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Wahrhaft befreiter Glaube

Viele sehnen sich nach einer christlichen Leitkultur. Aber taugt Jesus Christus wirklich als Fundament einer solchen Kultur?

Anders als die Füchse hatte – gemäss biblischem Zeugnis – der Menschen- und Gottessohn nicht einmal eine Höhle, um sich darin zur Ruhe zu legen. Später soll er aus einer Grabeshöhle auferstanden sein. Seine Nachfolger, «derer die Welt nicht würdig war» , irrten in Höhlen und Klüften umher (Hebr. 11, 38). Der Christus scheint es mit den Höhlen zu haben. Man begibt sich auf der Suche nach ihm also ins Höhlensystem des Zürcher Aggloquartiers, in dem ich als Pfarrer tätig bin.

Da ist, Höhle eins, die Wohnung des ghanesischen Leiters einer evangelikalen Migrantengemeinde, extrem klein, den Lärmimmissionen der vierspurigen Überlandstrasse ausgesetzt. Der Mann ist überzeugt, Europa sei Stätte des Satans. Das hiesige Christentum sei vom Herrn abgefallen, habe die Gebote Gottes vergessen. Meine unbedachte Bemerkung, ich lebte mit einer Frau zusammen unter demselben Pfarrhausdach, ohne mit ihr verheiratet zu sein, bestätigt sein Bild. Die Idee, ich könnte einmal in seiner Gemeinde einen Gottesdienst gestalten, weist er von sich.

Man wandert weiter, zu Höhle zwei. Am Stammtisch der Dorfkneipe sitzen Männer mit SP- und SVP-Parteibüchlein. Die Gesinnungen sind sich über die V-Kluft hinweg ähnlich. Die Anti-Minarett-Initiative ist von allen befürwortet worden. Die Muslime, lautet der Tenor, haben sich anzupassen. Hier, heisst es, hier bei uns haben wir christliche Werte. Nur: was sind das eigentlich, christliche Werte? Diese Männer haben nichts dagegen, dass ich im Konkubinat lebe. Ich bin akzeptiert, bin einer von ihnen. Für sie bilden christliche Werte eher so etwas wie die gefühlte Bastion gegen fremdartige Farben, Gerüche, Klänge. Gegen Döner, Burka und dunkle Haut.

Ich kehre, schliesslich, ein in Höhle drei: meine eigene, die Studierstube des Pfarrers, wo ich mich in dunklen Folianten auf Spurensuche begebe. Der grosse Karl Barth, bedeutendster protestantischer Theologe des letzten Jahrhunderts, ritt zur Zeit des Nationalsozialismus scharfe Attacken gegen das deutsche Luthertum. Der Schweizer Reformierte zog dreist eine direkte Linie vom Reformatoren Martin Luther zum Diktatoren Adolf Hitler. Den Sündenfall sah Barth in Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die davon ausgeht, dass es einen geistlichen Bereich gebe, in dem das Evangelium regiere, und einen weltlichen, in dem das Gesetz herrsche.

Das Problem dieser Konzeption liegt nach Barth darin, dass die ganze politische Dimension aus dem Herrschaftsbereich Christi ausgelagert werde. In dieser Weise ausser Kontrolle geraten, habe sich dann das deutsche Heidentum wildwuchernd ausgebreitet – mit all den bekannten finsteren Folgen. Barths Kritik traf den Nerv der Zeit. Es dauerte eine Weile, bis die deutschen Theologen ihren Humor wiederfanden. Als es soweit war, wies man darauf hin, dass Barth den durch die drei Schweizer Urkantone symbolisierten Idealstaat möglicherweise etwas zu nahe an die Trinität gerückt habe – und traf damit wiederum die Achillesferse der Barthschen Konzeption. Denn wenn das «Reich Gottes» und das «Reich dieser Welt» fusionieren, ist das Resultat der Gottesstaat.

Der Angst vor dieser Vision des Terrors kann ich mich, am Ende meiner kurz skizzierten Höhlenexkursion, nicht ganz entziehen. Es bedarf, um diese Angst zu schüren, keiner Muslime. Die fundamentalistische und rigid legalistische Auslegung des Christentums in vielen Migrationskirchen genügt. Sie macht mir deutlich, wie gern ich in dieser sogenannten Stätte des Satans wohne, die ich subjektiv als Ort der Freiheit erlebe und als solchen für unbedingt schützenswert halte. Das sage ich nicht als Kirchenmann, sondern als Staatsbürger bzw. als Mensch im ganz ursprünglich-nackten Sinn.

Und wenn ich nun Luthers und Barths Konzeptionen aus dieser meiner Höhlenmenschenperspektive betrachte, dann scheint mir die Zwei-Reiche-Lehre Luthers viel eher den gesuchten Schutz zu gewähren als Barths Doktrin von der totalen Gottesherrschaft. Man tut gut daran, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist. Was von dort kommt, lässt einen – trotz berechtigter Skepsis – oft tiefer atmen als das, was scheint’s im Namen Gottes geschieht.

Die christlichen Kirchen haben in der Geschichte durchaus kein ungebrochenes Verhältnis zu Themen wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit an den Tag gelegt. All diese Themen sind viel eher Errungenschaften aufgeklärter Emanzipation vom christlichen Glauben als dessen unmittelbare Emanationen. Christliche Dogmatik sieht in den Menschenrechten zum Teil bis heute Früchte der Hybris, die nicht um die Gefallenheit menschlicher Existenz weiss. Indessen könnten die Kirchen, selbst wenn sie wollten, die liberalen Grundrechte, auf denen der Staat hierzulande basiert, nicht mehr antasten. Gott sei Dank, möchte man sagen. Doch eigentlich hat man dem Reich dieser Welt zu danken.

Immerhin könnte man dem Christentum zugutehalten, dass es dem Reich dieser Welt den Freiraum gewährte, den es gebraucht hat, um sich zum liberalen Rechtsstaat zu formen. Der Ursprung dieser Entwicklung liegt just am Ursprung des Christentums selbst: am Ostermorgen, wo die Frauen zur Grabeshöhle gehen und vom Engel informiert werden: «Er ist nicht hier!» Am Anfang des Christentums liegt also eine Vakanz. Sie eröffnet den Menschen einen Freiraum, den es nach eigenem Belieben zu gestalten gilt.

Fortan liegt unser Schicksal in unserer Hand. Wir sind die Freigelassenen der Schöpfung. Es gibt sie nicht mehr, die göttliche Weisung, den leitenden Arm, den lenkenden Stab des guten Hirten.

Dies wäre, in Luthers Zwei-Reiche-Konzeption, zumindest die weltliche Perspektive. Daneben gibt es die göttliche bzw. Christus-Perspektive. Sie führt – in genau dieselbe Richtung. In einer Osterpredigt führt Luther aus, dass das, was für Christus gelte, auch für dessen Nachfolger Gültigkeit habe. Auch deren Name lautet: «Non est hic», «er ist nicht hier»: «Ein Christ soll da sein, wo Christus ist. Christus aber ist nicht hier, also kann ein Christ auch nicht hier sein. Darum kann kein Mensch Christus oder einen Christen in gewisse bestimmte Regeln fassen.»*

Der Christus ist nicht hier. Mit ihm entschwinden auch wir. Was zurückbleibt, sind, sagt Luther, «lauter Hülsen»: «weltliche Gerechtigkeit, Weisheit, Frömmigkeit, Gesetz und was des Dings mehr ist», und weiter: «Auch alte Gewohnheiten und Bräuche, Väter, Juristen, weise Leute, fromme Leute und was sonst mehr sein mag, sind alles lauter Hülsen. Es heisst immer: Nicht hier!» (ebd.)

Hier ist die antinomistische Tendenz des Christentums auf den Punkt gebracht. Es mag den Leiter der Migrations-kirche irritieren und die Männer vom Stammtisch befremden, doch auf dem Fundament dessen, der «nicht hier» ist, lässt sich auch für frömmste Fundamentalisten keine Leitkultur errichten. Es gibt sie nicht, die christlichen Werte. Wer lange genug sucht, wird sie alle verlieren – und frei werden, endlich frei wie jener Menschensohn, der zeitlebens keine Höhle haben wollte, weil er sich darin gefangen vorgekommen wäre. Jener Gottessohn, den weder Tod noch Stein in der Grabeshöhle zurückhalten konnte.

Und übrigens: Wir brauchen sie auch gar nicht, die christlichen Werte. Wir haben doch den Rechtsstaat. Er ist, scheint mir, Leitkultur genug.

* Martin Luthers Evangelien-Auslegung, fünfter Teil: Die Passions- und Ostergeschichten aus allen vier Evangelien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1961, S. 299.

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