Was heisst denn hier Freiheit?
Eine Antwort aus dem Stegreif von Werner Kieser «Frisch, fromm, fröhlich, frei.»
(Friedrich Ludwig Jahn*)
Frisch, fromm, fröhlich, frei so zusammengestellt ergeben die vier Adjektive einen Widerspruch. Fromm und frei schliessen sich aus. Fromm bedeutet die Unterwerfung unter ein autoritäres Glaubenssystem, also den Verlust der Freiheit. Schon immer. Nicht nur damals, am Anfang des 19. Jahrhunderts, als Jahn seine Deutsche Turnkunst schrieb. Fromm und fröhlich hingegen widersprechen sich nicht. Denn wer fromm ist, der ist die Last der Verantwortung los, der hat sie an den Glauben, an etwas Höheres delegiert. Und kann daher auch fröhlich sein.
Frisch ist eigentlich ein harmloses Wort. Recht überlegt, hängt es ebenfalls vom Frommsein ab. Denn wer im Glauben fest ist, der hat nicht nur eine Erklärungsformel, die er vielfältig einsetzen kann. Sondern er ist auch so entlastet, dass er frisch ans Werk gehen und seinen irdischen Bedürfnissen folgen kann. So gesehen bilden frisch, fromm, fröhlich eine Einheit und einen Gegensatz zu frei.
Dieser Widerspruch bei Jahn hat mich immer gestört, denn fachlich gesehen war Jahn sehr gut. Er hat vieles vorweggenommen, was die Trainingswissenschaft später bestätigt hat. So hat er etwa das Negativtraining erfunden, eine Erkenntnis, die wir heutzutage in der Trainingspraxis nutzen. Leute, die keine Klimmzüge schaffen, steigen auf einer Treppe hoch und lassen sich dann langsam aus eigener Kraft wieder herunter. Sie sind stärker in der Extension als in der Kontraktion. Viele dieser Hinweise habe ich in seiner «Deutschen Turnkunst» geschätzt, die ich genau studiert habe. Nur eben nicht seine Frömmelei und dass er viele seiner Thesen religiös untermauert hat, wo das gar nicht nötig war. Die Turnerei war ja im Grunde genommen eine liberale Bewegung und dennoch wurde der liebe Gott bemüht.
Freiheit ist aus meiner Sicht ein Alles-oder-Nichts-Begriff. Freiheit gibt es ganz, oder gar nicht. Ich schätze die Schriften des russischen Philosophen Isaiah Berlin, der die positive von der negativen Freiheit unterschieden hat. Mich interessiert nur die negative Freiheit, die Absenz jeglicher Art von Zwang. Was will ich mit der positiven Freiheit, der Freiheit zu etwas? Ein positiver Freiheitsbegriff ist immer ein operativer Herrschaftsbegriff. So war man in den kommunistischen Diktaturen etwa frei, ein Kommunist zu sein. Aber man war nicht frei, keiner zu sein.
Kieser-Training ist freiwillig. Der Zerfall des Körpers mit dem Alter ist unaufhaltsam, ab 25 geht es nur noch bergab, die Muskelkraft wird kontinuierlich weniger. Dass man dem Prozess dennoch nicht ohnmächtig ausgeliefert ist, weiss man erst seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Denn mit Krafttraining kann man den Zerfall aufhalten. Krafttraining ist Einsicht in die Notwendigkeit. Und das ist kein Zwang, sondern Freiheit. Wenn ich erkenne, dass etwas sinnvoll für mein Weiterleben oder meine Reproduktion im Sinne Darwins ist, dann mache ich es eben.
Sicher, man könnte jetzt sagen, dass auch das Kieser-Training auf Glauben beruhe. Wenn das wirklich so wäre, dann wäre ich ein Guru. Aber das bin ich nicht. Denn ich begründe und belege meine Trainingsprinzipien. Wir haben eine eigene Forschungsabteilung, ich arbeite mit der Wissenschaft, nicht mit Gott. Die Datenbank mit all unseren Forschungsergebnissen ist inzwischen sehr gross, und ich behaupte nur das, wofür ich auch eine empirische Evidenz habe. Bei Turnvater Jahn war das noch anders.
Freiheit kriegt man nicht geschenkt, man muss sie sich nehmen. Und dazu gehört auch, dass man turnt. Vielleicht ist es auch das, was der Turnvater Jahn sagen wollte.»
aufgezeichnet von Suzann-Viola Renninger
* Der Turnerwahlspruch geht auf die Formulierung von F. L. Jahn «Frisch, frey, fröhlich und fromm – ist des Turnes Reichthum» aus der «Deutschen Turn-kunst» von 1816 zurück.
Werner Kieser, geboren 1940 in Zürich, ist Erfinder des Kieser-Trainings und Gründer der gleichnamigen Franchise-Kette.