Was heisst denn hier Freiheit?
Eine Antwort aus dem Stegreif von Rolf Dobelli Mit einem Anstoss, zugeschrieben Paul Hindemith:
«Es ist ein Zeichen geistiger Freiheit, einen Bestseller nicht gelesen zu haben.»
«Die Aussage des Zitats würde ich gerne auf den Medienkonsum ausweiten. Unser Hirn ist so stark auf Storys, auf alle Arten von Geschichten fixiert, dass uns dadurch die Freiheit genommen wird, selbständig nachzudenken. Wer keine Bestseller liest und keine News konsumiert, die ja auch nur eine Art von Bestseller sind, da sie von Zehntausenden gelesen werden, der denkt anders. Freier. Besser. Gründlicher. Der kommt eher zu den richtigen Schlüssen. Warum das so ist? Ich erzähle ein Beispiel. Wenn Sie irgendwo hinkommen und alle stehen da und starren hoch in den Himmel. Dann starren auch Sie hoch, weil Sie denken, da gebe es etwas zu sehen. Das ist Massenverhalten, das ist genauso ein Automatismus, wie einen Bestseller zu kaufen oder die News zu lesen. Man denkt nicht mehr frei, wenn man das macht, was alle machen. Der Fachbegriff heisst übrigens social proof.
Wann wird Journalismus gefährlich? Dort, wo er das Risiko verzerrt. Wir hören etwa viel zu viel über Terrorismus. Und viel zu wenig über Insulinsensibilität oder chronischen Stress. Und doch sind diese für viel mehr Krankheiten und Todesfälle verantwortlich als der Terrorismus. Zumindest in unseren Breitengraden. Aber sie produzieren halt keine Schlagzeilen und keine tollen Bilder. Unter dem Einfluss des Medienkonsums laufen wir alle mit einer falschen Risikokarte im Kopf umher. Erst wenn Sie den Medienkonsum einschränken, passt sich Ihre Risikokarte wieder der Wirklichkeit an.
Ich habe den Versuch gemacht, ein Jahr lang keine Medien mehr zu konsumieren – keine Zeitung, keine Zeitschriften, kein Radio, kein Fernsehen. Nichts. Bücher schon, aber keine Bestseller. Es war hart. Versuchen Sie das mal. Sie werden es kaum länger als eine Woche schaffen, das können Sie mir glauben. Denn wir sind süchtig nach diesen Newsfetzen. Es ist fast unmöglich, ohne sie auszukommen. Wenn ich etwa im Flieger sitze und jemand vor mir liest die Zeitung, dann kostet es sehr viel Selbstdisziplin, da nicht reinzublinzeln. Nassim Taleb, ein Freund von mir, hat damit begonnen, keine Medien mehr zu konsumieren, und auch mich dazu angeregt. Wir sind zwar erst wenig zahlreich, aber immerhin gibt es die Bewegung der Medien-Null-Diät schon weltweit.
Bücher jedoch sind für mich sehr wichtig. Die Autoren haben meist sehr lange an ihnen gearbeitet, viel Wissen zusammengetragen. In Büchern findet sich oft viel brainpower, viel hochwertiger Stoff, sodass es sich lohnt, sie zu lesen. Hier, und nicht in den Medien, hole ich mir den Hintergrund.
Bei den Zeitschriften übrigens gibt es zwei Ausnahmen. Ich lese regelmässig die beiden Wissenschaftsmagazine «Science» und «Nature». Zwar verstehe ich die längeren Beiträge oft nicht; denn ich bin ja kein Naturwissenschafter. Doch gerade deswegen lese ich sie. Ich will ja mehr wissen und mein Spektrum erweitern, indem ich mich in die mir ursprünglich fremden naturwissenschaftlichen Fragestellungen eindenke. Denn je besser Sie sich in verschiedenen Denkräumen bewegen können, desto besser können Sie eine bestimmte Denkart auf ein ihr eigentlich fachfremdes Problem anwenden. Das hat mir schon oft geholfen. Im Privaten wie im Geschäftlichen. So bin ich viel freier, als wenn ich durch das Alltägliche eingeschränkt werde, durch all die banalen Geschichten, mit denen die Medien uns überfluten.
Die entscheidende Frage ist: Haben Sie jemals eine bessere Entscheidung getroffen, weil Sie die Medien verfolgen? News sind gut fürs entertainment, für smalltalk und gossip. Aber ich treffe dank ihnen keine besseren Entscheidungen, weder beruflich noch privat. Doch ich muss zugeben: im Moment bin ich nicht mehr dabei. Das iPhone macht es viel zu leicht, jederzeit die News zu konsumieren.»
aufgezeichnet von Suzann-Viola Renninger
Rolf Dobelli, geboren 1966, ist Schriftsteller und Mitgründer von getAbstract.