«Was bin ich…?»
Vor wenigen Wochen erreichte uns ein Text unseres Lesers Thomas Bierling aus Deutschland. Bierling ist ratlos, denn er weiss trotz Nutzung des «Wahl-O-Mats» nicht, wie er sich politisch einordnen soll: ist er liberal, konservativ, progressiv, anarchistisch oder womöglich doch ganz anders? Wir veröffentlichen seinen Essay als Hinführung zum Liberalismus-Schwerpunkt der Juni-Ausgabe.
Der frisch vereidigte Ministerpräsident des konservativen Musterländles Baden-Wüttemberg ist ein Grüner. Ist aus den betulichen (ich darf das sagen, ich bin selbst einer) Badenern und Schwaben über Nacht ein Volk von Ökopaxen geworden? Mit Sicherheit nicht, denn etwas Konservativeres als Winfried Kretschmann kann man sich kaum vorstellen. Und andernfalls hätten meine Landsleute ihn auch kaum gewählt.
Es ist also Zeit, wieder einmal über die Bedeutung historisch gewachsener politischer Begriffe in der heutigen Zeit nachzudenken. Was bin ich überhaupt? Bin ich links, bin ich rechts, bin ich konservativ, bin ich progressiv? Ökologisch und demokratisch bin ich sowieso, aber das sind ja angeblich alle. Und sozial natürlich. Aber haben diese Begriffe überhaupt noch eine Bedeutung? Und wenn nicht, welche doch?
Bei Wikipedia kann ich zum Konservatismus lesen: «Man ersetze Altes erst dann durch Neues, wenn sich das mögliche Neue als besser erwiesen hat.» Das erscheint mir nicht konservativ, sondern einfach nur vernünftig. In diesem Sinne bin ich ganz bestimmt konservativ. Aber ich frage mich, wie das Neue sich überhaupt beweisen kann, wenn man es zunächst nicht zulässt, bis es sich bewiesen hat – schon wieder ein Paradoxon. Also gehört auch eine gewisse Portion progressiven Wagemutes dazu, will man nicht in verkrusteten Strukturen erstarren. Also bin ich bestenfalls wertkonservativ (wie die Grünen und insbesondere Herr Kretschmann), aber ganz bestimmt nicht strukturkonservativ.
Ganz tief in meinem Unterbewusstsein sitzt auch noch das Paradigma, dass links gleich progressiv sei und rechts gleich konservativ. Demnach wäre die SPD progressiv und die Grünen auch, denn sie werden ja gemeinhin eher dem linken Spektrum zugerechnet. Was ist progressiv? Etwas Konservativeres (oder besser, Spiessigeres) als eine SPD-Versammlung mit Bergmannskapelle und «Glück auf!» kann man sich kaum vorstellen. Die Grünen neigen auch eher dazu, neuen Dingen skeptisch gegenüberzustehen. Die vermeintlich konservative CDU sieht sich hingegen am liebsten als Speerspitze des technologischen Fortschritts (ob er der Menschheit nun weiterhilft oder nicht, ist eine andere Frage). Erich Honecker war auch ein sehr konservativer Mensch, denn er wollte mit Sicherheit keine Veränderungen.
Mit diesen Begriffen komme ich also nicht weiter – rechts und links haben nach dem kalten Krieg ihre Bedeutungen verloren, Konservative wären gerne progressiv und die Linken und Grünen sind heute progressiv, weil konservativ. Oder so ähnlich.
Also muss ich das Ganze weiter von unten her, an einzelnen Sachfragen orientiert, aufdröseln. Wie beim Wahl-O-Mat, den ich vor der Landtagswahl im April einmal durchgespielt habe. Die grösste Übereinstimmung hatte ich mit der Piratenpartei, dicht gefolgt von den Linken. Dann kamen die Grünen und die SPD. Und, welch ein Schock – die NPD noch vor der CDU. Heisst das, dass ich rechtsextremer denke als die CDU, oder dass die CDU rechter ist als die NPD? Beides wäre eine schreckliche Vorstellung.
Beim Betrachten der Liste fällt mir auf, dass eine Partei in meinen Überlegungen noch gar nicht aufgetaucht ist, obwohl sie gerade das Tagesgeschehen bestimmt, nämlich die FDP. Ich gehe in Gedanken meine tiefsten Grundüberzeugungen durch, angefangen bei den persönlichen Freiheitsrechten. Auf diesem Gebiet bin ich geradezu libertär, wenn nicht sogar anarchistisch – ich reagiere extrem empfindlich, wenn mir jemand vorschreiben möchte, wie ich zu leben oder gar zu denken habe. Ich frage mich vor allem, wie irgendein Mensch nicht liberal sein kann, denn jeder möchte doch für sich ein Höchstmass an persönlicher Freiheit in Anspruch nehmen: Liberté! Damit mir das gewährt wird, muss ich es auch allen anderen Menschen zubilligen – es sei denn, ich würde für mich einen Sonderstatus in Anspruch nehmen, in der Hoffnung, dass er mir auch immer gewährt werden wird. Also: Égalité!
Liberal? Leider ist dieser Begriff nicht zuletzt durch das unsägliche Erscheinungsbild der FDP in den letzten 20 Jahren ziemlich in Verruf geraten. Natürlich gehört wirtschaftliche Handlungsfreiheit genauso zum Liberalismus wie alle anderen Formen menschlichen Handelns. Aber jede Freiheit endet dort, wo die Freiheit des anderen anfängt. Und zur persönlichen Freiheit gehört ein gewisses Mass an wirtschaftlicher Unabhängigkeit – daher kann es kein Wirtschaften geben auf Kosten anderer: Fraternité! So bin ich auch ein absoluter Befürworter der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens, um letztendlich die Freiheit des Einzelnen zu sichern, unabhängig von seiner sozialdarwinistischen Durchsetzungskraft. Diese Idee mag sozialistisch vorkommen, aber sie ist es nicht: ich halte sie für im tiefsten Sinne liberal. Da diese Idee sowohl von links wie von rechts heftig bekämpft wird, kann sie überdies auch nicht so falsch sein.
Dies führt mich zur Frage, warum sich Menschen überhaupt politisch engagieren und ihre wertvolle Zeit in mühsame Parteiarbeit investieren. In der CDU finde ich nur wenige Menschen, denen ich eine zutiefst konservative Überzeugung abnehmen würde, potentielle Kandidaten hierfür sind längst zu den Grünen übergelaufen. Oder zur Ökologisch-Demokratischen Partei. Oder zur Partei bibeltreuer Christen. In der CDU findet man aalglatte Karrieristen, wohin man schaut. Wie sonst wäre eine solch geschmeidige (wenn auch wirkungslose) Kehrtwende wie in der Atompolitik nach den Ereignissen in Fukushima denkbar? Mit Grundsätzen und Überzeugungen hat das jedenfalls nichts zu tun. Der im April abgewählte Ministerpräsident Stefan Mappus ist nicht konservativ, er plappert höchstens rechte Parolen nach, weil er sich davon Wählerstimmen erhofft. Zum Glück hat es dieses Mal nicht geholfen. Ich bin mir sicher, dass er auch einen guten SED-Bezirksleiter abgegeben und genauso lautstark gegen den Klassenfeind gewettert hätte. Hauptsache, es hilft der Karriere innerhalb des Systems: Man tritt «der Partei» bei, um Karriere zu machen und für sich selbst mehr Rechte zu sichern als für die anderen. In traditionell roten Landstrichen ist es mit der SPD nicht anders.
Aber wenn wir schon bei der CDU sind: Eine dezidiert christliche Partei ist für mich eigentlich ein Fall für den Verfassungsschutz, so wie es eine islamistische Partei wäre. Unser Staat ist schliesslich aus gutem Grund zu religiöser Neutralität verpflichtet. Die Behauptung, dass unser Gemeinwesen auf christlichen Werten beruhe, ist an Infamität kaum zu überbieten: es bedurfte Jahrhunderte des Kampfes gegen Klerus und Adel, um diese Werte von Freiheit und Demokratie durchzusetzen. Das Christentum beruht, wie alle anderen Religionen (mit Ausnahme vielleicht des Buddhismus), auf Dogma, Hierarchie und Entrechtung. Das bisschen Mildtätigkeit, gerne auch Soziallehre genannt, kann dies bei Weitem nicht aufwiegen. Hier bin ich wiederum ganz bei Marx, was das Opium anbelangt. Dabei glaube ich dem Papst sogar, dass er die Menschen liebt. Aber er achtet sie nicht, jedenfalls nicht als gleichwertige denkende Menschen, denen man auf Augenhöhe begegnet. Das erinnert mich fatal an den Abgang von Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit der DDR. Ich komme also langsam, aber sicher zu dem Schluss, dass es eigentlich nur zwei politische Grundströmungen gibt: Liberalismus und Faschismus. Mit Faschismus meine ich nicht unbedingt den historisch durch Mussolini geprägten Begriff, sondern eine faschistoide Geisteshaltung im Sinne eines totalitären Kollektivismus, der die Freiheitsrechte des Einzelnen zerstört.
Faschismus nennen linksalternative Köpfe heute alles, was sie als politisch gefährlich und totalitär betrachten. Strukturell kann ich jedoch keine Unterschiede erkennen zwischen dem Faschismus von rechts und den vorgeblich kommunistischen oder sozialistischen Systemen. Auch die meisten Religionen (und daraus abgeleitet die Adelssysteme von «Gottes Gnaden») bauen auf nichts anderem auf, als auf der Hoffnung des Einzelnen, in einer hierarchischen und dogmatischen Ideologie durch Wohlverhalten einen Aufstieg und daraus resultierend grössere persönliche Freiheiten zu erlangen. Auch wenn CDU, SPD und die Grünen sich dagegen verwahren werden – es sind letztendlich die gleichen Menschen mit der gleichen faschistoiden geistigen Grundhaltung, die stets und immer wieder die politischen Systeme kapern. Auschwitz und der Archipel Gulag sind immer wieder und überall möglich, fürchte ich.
Umso wichtiger wäre eine wirklich starke und wirklich liberale Partei, die der Tendenz zu einer parteiübergreifenden Öko-Gender-Gesundheits-Sicherheits-Diktatur entgegenwirkt. Aber hat es wirklich Sinn, hier auf die FDP zu hoffen? Auf eine Partei, die aus dem ehrenwerten Begriff des Liberalismus fast ein Schimpfwort hat werden lassen? Der normale Mann von der Strasse (die Frau übrigens auch) sieht in der FDP nur noch eine Partei der besserverdienenden Ellenbogenbesitzer mit den besseren Beziehungen, denen die CDU zu sozial ist. Nur noch in der Krise, wenn die Partei in Umfragen einmal mehr abschmiert, holt man ein paar der (von mir übrigens hoch geschätzten) altgedienten Alibi-Liberalen vom Schlage eines Gerhart Baums oder Burkhard Hirschs hervor, die dann ebenso gebetsmühlenartig wie erfolglos proklamieren, dass man doch gar nicht so sei. Ein paar Wochen später sagt dann einer «Leistung muss sich wieder lohnen», und es geht weiter wie gehabt.
Ich kann mich kaum erinnern, dass die FDP als Ganzes jemals ernsthaft liberale Positionen vertreten hätte. In einer Zeit, als man noch Willy Brandt wählte oder aber keine Experimente wagte, war sie die Partei derer, die sich nicht ideologisch festlegen, aber trotzdem –man möchte ja Karriere machen – einer systemkonformen Partei angehören wollten. Das entspricht zu hundert Prozent der gesellschaftlichen Funktion, die die Blockparteien in der DDR hatten. Die Einschränkung auf Wirtschaftsthemen ist ein historischer Fehler, mit dem die FDP dem Liberalismus in Deutschland einen kaum wieder gut zu machenden Schaden zugefügt hat: Gäbe es die FDP nicht, ihre Feinde hätten sie erfinden müssen. Denn gerade der richtig verstandene Liberalismus ist die Politik des kleinen Mannes, die ihn vor dem Machtmissbrauch der «grösseren» schützt. In diesem Sinne wäre eine wahrhaft liberale Partei auch die einzige und echte mögliche Volkspartei. Ich frage mich: Wo ist diese Partei?