«vorübergehend gleichberechtigt»
Mit unvorhersehbaren Böen brachten die Rechtschreibreform und die bald folgenden Reformen der Reform Ratlosigkeit über die Verlage. Bewährtes wurde zu Bruchholz. Michael Klett, Verleger von Klett-Cotta und des Schulbuchverlags Ernst Klett, berichtet über seine Liebesgeschichte – mit der Sprache – und über den möglichen Ausweg aus der deutschen Sprachverwirrung. Das Gespräch führte Stefan Stirnemann.
«Doch gut/ Ist ein Gespräch und zu sagen/ Des Herzens Meinung» (Hölderlin)
Herr Klett, mit welchem Gedicht beruhigen Sie sich bei großem Ärger?
«Der Nordost wehet, der liebste unter den Winden mir …»
Ist das Richard Wagner, Der fliegende Holländer?
Aber nein, Herr Stirnemann. Das ist doch von Hölderlin, sein Gedicht «Andenken», das mit der wunderbaren Zeile endet: «Was bleibet aber, stiften die Dichter.»
Verflixt. Ich stelle eine andere Frage: Woher kennen Sie die Schweiz?
Ich habe sie früh kennengelernt, als ich direkt nach dem Krieg einige Monate bei meiner Tante in Basel lebte. Dort ging ich auch in die Primarschule.
Und wo gefällt Ihnen unser Land besonders?
Im Hochgebirge, wo es von den Walsern kultiviert wor-den ist.
Zurück zur Literatur, zu Tolkiens «Herrn der Ringe»: Warum soll ich mit Mr. Frodo und Gandalf und Gimli im Buch Bekanntschaft schließen und nicht im Film?
Der Film formt die Phantasie seiner Zuschauer und bindet sie an Bilder, die so etwas wie fulminanten Kitsch darstellen, nicht ohne faschistische Kennungen. Der aus den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts stammende Text ist nicht frei von zeitgeistigen Elementen, die uns zuweilen verstören könnten, wenn das Ganze nicht die Phantasie des Lesers in eine unermeßliche Freiheit der Einbildung entließe.
Sie führen zwei Verlage: den literarischen Verlag Klett-Cotta und einen der drei großen deutschen Schulbuchverlage. Welchen führen Sie mit mehr Liebe?
Diese Frage zu stellen kommt mir vor, als wenn man einen Vater oder eine Mutter fragte, welches ihrer Kinder sie am meisten lieb hätten. Ich weiß hier also nicht, wie ich antworten soll.
Was für einen Auftrag hat die Schule im Reich des Lesens und des Buches?
Genau genommen, keinen. Sie hat den Auftrag, Lesen und Schreiben bei den Schülern als praktische Fertigkeit zu vermitteln. Sie hat ferner den Auftrag, die deutsche Sprache in ihren kulturellen und praktischen Facetten zur Kenntnis zu bringen, was die Interpretation in wissenschaftlich vorgearbeiteter Form an Gedichten und anderen literarischen Kunstwerken mit sich bringt. Aber Lesen als Sache der Faszination, als Antrieb der Selbstentwicklung, als Kompetenz des lebenslangen Lernens ist weder implizit noch explizit Auftrag der Schule, ebensowenig so etwas wie die Liebe zum Buch.
Wenn Sie den Schüler Michael Klett mit einem Schüler von heute vergleichen: hätte er in Pisa größeren Erfolg gehabt?
Der Schüler Michael Klett hätte beim PISA-Test mit Sicherheit schlechter, eigentlich gar nicht reüssiert, denn er hatte durch die Nachkriegsumstände und eine Serie von Krankheiten die Grundschule praktisch nicht besucht.
Ich frage so unvermutet, wie die Sache über uns gekommen ist: Was halten Sie von der Reform der Rechtschreibung?
Überhaupt absolut gar nichts.
Waren Sie von Anfang an dagegen?
Natürlich! Aber ich muß sagen, daß ich mich nicht gleich mit der nötigen Verve gegen den Unfug gestemmt habe. Politiker lassen ja dauernd Ballons steigen, kündigen irgend etwas an oder arbeiten sogar fundiert an allerlei Reformkonzepten, und bald darauf ist alles wieder weg, zerredet, vergessen… Bei solchem Unsinn, dachte ich, würde das ebenso sein. Daß der wachsende Unmut der Bevölkerung über die Reformunfähigkeit der von ihnen gewählten Politiker ausgerechnet mit dem Reformalibi der Rechtschreibung besänftigt werden sollte, wie sich später vermuten ließ, hielt ich für völlig ausgeschlossen.
Was hat Sie 1996 die Umstellung auf die neue Rechtschreibung gekostet?
Der Preis für meine frühe Indolenz war hoch. Auf zwei Jahre verteilt, sind es 17 Millionen DM gewesen für den Schulbuchverlag, weil alle Schulbuchverlage sich ein Konkurrenzgefecht mit der raschen Umstellung ihrer Bücher lieferten, obwohl der Schule und den Verlagen eine lange Umstellungszeit eingeräumt worden war. Den Verlag Klett-Cotta hat es nichts gekostet. Dort wird in der Regel in der herkömmlichen Rechtschreibung publiziert.
Gibt es Zahlen für alle Verlage Deutschlands und der Schweiz?
Mir ist keine verläßliche Gesamtzahl bekannt. Eine Weile lang schwirrten abenteuerliche Schätzungen von aufgrund der Reform möglichen oder eingetroffenen Verlusten herum. Viele kochten da ihr Propagandasüppchen. Ich meine, daß es ungefähr jeden Schulbuchverlag so gebeutelt hat wie den unseren.
Der neue Rat für deutsche Rechtschreibung empfiehlt, die reformierte Getrennt- und Zusammenschreibung weitgehend aufzugeben. Es wird befürchtet, daß ein weitergehendes Aufgeben der Neuregelung die Planungssicherheit der Schulverlage gefährde und hohe Kosten verursache. Wie sehen Sie das?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Auf keinen Fall wird die Planungssicherheit gefährdet, denn es ist anzunehmen, daß die Revision der Reform, wie immer sie am Ende aussehen wird, im Laufe dieses Herbstes vollends verbindlich gemacht werden wird. Zusammen mit der bereits verbindlich erklärten Revision kann für die Schulbücher des kommenden Jahres von Planung ohnehin keine Rede mehr sein. Damit wird bei dieser Terminlinie wohl auch niemand gerechnet haben. Für das Schuljahr 2006/7 wird aber hoffentlich genug Zeit sein, um sich darauf einzurichten. Was die Kosten angeht, so sieht es freilich anders aus. Da werden wir wohl Haare lassen müssen. Zur Dämpfung dieses Problems hatte ich schon einmal vorgeschlagen, daß die großen Verlage ein Kartell für den Übergang vereinbaren und sich dieses genehmigen lassen sollten, also etwa: daß für das erste Schuljahr nach der Revision lediglich die Deutschbücher in den ersten beiden Klassen der Grundschule und der Sekundarstufe revidiert gedruckt werden und ein Jahr darauf die Folgeklassen und so weiter. Die Kultusminister müßten diese Unsicherheit eben eine Weile dulden. Dafür wäre der kulturelle Frieden unter den deutschsprechenden Völkern wiederhergestellt, und die Zeit könnte dann heilen, was nun eben einmal passiert ist.
Was aber, wenn diese Zeitrechnung nicht aufgeht? Es scheint doch, als verlangten die zuständigen Politiker, daß Schüler und Lehrer am ersten August ein Haus beziehen, in dem auf Dauer geflickt und geklopft werden soll. Wie stellen Sie sich zu einem vollständigen Aufgeben der neuen Regeln? Wie hoch wären die Kosten?
Ich kann Ihnen dazu keine Zahl nennen, weil ich nicht glaube, daß auch bei einem vollständigen Aufgeben der neuen Regeln dieselbe blinde Hast losgehen würde wie bei deren Einführung 1997 und 1998. Ein rasches und vollständiges Aufgeben wäre natürlich der Königsweg, und die finanziellen Opfer, die er verlangt, müßten wir in Gottes Namen auf uns nehmen. Mir wäre das jedenfalls lieber als ein sich lang hinziehendes Chaos mit immer neuen Verbesserungen.
Der Dichter Reiner Kunze schrieb: «Das, was geschehen müßte und geschehen könnte, wenn genügend Vernunft zu genügend Macht gelangte, wäre, die Reformschreibung als ‹vorübergehend gleichberechtigt› anzuerkennen, damit keinem, der sie gelehrt bekommen hat und nicht zur bewährten Rechtschreibung zurückkehren möchte, ein gesellschaftlicher Nachteil entsteht, ab der ersten Klasse des neuen Schuljahres aber wieder die Rechtschreibung zu unterrichten, die bis 1998 galt, und diese von neuem als offiziell zu deklarieren. Das Eingeständnis, einen Irrweg gegangen zu sein, würde die Glaubwürdigkeit der Kultusministerkonferenz wiederherstellen.» Was meinen Sie dazu?
Ich teile diese Meinung Reiner Kunzes uneingeschränkt. Das «vorübergehend gleichberechtigt» ist genau diese Art von Übergangsgestaltung, die wir brauchen, um die Sache in Ordnung zu bringen.
Was bedeutet Ihnen die deutsche Sprache?
Sie ist meine Heimat. Das klingt pathetisch, nicht wahr? Aber ich kann es nicht besser sagen. Die seit meinem 6. Lebensjahr andauernde Befassung mit meiner Sprache ist eine Liebesgeschichte, und das nicht nur, weil ich durch sie den Zugang zu einer Reihe anderer Sprachen gefunden habe, toten wie lebenden. Und so kann ich sagen, daß die deutsche Sprache, meine deutsche Sprache, meine Bildung ist.
Vor bald zweitausend Jahren empfahl Seneca seinem philosophischen Freund Lucilius: «Da Du nicht lesen kannst, was Du haben möchtest, ist es genug, zu haben, was Du lesen kannst.» Wie viele Bücher haben Sie?
Ich bin nicht biblioman, bin kein Büchersammler, habe also kein sentimentales Verhältnis zu dem Buch. Und dennoch fühle ich mich wie ein wirklich Reicher, insofern ich nicht weiß, wie viele Bücher ich habe.
Auf einem alten Ex Libris werden die Bücher angeredet: O Bücher, Ihr einzig Edlen und Freien, umgänglichste Lehrmei-ster, die Ihr jedem Suchenden etwas zuteilt, die Ihr alle in die Freiheit entlaßt, die Euch gewissenhaft dienen: Ihr seid die Arche Noah, Ihr seid die wahre Jakobsleiter! (Vos Arca Noe! Vos vera Scala Jacob!) Hätte dieses Lob auch auf Ihrem Ex Libris einen Platz?
Es ist viel mehr als ein Lob, es ist ein Anruf, eine Hommage, eine begeisterte Ehrung! Das Freiheitsverdikt, das in diesem schönen Spruch enthalten ist, sehe ich für mich so, daß das Buch ein Freund ist, der mir immer bleibt, auch wenn niemand mehr mit mir oder für mich wäre. Das heißt, es ist der einzige Begleiter bei radikalem Für-sich-sein, das heißt, es ist die Stütze meiner inneren, und wenn es darauf ankommt, meiner äußeren Unabhängigkeit, und so gesehen Stütze und Begleiter meiner Freiheit.
Ich selber besitze zehn Ex Libris. Drei davon verwende ich, sie stammen von Horst Janssen und stellen zarte Bildmotive vor.
Als Geschäftsmann tragen Sie Verantwortung für viele Mitarbeiter. Wo fühlen Sie sich darüber hinaus verantwortlich?
Man muß Verantwortung tragen für die Gemeinschaft, in der man lebt. Und man muß versuchen, mehr Pflichten für sie auf sich zu nehmen, als man Rechte in Anspruch nimmt. Ich weiß um dieses Ideal, und ich weiß auch, daß ich in diesen Sachen kein Heiliger bin. Aber ich tue eben, was ich kann.
Da ich Verleger bin, trage ich Verantwortung für die Gemeinschaft vor allem im Eintreten für meine Sprache – besonders jetzt, wo sie in Gefahr ist.
Der Nordost wehet,
Der liebste unter den Winden
Mir, weil er feurigen Geist
Und gute Fahrt verheißet den Schiffern.
Geh aber nun und grüße
Die schöne Garonne,
Und die Gärten von Bourdeaux
Dort, wo am scharfen Ufer
Hingehet der Steg und in den Strom
Tief fällt der Bach, darüber aber
Hinschauet ein edel Paar
Von Eichen und Silberpappeln …
STEFAN STIRNEMANN ist Lehrer am Gymnasium Friedberg in Gossau (SG) und Mitglied der Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS, www. sprachforschung.org).
Michael Klett hat wie Reiner Kunze, Adolf Muschg, Theodor Ickler u.a. einen Sitz im Beirat der Forschungsgruppe Deutsche Sprache (FDS). Als im November 2004 in Zürich Reiner Kunze und Klaus Bartels mit dem Preis der «Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur» (STAB) ausgezeichnet wurden, hielt Michael Klett die Laudatio. Eine Sammlung mit den Reden der Feier kann unter stabzh@bluewin.ch bestellt werden.