Warum die Industrialisierung nicht in China begann
Das neue Buch des Nobelpreisträgers Joel Mokyr erklärt die unterschiedlichen Pfade von China und Europa in den vergangenen tausend Jahren.
Vor tausend Jahren war China Europa in vielerlei Hinsicht weit überlegen. Das Kaiserreich war in der Landwirtschaft technisch weit fortgeschritten und hatte eine professionelle, meritokratisch organisierte Verwaltung.
Einige Jahrhunderte später jedoch hatten sich die Verhältnisse gewendet. Die industrielle Revolution katapultierte in Europa Wohlstand, technischen und kulturellen Fortschritt auf neue Höhen. Warum geschah diese Entwicklung in Europa? Wäre sie nicht viel eher in China zu erwarten gewesen?
Der Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr, Autor des Schweizer Monats und frischgebackener Wirtschaftsnobelpreisträger, geht in seinem neuen Buch zusammen mit den beiden Ökonomomen Avner Greif und Guido Tabellini diesen Fragen nach. Ihre Kernthese: Entscheidend war (und ist) das Zusammenspiel zwischen Kultur und Institutionen.
China ist geprägt von Strukturen, in denen die Grossfamilie eine wichtige Rolle spielt. Kooperationen spielten sich über Jahrtausende hauptsächlich innerhalb von Clans ab. Der Konfuzianismus förderte diese kommunitaristischen Strukturen und wurde seinerseits durch sie bestärkt.
Demgegenüber spielten in Europa früh Organisationen eine wichtige Rolle, die über Verwandtschaftsbeziehungen hinausreichten: die katholische Kirche, Klöster, Zünfte oder autonome Städte und Gemeinden. Solche «Korporationen», wie Greif, Mokyr und Tabellini sie nennen, begünstigten zugleich dezentrale politische Institutionen und institutionellen Wettbewerb zwischen verschiedenen Herrschaftsgebieten. Die (katholische) Kirche entwickelte schon früh ein universalistisches Wertesystem, das wirtschaftliche und soziale Kooperationen über die Verwandtschaft hinaus begünstigte – und ihrerseits durch sie begünstigt wurde.
Nur so waren die technischen Innovationen und die Explosion des wirtschaftlichen Austauschs möglich, die Europa – und in der Folge die anderen Weltgegenden – so erfolgreich und wohlhabend gemacht haben.
Das Werk der drei Ökonomen ist keine leichte Kost. Es ist anspruchsvoll, aber überzeugend geschrieben. Jedenfalls erscheint nach der Lektüre die Ehrung Mokyrs durchaus verdient. (Lukas Leuzinger)
Avner Greif, Joel Mokyr, and Guido Tabellini: Two Paths to Prosperity: Culture and Institutions in Europe and China, 1000–2000. Princeton University Press, 2025.