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«War das nun ‹Abseits›?»

Wie ein IT-Start-up die Sportübertragungstechnik revolutionierte – und warum das keinem aufgefallen ist

«War das nun ‹Abseits›?»

Denkt man an erfolgreiche Industrien in der Schweiz, so kommen den meisten Uhren und Nahrungsmittelgrosskonzerne in den Sinn. Aber im IT-Bereich, so die landläufige Meinung, habe die Schweiz weltweit wohl eher wenig beizutragen – ein Irrtum, der grösser kaum sein könnte. Denn auch wenn Facebook, Google und Co. nicht in der Schweiz gegründet wurden: Technik von hier steckt in vielen Dingen, sogar in TV-Sportübertragungen von Fussballweltmeisterschaften.

Die Matrix ist zu teuer

Im Jahr 1999 lief der Film «Matrix» mit Keanu Reeves in den Kinos. Der Blockbuster zeigte spektakuläre Spezialeffekte. Eindrücklich waren vor allem jene Einstellungen, die die Schauspielerin Carrie-Anne Moss während eines Sprunges in einem 360-Grad-Kamera-Flug zeigen. Diese Einstellung faszinierte mich als begeisterter Kinogänger und Informatiker besonders, weil diese Einstellung ganz offenkundig keine «echte» Aufnahme sein konnte. Sie musste ein Produkt aus mehreren sich überlagernden Aufnahmen sein, die später am Computer zusammengefügt wurden. Ich recherchierte und fand heraus, dass man für diese einzelne Einstellung 120 hochpräzis ausgerichtete Kameras kreisförmig um Frau Moss herum aufgebaut hatte. Das Prozedere nennt sich «Bullet Time», es findet seine Anwendungen heute häufig in Hollywood und ebenso in einigen neueren Computerspielen. Damals war es eine 3-D-Revolution.

Als ich herausfand, dass die erste Anwendung sehr aufwendig war, dachte ich darüber nach, wie man die Methode wohl vereinfachen – und: verbessern! – könnte. Nicht nur die Setgestaltung für den perfekten Shot war sehr mühsam und teuer, das System war auch anfällig für Fehler. Passte irgendeine Kleinigkeit während der Aufnahme nicht, so musste der Dreh vollständig wiederholt werden. Carrie-Anne Moss, die damals noch nicht so bekannt war wie heute, mag nicht allzu teuer gewesen sein, aber wenn man als Regisseur Keanu Reeves 3mal für den richtigen Sprung einladen muss, so geht das ziemlich schnell ins Geld. Ich überlegte also noch während meines Studiums, wie diese Technik verfeinert werden könnte. Damit war der Grundstein für ein Zürcher Start-up gelegt.

Glücklicherweise schaute mein Professor an der ETH, Markus Gross, nicht nur gern dieselben Filme wie ich. Er arbeitete damals auch an sogenannten Telepräsenz-Ideen (eine Art 3-D-Videotelefonie mit vielen kleinen Kameras, für Filmfreunde: eine Art «Holodeck», wie in «Star Trek») und riet mir, mein Interesse in eine Dissertation für das Computergraphik-Labor einfliessen zu lassen. Er war es auch, der dann eines Tages zu mir kam und fragte, ob ich mich nicht unternehmerisch versuchen wolle, indem ich die Forschung, die ich für meine Dissertation betrieben hatte, fruchtbar machte. Markus Gross schwebte vor, seine Post-Docs nicht – wie typisch für Informatiker – in grossen Banken oder Versicherungen unterzubringen, sondern ihnen den «Entrepreneurial Spark» einzupflanzen. Er wollte sie zu Unternehmern in Eigenregie machen. Gross, der heute für Disney das Zürcher Büro, eines von nur drei Disney-Forschungslabors auf der Welt, leitet, hat viel Erfahrung darin, Jungs, die von Holodecks träumen und neuste Hollywoodfilme in 3-D schauen, zu ihrer Chance als Unternehmer zu verhelfen. Wie aber überträgt man die Ideen aus Hollywood-Sciencefiction in die nichtvirtuelle Realität Zürichs? Ganz einfach: man liebt zuerst einmal den Fussball.

Neo trifft Puyol

Als Jungunternehmer, so Markus Gross, musst du in dich hineinhorchen und deine eigenen Leidenschaften ausloten. Bei meinem Freund Christoph Niederberger und mir war diese Leidenschaft der Fussball. Aktiv wie passiv: wir haben gemeinsam viel gespielt und dann auch gemeinsam Fussball geschaut. Und als wir eines Abends zusammensassen, vor dem Fernseher, und eine eher mittelprächtige Partie schauten, kam uns unsere Geschäfts­idee. Die Initialzündung kam aus dem Abseits: Damals war das Fernsehen nicht in der Lage, den Schiedsrichterpfiff bei Abseitsentscheidungen schlüssig aufzulösen. Sie kennen die Fragen vor der Mattscheibe vielleicht noch: War das nun Abseits? Oder hätte es ein Tor geben müssen?

Die Kameras im Stadion bewegen sich zwar schon seit mehreren Jahren aktiv hinter dem Ball her, sie stehen aber weiterhin fix an einer Stelle. Dadurch entsteht in vielen Fällen, vor allem bei heiklen Abseitsentscheidungen, ein Perspektivenproblem: Es lässt sich so gut wie nie – selbst wenn gutes TV-Material für die Wiederholung vorliegt – sagen, ob der jeweilige Pfiff berechtigt war oder nicht. Auch die eingeblendeten virtuellen Linien, an die wir uns bei Übertragungen schon gewöhnt haben, können das oft nicht genau auflösen. Was also lag für den begeisterten Informatikingenieur näher, als ein Kamerasystem zu entwickeln, das Schiedsrichterentscheidungen vom Abseits bis zum potentiell nächsten Wembley-Tor nachvollziehbar machen kann?

Man braucht hierzu prinzipiell bloss die Perspektive des Linienrichters. Der steht auf der Höhe des vorletzten Spielers und kann – sofern er aufmerksam ist und an der richtigen Stelle steht – sehen, wer mit welchem Bein im Abseits stand. Unsere Idee war es also, ein System zu entwickeln, das den Zuschauern genau zeigen kann, ob der Linienrichter richtig lag. Da es zu aufwendig war, eine Kamera zu entwickeln, die stets auf Höhe des Linienrichters ist, mussten wir einen Umweg gehen, der potentiell weniger Aufwand bedeutete, da wir die Vorarbeit bereits im 3-D-Bereich an der ETH geleistet hatten. Wir entschieden uns, die Sicht des Schiedsrichters in 3-D zu simulieren, indem wir – wie in «Matrix» – mit verschiedenen Kameraperspektiven arbeiteten, deren Aufnahmen «zusammengefügt» ein realistisches Bild vom Geschehen auf dem Platz «nachzeichnen» – aus Perspektiven, die nicht von den Kameras abgedeckt werden.

Das Fernsehen stellt für eine Übertragung viele Kameras in ein Fussballstadion. In der Schweiz normalerweise 6 bis 8, im Ausland bis zu 30. Diese Kameras sollen das Feld möglichst gut abdecken. Da sich die Kameraleute mehr oder weniger immer für den Ball interessieren, ergänzen sich die Blickwinkel zum Glück sehr gut, denn wir arbeiten bis heute ausschliesslich mit den echten Videobildern des Fernsehens. Jedes Spielfeld und jede Kamera muss vor der Übertragung vermessen werden. Das bedeutet im Vorfeld viel Rechenarbeit: Von den Kamerawinkeln über die Masse (die Fifa-Norm ist 105 x 68 Meter, aber viele Plätze weichen davon ab) bis zur Krümmung des physischen Spielfeldes (wegen dem Regenwasser) musste alles in unser System eingetragen werden. Sogar die Farben der Leibchen der Spieler auf dem Feld mussten in unsere Berechnungen einfliessen. Dann programmierten wir eine Software, die in der Lage war, aus den gesammelten Videodaten ein 3-D-Bild von Stadion, Feld und Spielern zu erstellen. Die simulierte Perspektive aus verschiedenen Videos lässt sich dabei – wie bei einem Computerspiel – mit einem Joystick oder einer Computermaus verändern. Statt also einen Kamerakran oder eine Drahtkamera (Spidercam) einzusetzen, wie man sie im Stadion kennt, waren wir nun ganz ohne viel Aufwand in der Lage, jede Situation in jedem Moment des Spiels aus neuartigen Perspektiven nachberechnen und für den Zuschauer fast unmerklich simulieren zu lassen. Im Jargon nennt man das «Interpolation». Aus realen Bildern und 3-D-Informationen wird dabei ein «gemischtes» Bild erstellt, das allen «echten» Bildern, die man herkömmlicherweise aus Sportübertragungen kennt, gleichgestellt und für den Zuschauer ununterscheidbar von den Kamerabildern ist. Das Ergebnis war überzeugender als jede Matrix.

Heute sind wir so weit, dass unser System die einzelnen Mannschaften und ihre Spieler anhand ihrer Trikots selbständig erkennen kann. Vonnöten sind dafür viele Algorithmen, die in der kurzen Zeit vom Spielstreitfall bis zur Wiederholung das Bild HD-tauglich errechnen. Ein Operator kann aber – sofern er bei der Berechnung einen Fehler feststellt – auch noch Einspruch erheben, wenn das generierte Bild in Ausnahmefällen eine falsche Berechnung durchgeführt hat, sprich: wenn die Software einen Puyol statt einen Messi ins fertige Bild zauberte.

Forschungsvorsprung ETH

Die Forschung hierfür begann schon 1999 an der ETH. Wir konnten für unser neues Unternehmen also vom dort gesammelten Know-how profitieren und hatten ein Umfeld, das auf unsere Fragen kompetent zu antworten wusste. Einige Komponenten aus der ETH-Forschung haben wir für unser Unternehmen LiberoVision auch übernehmen können – auf andere haben wir aber bewusst verzichtet, weil wir wussten: Wir können es besser. Was uns aber letztlich einen Marktvorsprung sicherte, war unsere Herangehensweise. Wir haben von Beginn an gesagt: Wir können das. Während andere sagten: Wir versuchen das. Der Glaube an sich, gepaart mit den Experten der ETH und der nötigen Menge Kreativität – Stichwort: Holodeck –, sorgte für ein Ergebnis, das heute bei vielen Sportereignissen auf der ganzen Welt zum Einsatz kommt.

Zur Umsetzung einer guten, aber komplizierten Idee braucht man auch keine Riesenunternehmen und Millionenbudgets, sondern das richtige Umfeld und Durchhaltevermögen. Was die Ausbildung angeht, ist die Schweiz mit den ETHs international in der Spitzengruppe. Sie zieht auch die besten Studenten an – leider existiert aber das unternehmerisch-fördernde Umfeld an den Schweizer Hochschulen noch immer an zu wenigen Orten. Zwar hat man verstanden, dass junge Leute und ihr Wissen auch durch die Universität unternehmerisch genutzt werden können und dies auch ein gutes Licht auf die Institutionen wirft, die sich hier engagieren. Trotzdem bleibt es vielerorts bei blossen Absichtserklärungen. Eine der grossen Ausnahmen ist hier das Venture Lab vom Institut für Jungunternehmen, das uns als Jungunternehmern stark unter die Arme gegriffen und uns auch einiges beigebracht hat.

Der grösste «Coach» war aber Markus Gross. Er hat uns auch im richtigen Moment Feuer unter dem Hintern gemacht. Innerhalb von 3 Monaten hatten wir 2006 unseren ersten Prototypen gebaut, mit dem wir dann das universitäre Umfeld verlassen und potentielle Kunden und Investoren finden sollten. «Es gibt immer Geld für gute Ideen», sagt man. Das stimmt aber nicht. Wer wie wir auf der Suche nach Investoren ist, ist dabei starken Zyklen unterworfen. Hier ist das bodenständige Element der Schweiz ein bestimmender Faktor: Das Geld liegt hier nicht – wie vielleicht in den USA, wo jedes erfolgreiche Start-up das Ergebnis dreier gescheiterter ist – auf der Strasse. Das Projekt muss daher rundum gut geplant sein und zum richtigen Zeitpunkt lanciert werden.

Wir hatten unsere Hausaufgaben gemacht: Die EM 2008 stand vor der Tür, wir hatten einige Preise für unsere Ideen und Prototypen gewonnen. Vor allem die Venture-Preise haben uns genützt, denn wer einen solchen Preis erhält, erhält damit gleichzeitig enorme Reputation. Die Preise sind Mittel zum Zweck – es ist für junge Unternehmer immer besser, Kunden zu gewinnen statt Preise. Aber man kennt dich schon, wenn du Preise hast, Investoren kennen dich schon – du musst nicht mehr hinstehen und sagen: Hallo, ich bin der Stephan, ich habe da ein Unternehmen…

Man sagt zu dir: «Oh Stephan, deine Ideen klingen gut. Erklär uns, wie du zum Erfolg kommst.» Die ETH-Spin-offs der letzten Jahre haben auf diesem Wege Hunderte von Arbeitsplätzen in der Schweiz generiert. Und obwohl darüber hinaus auch viel passiert, wird unserem IT-Sektor zu Recht zum Vorwurf gemacht, letztlich doch bei einer KMU-Industrie stehenzubleiben. Viele Investoren – vor allem diejenigen aus den USA – fallen aus allen Wolken, wenn du sie nach einer Finanzspritze von vielleicht 2 Millionen Franken fragst. Die schütteln mit dem Kopf und sagen: «Zwei? Aber wieso denn nicht zwanzig?!» Und sie meinen das bierernst.

Unternehmer bist du oder nicht

Wir haben unsere Firma mit weniger als einer Million Schweizer Franken aufgezogen, total. Nicht nur das Risiko- und Wissenskapital und seine Nutzung spielen aber für den Erfolg eine Rolle. Das kommerzielle Verständnis für das, was dich ganz persönlich interessiert, spielt mindestens ebenso sehr in das Projekt hinein. Wer nämlich seine Ideen nicht verkaufen, sondern bloss vermitteln will, der klassische Computer-Nerd, der ist auf dem Markt nicht gut aufgehoben. Viele Professoren pushen auch deshalb wohl ihren Nachwuchs in eine akademische Laufbahn, sprich: zu den Papers, die zu schreiben sind, statt in ihr eigenes Unternehmen, denn damit gehen auch erstere das geringere Risiko ein. Wer den Post-Doc-Jungunternehmer pusht, der nachher nicht erfolgreich ist, hat nämlich nicht nur Geld in den Sand gesetzt, sondern von seinem Nachwuchsgenie nicht einmal Papers in der Schublade, die zur Veröffentlichung taugen – man hat also eventuell nicht einmal akademische Arbeits- oder Leistungsnachweise.

Umso wichtiger sind für uns die unternehmerischen Leistungsnachweise, die auch auf die ETH zurückfallen. Berühmt wird man zwar als Informatiker nicht, denn auch wenn die amerikanischen Super-Bowl-Spiele, der Fussball-WM-Final und einige andere Riesenevents nun mit Schweizer Technik vom Weltmarktführer noch detaillierter und facettenreicher nach Hause übertragen werden, weiss niemand: Es stecken letztlich zwei ETH-Doktoranden dahinter, die gern Hollywoodfilme schauen. Das ZDF aus Deutschland und ESPN aus den USA gehören zu unseren Kunden. 50 Prozent unseres Umsatzes machen wir in den USA, ohne dort eine Niederlassung zu haben.

Gerade haben wir unsere Firma verkauft. Die geplante Expansion nach Lateinamerika und Asien wäre mit unseren Mitteln aus der Schweiz heraus nicht möglich gewesen. Wir brauchten irgendwann einen Partner, der unser Produkt global vertreibt. Das norwegische Unternehmen, das uns nun gekauft hat, Vizrt, hat 600 Mitarbeiter und 34 Sales Offices auf der Welt – ein geeignetes Netzwerk, um mit uns weiter zu expandieren. Vizrt ist Weltmarktführer in unserem Bereich. Eines Tages kam deren CEO zu uns, setzte sich und sprach zunächst von einer interessanten Partnerschaft zwischen unseren beiden Unternehmen. Er sagte aber auch: «Wisst ihr, ihr habt das beste Tool auf dem Markt.» Und dann: «Seid ihr bereit für einen Exit?»

Ein echter Exit ist es nicht geworden. Heute sind wir Angestellte unseres eigenen Betriebs in grösserem Rahmen. Und wir sind heute da, wo wir immer hin wollten: Unsere Ideen sind weltweit erfolgreich, die Kunden zufrieden. Vielleicht wären wir noch viel grösser geworden, wenn wir gedacht hätten wie Mark Zuckerberg – obwohl, der hat ja jetzt auch seine Probleme. Da sind wir eben schweizerisch: klein beginnen – und dann mal schauen, wohin es geht. Immerhin haben wir es erreicht, dass man bei Abseitsentscheidungen nicht mehr über den Pfiff an sich diskutieren muss, sondern nun Zeit hat, die Regel der Liebsten zu erklären.

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Einsen und Nullen: Unsere Informationsgesellschaft

Diese Zeilen erschienen auf bedrucktem Papier. Sie mögen dieses Leseverhalten als veraltet empfinden. Und obwohl Sie damit nicht allein wären, haben wir darauf verzichtet, im Heft nur einen QR-Code zu drucken. Sie wissen schon, diese briefmarkenähnlichen Pixelbilder, auf die Sie dann Ihr Mobilgerät hätten halten können, um via App direkt auf dieser Website zu landen. […]

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