Wahr, aber nicht richtig
Zahlen können einen genauso in die Irre führen wie Worte. Ein Mathematikolympionike verrät, wie Sie Fehlschlüssen vorbeugen können.
Zahlen eignen sich sehr dazu, Diskussionen sofort abzuklemmen. Was will man einer Zahl entgegnen? Es gibt keine Nuancen, keinen Interpretationsspielraum. Eine Zahl ist, was sie ist. Oder?
Wenn man genau hinblickt, sind Zahlen leider nicht viel anders als Worte: Sie entfalten Macht und sie erhellen die Welt, aber sie können auch eingesetzt werden, um Schaden anzurichten. Zahlen können Sie fehlleiten – auf ganz unterschiedliche Weisen.
1. Fehlender Vergleich
«Die Nachricht, dass unsere Arbeitslosenrate auf ihr tiefstes Niveau seit 2008 gefallen ist, zeigt, dass New York in Bewegung ist», jubilierte Andrew Cuomo, der Gouverneur des Bundesstaats, im Herbst 2014. Die Zahl, die er nannte, stimmte, nur 6,2 Prozent der New Yorker Erwerbsbevölkerung waren zu jenem Zeitpunkt arbeitslos. Was Cuomo allerdings nicht erwähnte, war eine andere Zahl: dass nämlich die Arbeitslosenrate in den gesamten Vereinigten Staaten mit 5,9 Prozent ebenfalls auf einen neuen Tiefpunkt seit 2008 gefallen war. Falls sich New York also tatsächlich bewegte, so tat es dies nicht weniger oder mehr als der Rest des Landes. Die Sache ist: eine Zahl ist für sich alleine genommen oft bedeutungslos. Eine wirkliche Aussagekraft bringt erst der Vergleich von Zahlen.
Mein liebstes Beispiel für entsprechende Fehltritte ist ein Beitrag der Bloggerin Vani Hari (auch bekannt als «Food Babe»), die 2011 eine Warnung für ihre flugreisende Leserschaft veröffentlichte: «Die Luft, die in die Kabinen gepumpt wird, ist kein reiner Sauerstoff, sie enthält Stickstoff, und zwar bis zu 50 Prozent.» Fast 50 Prozent Verunreinigung! Das hört sich grauenhaft an – bis man sich daran erinnert, dass der natürliche Stickstoffanteil der Erdatmosphäre bei 78 Prozent liegt. (Frau Hari hat den entsprechenden Beitrag inzwischen vom Netz genommen.)
2. Unrepräsentative Schlüsse
Nehmen wir an, Sie verteilten an Studierende rund um den Globus einen Fragebogen, der sie zu ihren Werten befragen will. Darin bitten Sie die jungen Leute beispielsweise anzugeben, ob sie mit folgender Aussage einverstanden oder nicht einverstanden seien: «Viel Geld zu verdienen ist für mich eine hohe Priorität.» Nehmen wir nun weiter an, dass 35 Prozent der Studierenden in den USA sich als mit dieser Aussage «sehr einverstanden» erklären – mit Abstand der höchste Wert unter allen entwickelten Ländern. Bedeutet das nun, dass die amerikanische Form des Kapitalismus unsere Jugend offenbar zu fürchterlichen Gierhälsen gemacht hat?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Fragebogen stellen üblicherweise eine ganze Reihe von Fragen. Vielleicht enthielt der oben zitierte auch Aussagen wie «Materielle Sicherheit ist mir wichtiger als persönliche Zufriedenheit» oder «Ich würde Kinder betäuben und ihre Nieren verkaufen, wenn ich damit nur sehr viel verdienen würde» – und die Studierenden in den USA wären bei beiden Aussagen im Mittelfeld gelandet.
Wenn man eine Geschichte erzählen will, fokussiert man verständlicherweise auf jene Details, die am lebendigsten und überzeugendsten wirken. In obigem Fall etwa wäre das für das jeweilige Land jene Antwort, in der die eigenen Studierenden aus der Masse herausstechen. Es wäre jedoch eine numerische Misswirtschaft, nur über jenen einen beeindruckenden Wert zu sprechen, ohne die weniger beeindruckenden zumindest zu berücksichtigen.
3. Nadel im Heuhaufen
Ein damit eng verwandter Trick ist jener, eine einzige aufregende Erkenntnis – die Nadel sozusagen – aus einer Studie herauszupicken, die eigentlich nicht viel mehr ist als ein grosser Haufen von Heu.
Ein Beispiel. Eine Studie in Neuseeland stellte 1998 die Frage: «Macht ein ernsthafter Sturz auf einem Spielplatz Kinder später ängstlicher im Umgang mit Höhen?» Die Ergebnisse waren, dass ein Sturz im Alter von 5 Jahren keine Auswirkungen hatte auf das Angstlevel mit 11 Jahren oder mit 18 Jahren. Ein Sturz im Alter von 5 bis 9 Jahren hatte ebenfalls keine Auswirkungen auf das Angstlevel mit 11 Jahren – schien aber mit einem tieferen Angstlevel mit 18 Jahren zusammenzuhängen. Medien berichteten über diese Geschichte wie folgt: Sorgen Sie dafür, dass Ihre Kinder auf Spielplätzen Gefahren ausgesetzt sind, denn wenn sie sich nie einen Knochen brechen, werden sie zu ängstlichen Jammerlappen heranwachsen. Man hatte hiermit das ganze Heu weggeräumt, bis nur noch die Nadel übrig war – schön sauber versehen mit einem moralischen Piks.
4. Mehr ist einfach mehr
Die Anzahl der Schalterangestellten in amerikanischen Banken ist heute ungefähr gleich gross wie im Jahr 1980. Bedeutet das nun, dass diese Art von Arbeit immun ist gegen technologische Rationalisierung? Nicht zwingend: die Bevölkerung ist in dieser Zeit um 40 Prozent gewachsen. Das bedeutet, dass Schalterangestellte prozentual einen kleineren Teil der erwerbstätigen Bevölkerung ausmachen. Ihre Arbeit wird offenbar weniger nachgefragt.
Es ergibt schlicht keinen Sinn, die Anzahl Schalterangestellte von damals mit der Anzahl Schalterangestellten von heute zu vergleichen. Genauso sinnlos ist es, die Kasseneinnahmen von beispielsweise «The Sound of Music» (1965) und «The Croods» (2013) in unbereinigten Dollarwerten zu vergleichen. Der völlig unbekannte neuere Film wäre dann viel der grössere Hit als der weltberühmte und damals unerreicht erfolgreiche Musicalklassiker, weil er nämlich 187 Millionen statt der 159 Millionen von damals eingespielt hat. Berücksichtigt man allerdings die Kaufkraft, entsprechen die Einnahmen von «The Sound of Music» rund 1,2 Milliarden im Jahr 2013.
Alle diese verbreiteten Fehler haben eines gemeinsam: Sie enthalten keine Unwahrheiten. Doch trotz ihrer faktischen Richtigkeit werden sie die Menschen in die Irre führen. Etwa, wie wenn sie sagen würden, ein Bekannter von Ihnen sei «zweimal» verheiratet gewesen, obwohl er sich insgesamt fünfmal trauen liess. Ihre Aussage stimmt ja – nur lässt Ihre Statistik 60 Prozent der Ehefrauen ausser Acht.
Das ist eine Erkenntnis, die insbesondere für das Zeitalter des Datenjournalismus wichtig ist. Wir brauchen auf den Redaktionen Leute, die nicht nur den Wert einer Zahl überprüfen können, sondern auch ihre Bedeutung. Falls das nicht gelingt, werden wir in den nächsten Jahren eine ganze Reihe von datengetriebenen Geschichten lesen, die in jedem Detail faktisch korrekt sind – aber eben trotzdem falsch.
Originaltitel: «How Not to Be Misled by Data», erschienen auf wsj.com