Warum wir tauschen
Wir tun es jeden Tag und hinterfragen es sehr selten: tauschen. Was geschieht, wenn wir tauschen? Wer profitiert davon? Und vor allem: Ist es moralisch?
1. Der Tausch
Das Wort «Markt»1 geht etymologisch zurück auf das lateinische «mercari» für «Handel treiben». In seiner ursprünglichen und buchstäblichen Bedeutung bezeichnet es den Marktplatz, einen Ort, an dem Kaufleute, Händler und ihre potentiellen Kunden zusammenkommen. Dieser enge Begriff des Marktes ist zwar für das Verständnis gegenwärtiger Debatten um die Marktwirtschaft nur bedingt brauchbar, doch enthält er einen wichtigen Fingerzeig: eine Stätte ist nicht aufgrund bestimmter topologischer Eigenschaften schon ein Markt, sondern sie wird es dadurch – und nur dadurch –, dass sie Schauplatz merkantiler Aktivitäten ist. Diese Einsicht führte dazu, dass der Marktbegriff schon bald seine zweite, elaboriertere Verwendungsweise erhielt, die ihn zur Erörterung ökonomischer Zusammenhänge tauglich machte und die die heute gebräuchliche ist.
Die zentrale merkantile Aktivität ist der Tausch; seine Natur zu kennen, ist der Schlüssel für das Verständnis des Marktes. Schon ein erster, flüchtiger Blick auf den Tausch offenbart, dass in ihn zwei miteinander interagierende Tauschpartner involviert sind. Die strukturellen Besonderheiten dieses Interagierens zweier Akteure erschliessen sich aber – wie wir sehen werden – erst aus den strukturellen Besonderheiten des Agierens des einzelnen Akteurs.
2. Das Unbefriedigtsein
Der Mensch steht der Welt nicht gleichgültig gegenüber. Viele Sachverhalte, die er erfasst, wecken ein Unbehagen in ihm, lassen ihn unbefriedigt sein. Dass er Durst hat, dass es Nacht ist oder dass ein Freund Schmerzen hat – vieles von dem, worauf sich sein Bewusstsein richten kann, missfällt ihm. Und sogar ungegenwärtige, bloss erwartete Sachverhalte wie das bevorstehende Ausscheiden aus dem Arbeitsleben können Unbefriedigtsein auslösen, da der Mensch fähig ist, sich in seinem Denken und Vorstellen auch auf Zukünftiges zu beziehen. Stünde er der Welt gleichgültig gegenüber oder würde ihn nichts an ihr stören, so fehlte ihm jeder Grund und Impuls zu handeln.
Jedes Handeln wird somit von einem Unbefriedigtsein ausgelöst und dient seiner Beseitigung. Und da der Erfolg des Handelns in nichts anderem besteht als in der Beseitigung des auslösenden Unbefriedigtseins, ist alles Handeln auf Erfolg aus. Man kann nicht handeln wollen, ohne damit Erfolg haben zu wollen, und deshalb kann es ein Handeln ohne inhärente Erfolgsorientierung nicht geben. Wo man – zu Recht oder zu Unrecht – keinerlei Aussicht auf Erfolg sieht, handelt man erst gar nicht. Selbstverständlich ist nicht alles Handeln auch erfolgreich, aber dass es fehlschlagen kann, unterstreicht nur, dass es strukturell auf ein Gelingen hin angelegt ist.
Die Erfolgsorientierung allen Handelns ist ihm nicht nur wesentlich, sie ist auch – was kaum genug betont werden kann – moralisch unanstössig, mehr noch: sie ist sogar moralisch indifferent. So wäre es etwa ein schwerer gedanklicher Fehler, einen Akteur allein schon deshalb des Egoismus zu bezichtigen, weil er sein Unbefriedigtsein handelnd beseitigen will: Egoistisch handelt man – grob gesprochen – dann, wenn man das eigene Wohl über das Wohl anderer stellt, und altruistisch, wenn man umgekehrt verfährt. Damit ein Akteur nun zum Wohl anderer handeln kann, muss er deren Lage nicht nur kennen, sondern er muss an ihr auch in einer Art und Weise Anteil nehmen, die sein eigenes Handeln in Gang setzt. Für diese Anteilnahme an der Lage anderer, ohne die kein altruistisches Handeln zustande kommt, haben wir aber schon eine alternative Beschreibung kennengelernt: der anteilnehmende Akteur verspürt nämlich angesichts der Lage anderer ein Unbefriedigtsein, und daraufhin handelt er dadurch altruistisch, dass er seinen Handlungserfolg in der Verbesserung der Lage anderer sucht. Das zeigt, dass die Erfolgsgerichtetheit ein inhaltlich leeres, rein formales Strukturmoment des Handelns darstellt und gar keine Anhaltspunkte für eine moralische Qualifizierung des betreffenden Handelns liefert – der Schurke und der Samariter unterscheiden sich moralisch nicht darin, dass sie Erfolg suchen, sondern darin, worin sie ihn suchen.
3. Die Erfolgsorientierung
Die Welt steht dem Menschen – anders als er ihr – gleichgültig gegenüber, sein Unbefriedigtsein kümmert sie nicht. Sie gibt ihm das, was er will, nicht von sich aus, nicht ohne sein Zutun. Deswegen hat der Mensch Mangel im Überfluss. Wunschlos glücklich, allen Unbefriedigtseins enthoben zu sein, ist für ihn die seltene Ausnahme; in der Regel sieht er sich sogar mit mehreren Quellen des Unbehagens gleichzeitig konfrontiert. Da jede einzelne Handlung nur ein begrenztes Wirkpotential hat, kann der Mensch fast niemals alles empfundene Ungenügen zugleich beheben. Er muss vielmehr auswählen, priorisieren, die nächste anstehende Handlung zur Beseitigung desjenigen Unbefriedigtseins verwenden, das ihm das dringlichste ist. Auch wenn uns diese priorisierenden Wahlakte, die mit jeder vollzogenen Handlung ihren Abschluss und Ausdruck finden, kaum je bewusst werden, so sind sie doch das Resultat eines komplexen Zusammenspiels unserer Wertschätzung von Zielen und unseres Wissens um deren Realisierbarkeit. Aus dieser im vorliegenden Rahmen unauslotbaren Komplexität sei ein bedeutsamer Punkt herausgehoben.
Der Erfolg einer Handlung liegt in der Beseitigung eines Unbefriedigtseins. Zu diesem Zweck ergreift der Akteur Mittel, die ihm geeignet scheinen, seine Handlung zum Erfolg zu führen. Liesse sich derselbe Erfolg sowohl mit als auch ohne die Ergreifung von Mitteln erzielen, dann zögen Akteure die letztgenannte, mit dem geringeren Aufwand einhergehende Variante vor, da man nicht um des Handelns, sondern um des Handlungserfolgs willen handelt.
Offenbar ist der Aufwand, der im Ergreifen von Mitteln liegt, seiner Natur nach selbst etwas, das ein Unbefriedigtsein schafft. Da der Erfolg des Handelns darin besteht, Unbefriedigtsein zu überwinden, die dafür ergriffenen Mittel aber ihrerseits Unbefriedigtsein hervorrufen, trachten Akteure danach, möglichst effiziente Mittel zu wählen; das sind solche, deren Aufwendung möglichst wenig Unbefriedigtsein schafft und die deswegen gegenüber dem zu beseitigenden Unbefriedigtsein möglichst wenig ins Gewicht fallen. (Dar-über, wie sehr ein gegebener Aufwand die Befriedigung durch einen gegebenen Erfolg schmälert, befindet der jeweilige Akteur, indem er Aufwand und Erfolg subjektiv bewertet und zueinander ins Verhältnis setzt.) Wer um des Erfolgs willen handelt, der wird die mit dem Erfolg verbundene Befriedigung dadurch zu maximieren suchen, dass er auch die Effizienz seiner Mittel maximiert.
Es liegt auf der Hand, dass das oben für die einfache Erfolgsorientierung bemühte Indifferenzargument gültig bleibt: auch die allem Handeln inhärente Bemühung um die Maximierung der mit dem Erfolg verbundenen Befriedigung ist moralisch indifferent, weil weder dem Schurken noch dem Samariter daran gelegen sein kann, die mit seinem erfolgreichen – ruchlosen oder edlen – Handeln einhergehende Befriedigung durch die Wahl ineffizienter Mittel zu schmälern. Moralische Bedenken finden in der Struktur des Handelns auch hier keinen Anhaltspunkt.
4. Die Kooperation
Die aufgewiesenen Grundzüge des Handelns sind invariant. Sie bleiben unverändert dieselben, wenn sich zwei Akteure zum freiwilligen Tausch zusammenfinden. Im gelingenden Tausch kooperieren die Beteiligten trotz unterschiedlicher Ziele so koordiniert, dass sich für beide auf systematische, nicht zufällige Weise ein Handlungserfolg einstellt. Die fragliche Koordination beruht darauf, dass beide Akteure just dasjenige Gut erlangen wollen, über welches der jeweils andere verfügt. Sobald die Akteure diesen Umstand erkannt haben, ist der Weg frei für zwei sich verschränkende Handlungen, die beiden Tauschpartnern genau jenen Erfolg bescheren, um dessentwillen sie handeln wollen.
Das Besondere dieses Doppelerfolgs springt ins Auge, wenn man nach andersartigen, nicht marktförmigen Prozeduren Ausschau hält, durch die Güter von der Hand eines Akteurs in die eines anderen Akteurs gelangen können. Die denkbaren Alternativen reduzieren sich nämlich auf ein einziges Grundmuster. In ihm tritt an die Stelle des freiwilligen kooperativen Tauschs die unfreiwillige, durch die Anwendung oder glaubhafte Androhung von Zwang bzw. Gewalt erzwungene Umverteilung. Übereignet man mit Hilfe von Zwang dem einen Akteur das, was er erlangen will, ohne dem anderen das zu geben, was dieser erlangen will, so wird der Erfolg des einen auf Kosten des anderen erzielt. Die Durchsetzung des Zwangsmusters läuft somit auf ein Nullsummenspiel hinaus, in dem die Besserstellung des einen stets auf der Schlechterstellung des anderen basiert.
Noch ein zweiter Aspekt des Tauschs ist bemerkenswert. Wer tauschen will, der will nicht nur Tauschpartner werden, sondern auch einen Tauschpartner finden. Das eine ist ohne das andere evidentermassen nicht zu haben. Es sind nun aber die Bedingungen, unter denen ein Akteur zum Partner eines gelingenden Tauschs wird, buchstäblich dieselben Bedingungen, unter denen sein Gegenüber zum Partner dieses Tauschs wird. Und da der gelingende Tausch einen Erfolg für beide Tauschpartner darstellt, kann kein Akteur das Zustandekommen des Tauschs und mit ihm den eigenen Erfolg ernsthaft wollen, ohne zugleich auch zu wollen, dass sein Gegenpart auf analoge Weise seinen Erfolg im Tausch findet.
Wie oben ausgeführt, können sich mit dem stets erfolgsorientierten Handeln ebenso egoistische wie altruistische Motive verbinden. Selbst unter der Annahme, dass im gelingenden Tausch zwei bloss egoistisch motivierte Akteure kooperieren, müsste sich an der eben gegebenen Analyse kein Jota ändern, der zufolge mit dem eigenen unweigerlich auch der fremde Erfolg gewollt wird. Ersichtlich hat der freiwillige Tausch die einzigartige Potenz, nicht nur beiden Teilnehmern einen Erfolg zu bescheren, sondern auch zwei gegenläufige, das eigene über fremdes Wohl stellende Egoismen so zu neutralisieren, dass beide Akteure quasi-altruistisch handeln.
Mit diesem Einblick in die Anatomie des freiwilligen Tauschs wird auch die Funktionsweise der im Marktgeschehen wirksamen spontanen Ordnung zumindest im Ansatz durchsichtig. Ihr in einer Welt voller Egoisten als Mechanismus der sozialen und ökonomischen Koordination grosse Stücke zuzutrauen, ist daher alles andere als ein irrationaler Aberglaube.
5. Die Intervention
Wo tauschende Akteure freiwillig kooperieren, bildet sich ein Markt. Herrschen dort Wahlfreiheit bezüglich der Kooperationspartner und wirtschaftliche Handlungsfreiheit (nur durch Gesetze eingeschränkt, die zu deren Sicherung unerlässlich sind), so herrscht dort auch Wettbewerb. Denn die Marktakteure trachten danach, mit ihrer eigenen Tauschwilligkeit zum Zuge zu kommen, weshalb sie – quasialtruistisch – versuchen werden, die Tauschbedürfnisse anderer so zu bedienen, dass daraus der Doppelerfolg des gelingenden Tauschs erwächst. Wenn Markt und Wettbewerb überhaupt «hergestellt» werden können, dann durch die Beseitigung von allen (nicht der Freiheit selbst dienenden) Zwangsmomenten, die die Kooperationsmöglichkeiten von Akteuren einengen.
Die Zahl der vorgenommenen staatlichen Interventionen ins Marktgeschehen ist Legion, ebenso wie die Zahl der zu ihrer Rechtfertigung vorgetragenen Argumente. Dutzende von moralischen und ökonomischen Überlegungen werden geltend gemacht, um den Einsatz des staatlichen Zwangsapparates auf immer neuen Feldern zu legitimieren: ganze Lebensbereiche würden – so der interventionistisch-paternalistische Tenor – trotz ihrer Gemeinwohlrelevanz vom Marktgeschehen gar nicht erfasst, weil keiner der (allesamt notorisch selbstinteressierten) Marktakteure sie zu seiner Sache mache.
Soll irgendeines dieser Räsonnements plausibel sein, so muss es zeigen, dass die hier zutage getretenen Vorzüge freier Märkte durch staatliche Interventionen tatsächlich überkompensiert werden. Da aber mit Macht ausgestattete Instanzen – anders als Marktakteure – noch nicht einmal quasialtruistisch agieren müssen, spricht nichts dafür, dass sie sich jener Belange selbstlos annehmen, die frei auf dem Markt kooperierende Bürger angeblich vernachlässigen.
Verwunderlich ist die freiheitsfeindliche Motivation von Staaten bzw. der sie tragenden politischen Klassen und der ihnen nahestehenden Pressure Groups nicht. Denn sie alle könnten die Fiktion ihrer Unentbehrlichkeit umso weniger aufrechterhalten, je mehr es den Bürgern gelänge, auf freien Märkten erfolgreich zu kooperieren. Für Aufgaben und Probleme, die ohne Mitwirkung der Obrigkeit in marktförmigem Zusammenwirken gelöst werden, lassen sich weder Bürokratenstellen schaffen noch Parteifreunde in begünstigte Positionen bringen. Massenhafte Kooperationserfolge freier Bürger würden geradezu die Überflüssigkeit einer jeden Zwangsbefugnis demonstrieren, die nicht als Freiheitsgarant benötigt wird. Zudem würden alle Einnahmequellen an den Pranger geraten, die nicht auf dem unbehinderten Geben und Nehmen des Marktes, sondern auf machtgestützter Umverteilung beruhen. Demgegenüber erzeugt jede gewaltbasierte Intervention unerwünschte Nebenfolgen, für deren Bekämpfung sich das Gift der politischen Einmischung aufs neue als Arznei anpreisen lässt.
Wem vor Augen steht, wie tief der Markt im menschlichen Handeln wurzelt, der sieht, dass der Markt nicht trotz, sondern wegen der in ihm herrschenden Freiheit Akteure zu erfolgreichen Akteuren macht. Zwar kann man auch im Nullsummenspiel der Umverteilung Erfolg haben, aber nur dann, wenn man Macht hat oder sich mit ihr einkommenswirksam zu verbünden weiss. Wer solche gegenleistungslosen Umverteilungsprofite auf Kosten anderer hingegen für unmoralisch hält, der hat einen exzellenten Grund, für den freien Markt einzutreten.
1 Das Phänomen des Marktes weist viele Facetten auf. Sie sind jedoch für sein grundlegendes Verständnis nicht alle gleich wichtig. Selbst ein für jeden Marktapologeten so zentraler Zug wie der, dass nur freie Märkte echte Preise und damit ein einzigartiges Instrument des ressourcenschonenden Knappheitsmanagements hervorbringen, lässt sich nicht ohne Rekurs auf einfachere Prozesse und Strukturen begreifen. Auch die hohe Relevanz einer den Markt rahmenden und sichernden Eigentums- und Rechtsordnung ist nicht zu leugnen; doch beide sind allenfalls institutionelle Gehäuse des Marktes, aber sie machen ihn nicht aus. Im folgenden wird daher der Versuch unternommen, die eigentliche Basis des Marktes, den handelnden Menschen, stärker als üblich ins Blickfeld zu rücken. – Der Stichwortgeber für diesen Versuch ist Ludwig von Mises. Mein Verständnis seines Hauptwerks «Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens» (1940) verdankt den noch unpublizierten Arbeiten von Michael Oliva Córdoba entscheidende Impulse.