Warten auf Jo
Unsicherheit nagt an ihm, aber der Starrsinn siegt. Er will vieles, aber er kann nur eines. Deshalb wird er warten. Weiter warten. Floyd hat so lange gewartet, warum sollte er das jetzt ändern: «Wie ein Wild, das nicht weiter kann, vor ihm eine Klippe, hinten die Flinten im Anschlag.» Vor vielen Jahren ist der englische […]
Unsicherheit nagt an ihm, aber der Starrsinn siegt. Er will vieles, aber er kann nur eines. Deshalb wird er warten. Weiter warten. Floyd hat so lange gewartet, warum sollte er das jetzt ändern: «Wie ein Wild, das nicht weiter kann, vor ihm eine Klippe, hinten die Flinten im Anschlag.» Vor vielen Jahren ist der englische Fotograf geflohen, erst vor seinem geregelten Leben als Ehemann und Vater einer Tochter ins wilde Berlin, dann vor den Mitmenschen weiter in die Einsamkeit der Brandenburger Kiefernwälder. Ein halbverfallenes Haus, ein ehemaliger russischer Bunker, das ist Floyds Refugium. Hier wartet er. Weihnachten kommt, Jo kommt. Seine Tochter Jo, mit dem Engelsgesicht, den grossen Augen. Sie soll ihn erlösen aus der Einsamkeit, Brücken zurück ins geordnete Leben soll sie ihm bauen. Doch sie hängt nur am Handy, tippt SMS nach Hause und findet alles blöd. Am Heiligen Abend haut sie ab, einfach hinein in die Wälder.
In ihrem zweiten Roman, «Das letzte Bild», jagt die Schaffhauserin Ulrike Fricker, derzeit in Berlin zu Hause, ihre Hauptfigur Floyd immer weiter in eine innere Leere, eine bleierne Antriebsschwäche. Floyd müsste handeln, klagen, weinen und vor allem Jo suchen, doch emotional hat er sich derart verpuppt, dass er seine Ängste und Abwehrreflexe nicht abschütteln kann. Floyd wartet. Barth, der Dorfpolizist, kommt. Emma, seine Exfrau, kommt. Beide gehen wieder, vermutlich in den «Dorfkrug». Zusammen auf ein Zimmer. Neujahr kommt und geht. Floyd wartet, auf Jo, auf die Erlösung. Er spürt, dass die anderen Leute ihm die Geschichte von Jos Flucht nicht glauben und ihn holen werden. Sein Zaudern treibt ihn in die Enge, macht ihn verdächtig – der ältere, nicht sehr gepflegte Sonderling, die Einsamkeit, das junge Mädchen…
Der Frühling kommt, Taucher kommen, doch im aufgetauten kleinen See im Wald finden sie nichts und niemand. Keine Spuren, keine Jo. Floyd wartet. Wladimir kommt. Nicht aus Becketts «Godot», sondern aus Kasachstan. Ein Illegaler, der einen anderen Illegalen getötet haben soll. Plötzlich ist er da, geht nicht mehr weg. Der Traum vom reichen Westen ist geplatzt, wo soll er noch hinlaufen? Er wartet mit, erwartet nichts. Ein Alter Ego für Floyd, dessen Lebenstraum von grosser Fotokunst schon vor langer Zeit gescheitert ist und der keinen neuen Traum finden kann. Sie warten.
Fricker ist ein punktgenauer, humorloser Roman ohne das Flitterwerk alberner, abschweifender Nebenhandlungen gelungen. Ihre gestochen scharfen Naturbilder spiegeln die Hoffnungslosigkeit Floyds in der umgebenden Landschaft, in der Tristesse einer bleichen, trockenen Ebene nahe der polnischen Grenze. Dort, wo ein Mensch nichts zu> erwarten hat. Wo Floyd das einzige macht, was er kann: warten auf Jo.
Ursula Fricker: «Das letzte Bild». Zürich: Rotpunkt, 2009