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Warum Rudolf Roessler Eisenchlorid braucht…

Peter Kamber lässt in seinem historischen Dokumentarroman «Geheime Agentin» reale Personen in ihrem historischen Umfeld agieren; ihr Handeln und Sprechen soll dabei so wenig wie möglich von den historisch belegten Tatsachen abweichen. Abgestützt werden die fast tausendvierhundert Seiten Erzähltext durch einen im Internet publizierten Apparat, in dem die Datenlage offengelegt wird und zusätzliche Informationen vermittelt […]

Peter Kamber lässt in seinem historischen Dokumentarroman «Geheime Agentin» reale Personen in ihrem historischen Umfeld agieren; ihr Handeln und Sprechen soll dabei so wenig wie möglich von den historisch belegten Tatsachen abweichen. Abgestützt werden die fast tausendvierhundert Seiten Erzähltext durch einen im Internet publizierten Apparat, in dem die Datenlage offengelegt wird und zusätzliche Informationen vermittelt werden. Der Apparat umfasst noch einmal rund tausend Seiten, was den Umfang der Arbeiten und Vorarbeiten erahnen lässt.

Das erste Kapitel beginnt mit Rudolf Roesslers Rasur. Er war ein in Luzern lebender deutscher Emigrant, der die Verbindung zwischen dem Schweizer Nachrichtendienst und dem deutschen Widerstand herstellte und auch Beziehungen zu kommunistischen Spionageringen pflegte. Im Apparat erfahren wir nun nicht nur weitere biographische Daten zu Roessler, sondern lesen auch, dass er beim Rasieren das blutstillende Mittel Eisenchloridwatte verwendete. Als er 1953 wegen verbotenen Nachrichtendiensts erneut verhaftet wurde, hatte die Polizei den Verdacht, mit dem Eisenchloridmittel lasse sich auch Geheimtinte sichtbar machen. An diesem Beispiel zeigt sich ein Problem des Werks: Peter Kamber hat enorm viel gearbeitet und er weiss enorm viel über den Zweiten Weltkrieg und die Geheimdiensttätigkeit während dieser Zeit. Er hat nicht nur die wichtigsten Bücher gelesen, sondern er ist in die Akten (insbesondere des Bundesarchivs) gestiegen und belegt dies mit wissenschaftlicher Akribie. Doch leider kann er auf nichts verzichten, er möchte Totalität herstellen. Er überfrachtet seine Dialoge mit Informationen. Auch verfolgt er zu viele Erzählstränge. So erzählt er den Holocaust anhand von Einzelschicksalen, von der Wannseekonferenz bis zur Befreiung der KZ, er erzählt die Geschichte der Enigma-Verschlüsselungsmaschine und die Verschwörung des 20. Juli. Letzteres ist durch eine der Hauptlinien des Romans motiviert, das lange Zweifeln der westlichen Geheimdienste an der Existenz eines deutschen Widerstandes – und dessen tragisches Scheitern auch deshalb, weil keine Chancen auf einen Separatfrieden im Westen bestanden.

Auf der Positivseite ist zu verbuchen, dass sich der Roman mit seinem Brennpunkt Schweiz streckenweise ungeheuer spannend liest und auch Kenner der Weltkriegsgeschichte immer wieder mit Fakten und weniger bekannten Figuren verblüfft. Wer weiss schon Bescheid über Paul Meyer Schwertenbach, Hauptmann im Nachrichtendienst der Schweizer Armee, der kaltgestellt wurde, nachdem er ein Treffen zwischen General Guisan und dem Chef des SD-Auslandsnachrichtendienstes, Schellenberg, eingefädelt hatte? Oder über Arthur Nebe, Chef der Kriminalpolizei, an Kriegsverbrechen beteiligt und gleichzeitig Mitglied des Widerstandes?

Peter Kamber verfällt der Faszination der Uniformen, Hierarchien und Machtkämpfe nie. Durch Fakten und Berichte verdeutlicht er immer wieder den verbrecherischen Charakter des Naziregimes. Auch Selbstverständliches muss ab und zu wieder gesagt werden. Nicht im Vordergrund stehen dagegen die problematischen Aspekte der alliierten Kriegsführung: die Bombardierung von Zivilbevölkerung und historischen Stadtzentren und der totalitäre und misstrauische Charakter der verbündeten Sowjetunion, der zum Nachkriegsfiasko und der Spaltung Europas beitrug. Kamber lässt durchblicken, dass eine andere Lösung denkbar gewesen wäre, wenn nicht der Wechsel von der «sozialdemokratischen» Politik Roosevelts und seines Vizepräsidenten Henry A. Wallace zur Macht- und Realpolitik Trumans erfolgt wäre. Solche Spekulationen mögen müssig sein. Doch die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist reich an Wendepunkten und Zufällen.

Peter Kamber: «Geheime Agentin». Berlin: Basisdruck, 2010

ergänzende Materialien: www.geheimeagentin.de

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