Wahnsinn! Habsburg in Flammen!
Verloren im «Labyrinth» Gerhard Roths
Der in Graz geborene Romanschriftsteller, Drehbuchautor und Photograph Gerhard Roth ist seit gut dreissig Jahren produktiv und mit zahlreichen Preisen bedacht worden – wenn auch die ganz grossen Ehrungen bisher an ihm vorübergingen. Eigentlich kann man gar nicht weit genug ausholen, wenn man seinem neuen, zu Recht mit dem Unübersichtliches verheissenden Titel «Das Labyrinth» versehenen Roman näher kommen möchte. In ihm geht es um fast alles: um den Wahnsinn und die Sehnsucht danach, auch um die Liebe zwischen Mann und Frau, um grosse Literatur von der Bibel bis zu Kafka und Musil, nicht zuletzt um grosse Malerei von Arcimboldo, El Greco und Velázquez bis Goya und weiter zu künstlerischen Hervorbringungen kreativer Schizophrener, auf die Leo Navratil eindringlich hingewiesen hat. Vor allem geht es um die Geschichte des Hauses Habsburg seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich naturgemäss mit der Entwicklung Österreichs seit 1918 bis heute vielfach überlappt – auch der heutige Bundeskanzler kommt im Roman vor. Ein Roth-Kennern nicht unvertrauter bunter Textteppich von grossen Themen, prägnanten Motiven und blitzenden Assoziationen ist dieses «Labyrinth» – doch leider, um es nur gleich zu sagen, hat der Autor diesmal das kunstvolle Verknüpfen der Teppichfäden nicht wirklich bewältigt. In den uferlosen Anspielungen auf Gott und die Welt, in den noch so subtilen und beziehungsreichen Hinweisen auf frühere und womöglich noch kommende Roth-Werke verliert der Leser bald den Überblick – und mit ihm auch das Interesse.
Der Roman beginnt spannend. Die Wiener Hofburg brennt lichterloh, ein wahrer Höllenbrand, als stünde die halbe Welt in Flammen. Wollte hier jemand «ganz Österreich von seiner Geschichte befreien»? Heinrich Pollanzy, der in diesem legendären Riesengebäude wohnende Psychiater und Leiter der berühmten Gugginger Anstalt, argwöhnt sofort, dass sein pyromanisch veranlagter Patient Philipp Stourzh mit diesem Feuer zu tun haben könnte. War er es? Die Geheimnisse häufen sich, im Romangeschehen selbst und erst recht für den Leser, der sich spätestens nach dem ersten von insgesamt sechs «Büchern» fragen muss, welcher Erzählinstanz hier überhaupt noch zu trauen sei. Die Sache verwirrt und verknotet sich auf haarsträubende Weise, ganz in der Manier von Roth-Romanen wie «Der See», «Der Plan», «Der Berg» oder «Der Strom». Nach 15 Seiten Lesegenuss aber wird das Buch langatmig und harzig und leider auch stilistisch ungewohnt schwach. Historische Materialien aller Art – meistens geht es um das Haus Habsburg und seine Repräsentanten seit 15 Jahren – werden, anders kann man es kaum sagen, dem Leser zur Kenntnis gebracht, turmhoch angehäuft und brav heruntererzählt. Klar, dass es ein den Romananfang aufnehmendes Finale geben muss. Und dieses Finale zieht sich: Stourzh reist auf den Spuren seiner Urgrossmutter, die in den Diensten des letzten österreichischen Kaisers Karl und seiner Zita gestanden haben soll, auf die Insel Madeira und weiter nach Madrid, und auch Pollanzy verlässt Wien in Richtung Spanien, begleitet von der zu undeutlich gezeichneten Logopädin Astrid, die mit beiden ein sexuelles Verhältnis zu unterhalten scheint. Kommt es in Toledo zu einer hochdramatischen Begegnung mit Stourzh? Einer «Katastophe» gar? Oder ist alles nur Wahn, und wenn ja: Wer ist hier wahnsinnig? Und was bedeutet das?
Die Antwort darauf wird eine genaue wissenschaftliche Analyse des Textes sicherlich erbringen können, und vielleicht kommt man ihr ja schon durch mehrmaliges intensives Lesen nahe. Sofern man dazu bereit ist, sich die vielen bisweilen faszinierenden Fussnoten vorzunehmen, in denen sich Information und Fiktion oft wunderlich mischen. Sofern man Ludwig II. von Bayern und seine «Sissi« noch nicht genügend kennt und nebenbei auch wissen möchte, wie Otto von Habsburg am Starnberger See denn so wohnt. Sofern man eine Madeira- oder Lissabon-Reise plant und gebildete Reiseführerprosa dazu sucht. Sofern man es erträgt – und das ist nun wirklich eine arge Enttäuschung –, über den berühmten «Don Quijote» oder Fernando Pessoas grossartiges «Buch der Unruhe» Banalitäten zu lesen, über die man bei jeder Proseminararbeit bedenklich den Kopf schütteln würde. Ja, Spanien ist unergründlich wie das Leben selbst, die Meisterwerke des Prado sind es auch, und der Stierkampf ist mysteriös und blutig. Die Geschichte ist ein Labyrinth, so lernen wir, «fast, als erblickten wir sie in einem trüben Wasser», und ihr Studium ist nichts als eine keinerlei Sinn ergebende «Totenandacht». Das mag schon sein. Dass aber Gerhard Roths «Labyrinth» einen eher trüben Eindruck hinterlassen und bestenfalls als halb gelungen zu bezeichnen sein würde, hätte man denn doch nicht gedacht. Warten wir auf seinen nächsten, hoffentlich weniger labyrinthischen Roman!
Gerhard Roth, «Das Labyrinth». Roman. Frankfurt:S. Fischer Verlag, 2 5.
Klaus Hübner, geboren 1953, promovierte in Germanistik und lebt als Publizist und Redaktor der Zeitschrift «Fachdienst Germanistik» in München.