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Wahrheit gibt es. Augenblicksweise

Martin Walsers «Der Augenblick der Liebe» Alt geworden ist Gottlieb Zürn – bekannt schon aus zwei Romanen zuvor – in Martin Walsers neustem Buch. Doch die Wiederaufnahme der Erzählung von Sehnsucht und Enttäuschung ist so
erfrischend geschrieben, dass der Rezensent auf Fortsetzung hofft.

Ein Mann wird älter: die Sechzig hat er hinter sich gelassen, die Kinder sind aus dem Haus, und ein allenfalls durch Grübeleien oder leichte Schreibtischarbeit unterbrochenes Nichtstun bestimmt den gleichförmigen Tagesablauf. Gottlieb Zürn heisst dieser von (Selbst-)Zweifeln jeder Art heimgesuchte Held, und Martin-Walser-Leser kennen ihn als Vertreter eines vertrauten Figurenarsenals. Er gehört zum Clan der Halms, Zürns und Horns, die seit langem den Bodenseeraum bevölkern und in Walsers Romanzyklen das Gruppenbild einer weitverzweigten Familie mit eigenwilligen Charakteren abgeben.

«Das Schwanenhaus» (1980) und «Jagd» (1988) sind die vorausgegangenen Gottlieb-Zürn-Geschichten. Sie hielten fest, wie der promovierte Jurist unter den Anforderungen seines Brotberufs als Immobilienmakler litt, sich von den Demütigungen seiner cleveren Kollegen Schatz und Kaltammer freimachen wollte und – dank seiner resoluten, geschäftstüchtigen Ehefrau Anna – das zähe Ringen um traumhaft gelegene Seevillen aufgab. Ein Dutzend Jahre sind seit diesem Schritt in den Vorruhestand verstrichen, als «Der Augenblick der Liebe» einsetzt, und doch wirkt die Szenerie so, als seien seitdem nur wenige Nachmittage ins oberschwäbische Land gegangen. Gottlieb Zürns «Scheinleben» wirkt zeitentrückt, von den Zumutungen der Welt kaum berührt. Politische Ereignisse erregen den segelnden Eigenbrötler nicht, und auch die familiären Katastrophen, die ihn in «Jagd» noch in Atem hielten, sind auf ein erträgliches Mass reduziert.

Dennoch: Gottlieb Zürn hat im Lauf der Zeit nicht entscheidend an Gelassenheit und Altersweisheit gewonnen. Der Kaffeebesuch einer Doktorandin, Beate, genügt, um den Alt-Makler aus der Fassung zu bringen. Die attraktive Frau becirct ihn im Handumdrehen, denn sie versteht es, Gottliebs intellektuellem Ego zu schmeicheln. Ihr Promotionsthema – die deutschsprachige Rezeption des französischen Arztes und Philosophen Julien Offray de La Mettrie – brachte sie darauf, dass Gottlieb Zürn die Anfänge seines Frührentnerdaseins dazu genutzt hatte, zwei Aufsätze über La Mettrie zu veröffentlichen. Der «Privatgelehrte» Zürn zögert nicht lange, die Einladung zu einer Tagung nach Berkeley anzunehmen, wo La Mettries 250. Todestag akademisch gewürdigt werden soll. Walser-Kundige ahnen rasch, dass Gottlieb Zürn sich dabei nicht nur von historischen Interessen leiten lässt. Wie schon in «Jagd», gerät sein Liebeshaushalt durcheinander, und bald steht ausser Frage, dass Gottlieb dieser erotischen Versuchung nachgeben wird. Walser beschreibt in der Folge ein Wellental der Gefühle, das man zu kennen glaubt und das selbstverständlich zum Chaos führt.

Spiegelung in La Mettrie

Zürn ist eine lächerliche, ja unsympathische Figur. Zürn ist eine tiefsinnige, ja sympathische Figur. Martin Walsers Erzählkunst besteht darin, diese beiden Sätze glaubhaft zusammenzuführen und sie in klassisch dia-lektischer Weise auf ein höheres Niveau zu heben. Widersprüche und Selbstwidersprüche bestimmen die Gedanken und Empfindungen Zürns, und sie machen letztlich das Gesamtgefüge der Welt aus, dem nicht zu entrinnen ist. Ideologien und «Meinungen» helfen nicht weiter. Wer sich ihnen anvertraut, wird dem Paradox des (eigenen) Lebens nicht gerecht, und Gottlieb Zürns Grösse besteht darin, sich diesem nie endenden Kampf – auch um den Preis des Sich-lächerlich-Machens – zu stellen.

Zum Gewährsmann dieser Auseinandersetzung wird der unkonventionelle Denker La Mettrie, dessen Arbeiten gern auf einen planen Materialismus reduziert werden. Gottlieb Zürn und Martin Walser wissen genau, warum sie sich auf diesen Mann beziehen, der permanent vor seinen Widersachern flüchtete. Zürns Berkeley-Vortrag betont La Mettries Ansatz, dass allein die Empfindung als Erkenntnisquelle tauge und sich Lebewesen nur durch unterschiedliche Organisationsformen der Materie voneinander abhöben. Über die Erfahrung könne nicht hinausgegangen werden, und kein staatlicher oder religiöser Überbau sei geeignet, daran etwas zu ändern. La Mettries Schreiben fasziniert den unsteten Räsoneur Zürn. Seine Lebensspanne erweist sich als Abfolge von Irrungen und Wirrungen. Man kann diese zu Lehrsätzen und Gedankensplittern komprimieren – und weiss gleichzeitig, dass neue Erfahrungen die Gültigkeit des eben Gedachten wieder in Frage stellen. «Sich von Büchern entdecken zu lassen», auf diese Weise versucht Zürn Seelenverwandte aufzuspüren, die diesen Umwälzungsprozess erträglicher gestalten. Julien de La Mettrie, der Feind des Normativen, ist einer von ihnen.

Walsers Roman verschränkt diese Ebenen raffiniert. Zürns Geschichte einer jähen Begeisterung mit sich anschliessender Desillusionierung spiegelt wider, was er in den Schriften La Mettries aufspürte. «Das Denken geht den Sätzen nicht voraus, sondern findet in ihnen, durch sie statt», heisst es in Zürns Vortrag, und dies klingt so, als sei damit auch das Schreibprinzip Walsers festgehalten: die mäandrierenden Überlegungen seiner Figuren greifen nicht auf vorgefasste Theorien zurück. Im Sprechen, im Sich-Widersprechen erst ist eine Annäherung an die Wahrheit, an das Denken selbst möglich. Walsers Sätze wollen das Unerreichbare: die Unschuld des Weltumgangs zurückerlangen. Beates Vorliebe für «Wörter, die etwas eindeutig offenbarten, ohne dass sie das, was sie offenbarten, aussagten» – als Beispiel dient «Frühling» –, bezeichnet das Verlangen nach einem erfüllten Moment, der «eindeutig» ist und gleichzeitig keiner eindimensionalen «Aussage» folgt.

«Der Augenblick der Liebe» ist Teilstück eines grossangelegten Teppichs. Motivwiederholungen kennzeichnen diese Knüpfarbeit, und so ist es nur folgerichtig, dass einzelne Gedankenfäden nach Jahren wortgetreu wiederkehren. «Nichts entspricht einander so innig wie Sehnsucht und Enttäuschung» – wenn Zürn diese Sentenz formuliert, dann zitiert er fast wörtlich ein Fazit, das er bereits in «Jagd» nach einer (natürlich komplizierten) amourösen Unternehmung zog.

Anleitung zum kurzen Glück

Man mag es wenig erbaulich finden, dass dieser Roman kein dauerhaftes Gelingen verheisst und in sich zu kreisen scheint. Walsers Weggefährte Zürn will das Uneindeutige seiner psychischen «Materie» aushalten. Die Liebe treibt ihn um, doch sie ist nur in ausgewählten Augenblicken zu erfahren. «Der Augenblick der Liebe» stellt sich unverhofft ein: zum Beispiel, wenn Beate mit einer Sonnenblume als Gastgeschenk auf die Zürn’sche Terrasse tritt, oder wenn Gottlieb erkennt, dass seine Frau Anna weit mehr für ihn ist als eine resignierte Hausverwalterin, die zu seinen Eskapaden schweigt: «Wahrheit gibt es. Augenblicksweise. Diese Augenblicke heissen Glück. Und sobald wieder die Verheimlichungspflicht regiert, herrscht das normale Unglück. Dafür zahlt man. Also ist dem Unglücklichen kein Vorwurf zu machen.»

«Der Augenblick der Liebe» ist eine grossartig erzählte Anleitung zum kurzzeitigen Glücklichsein, geschrieben von einem Autor, dessen Bücher partout nicht in die Schublade «Alterswerke» passen. Manchem jungen Autor wäre es zu wünschen, zumindest einen kleinen Teil der Walser’schen Vitalität und Erzähllust zu besitzen. Vergessen macht dieser Roman – der erste, der im Rowohlt Verlag erscheint – übrigens auch die kleinkarierten und im nachhinein so beschränkt anmutenden Vorhaltungen, die Walser vor zwei Jahren für seinen gründlich missverstandenen «Tod eines Kritikers» erntete. Die Angriffe einer vorurteilsbehafteten, zum Teil aufgehetzten Kritik sind an Martin Walser nicht spurlos vorübergegangen, und so verwundert es nicht, dass auch «Der Augenblick der Liebe» auf diese Gefechte anspielt. La Mettrie erscheint als geächteter Philosoph, den die Anfeindungen seiner Gegner bis ins Mark erschüttern. Der La-Mettrie-Spezialist Zürn spricht auch in Sachen Martin Walser: «Das gibt es ja bis heute, dass Intellektuelle, die es zu Ansehen, also Einfluss, also Macht gebracht haben, einen anderen Intellektuellen, der ihnen nicht liegt, aus der Branche ausschliessen möchten.»

Und am Ende? Wieder einmal schenkt der Bodensee, dessen «pubertäre Macke» des plötzlichen Aufbrausens und Abflauens an Wesenszüge Gottlieb Zürns gemahnt, Phasen des Innehaltens. Beim Segeltörn mit Anna versenkt sich Zürn noch einmal in die La-Mettrie-Lektüre und findet Gefallen an einer Fussnote, die Blaise Pascal gilt. Eine neue literarische Wiederentdeckung bahnt sich an: «Gottlieb fühlte sich entdeckt. Von Pascal!» Keine Frage: auch mit diesem Philosophen liesse sich der Gottlieb-Zürn-Kosmos grundieren und ausschmücken. Fortsetzung folgt, hoffentlich.

Martin Walser, «Der Augenblick der Liebe», Roman. Rowohlt, Reinbek 2004.

Rainer Moritz, geboren 1958, ist Literaturwissenschafter und Kritiker. Von Mai 1998 bis Juni 2004 war er Programm-Geschäftsführer des Hoffmann und Campe Verlags. Im Herbst dieses Jahres übernimmt er die Leitung des Hamburger Literaturhauses. Zuletzt veröffentlichte er «Mit Proust durch Paris» und «Lieber an Cleversulzbach denken. Hermann Lenz und Eduard Mörike».

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