Was der Westen von China lernen kann
Während westliche Gesellschaften den Stillstand zelebrieren, entwickelt China sich rasant. Die Leistungen im Land der aufgehenden Sonne führen uns auch unsere Versäumnisse vor Augen. Eine Replik
auf die Beiträge des SMH-Sonderthemas «Wege des Ostens».*
Die chinesische Wirtschaft meistert bislang die Weltwirtschaftskrise erstaunlich gut. Auch wenn Bedenken gegenüber den offiziellen Daten angebracht sind – es ist davon auszugehen, dass das chinesische Bruttoinlandprodukt (BIP) im laufenden Jahr mit sieben Prozent wächst. Dies, obwohl China früh von der Krise erfasst wurde und als relativ offene Volkswirtschaft besonders verletzlich ist.
Trotz den Erfolgen nehmen westliche Beobachter China sehr unterschiedlich wahr. Unternehmer sind zumeist fasziniert von der erfolgreichen Wirtschaftsentwicklung. Ihre Zuversicht beruht einerseits auf den langfristig grossen Wachstumsmöglichkeiten des chinesischen Markts und anderseits auf dem häufig dynamischen Verhalten regionaler Regierungsstellen, die Investoren gewinnen wollen. Demgegenüber gibt es im Westen auch eine weitverbreitete Skepsis. Angesichts der noch nicht abgeschlossenen Transformation der Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft ist vieles unvollständig liberalisiert und von starkem Staatseinfluss geprägt. So ist der Kapitalmarkt weitgehend staatlich gelenkt, die Durchsetzung des Schutzes geistigen Eigentums ist unvollständig, und Menschenrechte werden nach wie vor mit Füssen getreten.
In dieser Skepsis schwingt womöglich auch eine Portion Überheblichkeit mit. Diese Sicht verkennt jedenfalls, welche Fortschritte China in den letzten 30 Jahren erzielt hat. Aus dem grössten Armenhaus der Welt ist ein Schwellenland geworden, dessen reales Pro-Kopf-Einkommen um das Sechsfache gestiegen ist und in dem der Anteil der ärmsten Bevölkerung von 80 auf 10 Prozent gesunken ist. In China sind seit 1978 370 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden – immerhin das Zweieinhalbfache aller Arbeitsplätze in den USA.
Die chinesische Elite ist sich der Tatsache bewusst, dass der Aufholprozess noch lange nicht abgeschlossen ist. Deshalb studiert China die Erfahrungen des Westens sehr detailliert. Der Gedanke hingegen, wir im Westen könnten von China etwas lernen, ist bei uns kaum verbreitet. Dabei laufen wir Gefahr, den Fehler Chinas zu wiederholen, das sich lange Zeit nicht vorstellen konnte, von den rückständigen Europäern zu lernen, da das Reich der Mitte bis um 1700 zu den Ländern mit dem höchsten Lebensstandard der Welt gehörte.
Was ist das Besondere an der Marktwirtschaft chinesischer Prägung?
1. Intensiver Wettbewerb. Arbeits- und viele Gütermärkte sind geprägt von einem intensiven Wettbewerb. Trotz den in den letzten Jahren erlassenen Arbeitsmarktvorschriften gehört der chinesische Arbeitsmarkt zu den flexibelsten der Welt. Auf den Gütermärkten sind neben den chinesischen Unternehmen Anbieter aus aller Welt präsent, weshalb ein intensiver Preiskampf und Nachahmerwettbewerb herrscht.
2. Dominierendes Staatseigentum. Der Staat ist weiterhin der vorherrschende Eigentümer. Der Boden gehört ausnahmslos dem Staat. Der Ökonom Yasheng Huang schätzt, dass 50 Prozent der grossen Unternehmen substantiell staatlich beeinflusst sind. Staatseigentum besteht überwiegend im Bereich der natürlichen Ressourcen, der nationalen Sicherheit und der natürlichen Monopole sowie bei als wichtig erachteten öffentlichen Gütern oder Dienstleistungen. Dabei verhält sich der Staat wie ein aktiver Eigentümer und setzt den Unternehmen klar messbare Leistungsziele, die erreicht werden müssen; andernfalls werden die Firmen restrukturiert.
3. Staatlich durchdrungener Kapitalmarkt. Obwohl in China die meisten Institutionen eines Kapitalmarktes vorhanden sind, wird die Allokation der Ersparnisse stark durch den Staat bestimmt. So gehören die vier marktbeherrschenden Geschäftsbanken dem Staat. Zurzeit haben die Banken den Auftrag, das Kreditvolumen massiv zu erhöhen. Dabei verwundert es nicht, dass staatliche Unternehmen bei der Kreditvergabe bevorzugt werden, während Privatunternehmen Mühe haben, Kredite zu bekommen.
4. Meritokratische Bürokratie. Der Staatseinfluss ist im Wachsen begriffen. Die Staatsquote – das Verhältnis aller Staatsausgaben zum BIP – ist mit 20 Prozent vergleichsweise tief, hat sich aber in den letzten zehn Jahren beinahe verdoppelt. Gemäss dem Governance-Indikator der Weltbank ist die Leistungsfähigkeit des chinesischen Staates deutlich höher als die der anderen BRIC-Staaten (Brasilien, Russ-land, Indien und China). Es gibt viele Investitionen in die Infrastruktur, staatliche Dienstleistungen sind auf relativ gutem Niveau. Korruption wird zwar beklagt, ist aber nicht stärker verbreitet als in anderen Entwicklungsländern. Der Grund für die Leistungsfähigkeit des Staates liegt in einer weitgehenden Durchsetzung des Leistungsprinzips innerhalb der Verwaltung, gekoppelt mit einem starken Wettbewerb zwischen den Regionen.
5. Langfristige Planung. Die chinesische Politik zeichnet sich durch langfristige Zielsetzungen aus. Wie der Sinologe Harro von Senger in seinem Buch «Moulüe-Supraplanung» darlegt, ist die chinesische Führung auf ein Ziel ausgerichtet und bestrebt, über Jahrzehnte konsequent auf dieses hinzuarbeiten. Seit 1978 verfolgt die chinesische Regierung unbeirrt eine wirtschaftliche Modernisierung mit der Vorgabe, anlässlich des 100. Jahrestages der Volksrepublik China im Jahr 2049 das Pro-Kopf-Einkommen eines Schwellenlandes zu erreichen. Die Wirtschaftsreformen und die Öffnung nach aussen dienen einzig diesem Zweck.
6. Pragmatismus. Auf der taktischen Ebene ist die Wirtschaftspolitik Chinas pragmatisch. Ohne allzugrosse moralische Bedenken werden jene Mittel gesucht, die das Ziel der wirtschaftlichen Modernisierung unter gleichzeitigem Schutz des Machtmonopols der kommunistischen Partei am besten erreichen. Angesichts des unvollständig ausgeprägten Rechtsstaates können chinesische Politiker dabei auch Mittel einsetzen, die im Westen nicht zulässig sind. Eine Besonderheit der chinesischen Wirtschaftspolitik ist der systematische Einsatz von Experimenten, wie etwa der Sonderwirtschaftszonen zu Beginn der Öffnung, oder auch föderalistischer Experimente, die von Peking zumindest toleriert werden.
Bietet China dem angesichts der Finanzkrise von Selbstzweifeln geplagten Westen Anschauungsunterricht für mögliche Reformen? Die Grundprinzipien von Demokratie und Rechtsstaat lassen sich für den Westen selbstverständlich nicht diskutieren. Die staatlich beeinflusste Kapitalzuteilung in China widerspricht zudem den historischen Erfahrungen im Westen und dürfte als Modell für die Finanzmarktreform kaum hilfreich sein. Trotzdem sehe ich drei Bereiche, in denen die Erfahrungen in China die Diskus-sion im Westen befruchten können:
1. Langfristige Ausrichtung der Politik auf klare Ziele. Die politischen Ziele im Westen sind häufig auf den Zeithorizont einer Legislaturperiode ausgerichtet und folglich kurzfristiger Natur. Demgegenüber wird wesentlich seltener thematisiert, welches Ziel wir als Land oder Region in den nächsten 25 Jahren anstreben möchten und wie wir sicherstellen, dass die Erreichung dieses Ziels prioritär verfolgt wird. Wiederholt wird darauf hingewiesen, dass Demokratien sich nicht langfristig binden können. Dennoch ist es dem Westen beispielsweise gelungen, Regeln für die Geldpolitik zu schaffen, die in den letzten 20 Jahren eine weitgehende Preisstabilität ermöglicht und trotzdem ein Eingreifen in Krisenzeiten gestattet haben. Auch hier war der Ausgangspunkt eine Zieldiskussion, nämlich die Frage, welche Ziele mit der Geldpolitik erreichbar sind. In vielen anderen Politikbereichen fehlt jedoch diese konsequente Ausrichtung auf langfristig akzeptierte Ziele.
2. Einsatz von kontrollierten Experimenten. Eine Stärke föderaler Staaten und Europas ist die Möglichkeit, unterschiedliche Massnahmen auszuprobieren und anschliessend deren Beitrag zur Zielerreichung zu vergleichen. So hat die Reform der Arbeitslosenversicherung in der Schweiz von den Erfahrungen in Dänemark profitiert. Eine schleichende Zentralisierung und der zunehmende Anspruch, dass Leute an unterschiedlichen Orten Anspruch auf identische Leistungen haben, engen den Raum für das Ausprobieren verschiedener Lösungen ein. Gerade die hohe Komplexität der Probleme im Gesundheitswesen würde es nahelegen, Reformen zunächst einmal in begrenztem Rahmen auszuprobieren und Erfahrungen zu sammeln, bevor das nationale System angepasst wird.
3. Aufwertung des Staatsdienstes. Für Absolventen schweizerischer Hochschulen gehört der Staat nicht zu den attraktivsten Arbeitgebern. Eine Karriere beim Staat ist weder finanziell noch bezüglich Status besonders interessant. Bürokratie ist für manchen Zeitgenossen ein Schimpfwort, obwohl staatliche Organisationen zunehmend nach denselben Organisationsprinzipen geführt werden wie private Unternehmen. Doch stellt sich die Frage, ob der Westen es sich auf Dauer leisten kann, den Staatsdienst so zu gestalten, dass viele der bestausgebildeten Leute im Lande diesen als unattraktiv wahrnehmen.
Chinas Aufstieg ist faszinierend und auch widersprüchlich. Wir tun gut daran, die Entwicklung genau zu analysieren und vorurteilslos darüber zu diskutieren, ob das chinesische Entwicklungsmodell auch Anregungen für die Weiterentwicklung der Wirtschaftspolitik im Westen bietet. Das ist keine einfache Aufgabe, da die Voraussetzungen in China und im Westen unterschiedlich sind. Dennoch sollten wir vermeiden, dass kommende Generationen uns vorwerfen, wir hätten aus Hochmut Chancen verpasst.
* SMH-Sonderthema Nr. 5: «Wege des Ostens. Japan, China und die Krise», Mai/Juni 2009.
Peter Moser, geboren 1962, ist Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Chur und Leiter der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik. Er hat jüngst ein Forschungssemester an der Tongji-Universität in Schanghai verbracht.