konnten wir die Recherche weiterziehen. Singer wurde schliesslich vom New Yorker Staatsanwalt und seinem ehemaligen Chef verklagt.
Gerade jüdische Funktionäre bezeichneten uns damals als Nestbeschmutzer. Sie machten jenen Fehler, gegen den sie täglich ankämpfen: Singer sollte nicht die gleiche juristische Untersuchung erfahren wie ein nichtjüdischer Funktionär. Für uns aber gilt, ob jemand Gesetze bricht oder nicht. Man kann nicht religiöse, ethnische oder kulturelle Vorzeichen zum Massstab der Berichterstattung machen. Deshalb schrieben wir etwa auch gegen die Ausschaffungsinitiative. Nicht aus parteipolitischen oder ideologischen Gründen, sondern weil sie eine ethnische Unterscheidung macht, vor der der Rechtsstaat schützen sollte. Schliesslich geht es um die Grundrechte, um die Freiheiten und Pflichten, die für alle gelten.
Bei uns ist der Journalist an der Front ausschlaggebend, er muss die Freiheit haben, so zu schreiben und recherchieren, wie es ihm richtig erscheint, ohne parteipolitische oder redaktionspolitische Doktrin. Das letzte Wort hat in der Regel er und nicht die Redaktionshierarchie.
Es stimmt, es ist ein schwieriger Spagat, einerseits das zu schreiben, was niemand hören will, und anderseits darauf angewiesen zu sein, die Zeitschrift zu verkaufen. Aber letzteres ist nicht die entscheidende Wegleitung für uns. Thema und Recherche müssen stimmen, die Quote ist nicht gleich massgebend. Gerade in der liberalen Berichterstattung über den Nahostkonflikt bringen wir viele Artikel, die auf linker oder rechter Seite niemand hören und lesen will. Ein Medienprodukt braucht dieses Profil, nur dann funktioniert es auf Dauer und nur dann verkauft es sich.
Die Meinungen in «Tachles» sind oft kontradiktorisch. Das liegt sicher auch in der jüdischen Tradition. Wir sind eine heterogene, dialektische und oft paradoxe Gemeinschaft. Daher stammt auch der Ausspruch: die jüdische Antwort ist die Gegenfrage. Man kann es auch so sagen: Judentum ist eigentlich nichts anderes als eine Art Existentialismus, der nach Freiheit strebt. Dabei geht es meiner Generation auch um die Befreiung aus der Selbstghettoisierung, um die Befreiung aus der Holocaustthematik. Nicht um zu vergessen oder zu relativieren. Keinesfalls. Doch man kann nicht ständig Gefangener von Herrn Hitler bleiben.
Die Grundlage des Orwellschen Zitats ist auch die Grundlage unserer Werte: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die vor allem auch Freiheitsrechte sind. Die Erklärung hat jeder bei uns über seinem Arbeitstisch hängen. Durch sie legitimiert sich unsere journalistische Arbeit, durch sie wird die Grenze unserer Freiheit definiert. Und nicht durch die Rücksicht auf das, was andere nicht hören wollen.»