Vorteil Föderalismus?
Animiert der schweizerische Wettbewerbsföderalismus die Kantone zu einem Abwärtswettlauf in Sachen Regulierung? Empirische Daten zeigen: eher nicht.
Im öffentlichen Diskurs ist die Regulierung zurzeit starker Kritik ausgesetzt. Breite Kreise beklagen die starke Zunahme der regulatorischen Belastung und orten Handlungsbedarf, damit die Wirtschaft vom «Regulierungsdickicht» nicht erdrückt werde. Andere sorgen sich um die Auswirkungen des staatlichen Regulierungseifers auf Rechtssetzungsqualität und Rechtssicherheit. Diesen Bedenken wird entgegengehalten, dass die Anpassungskadenz der Rechtsnormen die logische Folge der allgegenwärtigen technologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen sei. Die Forschungsliteratur zur Regulierung weist jedenfalls nicht zu vernachlässigende Auswirkungen regulatorischer Aktivität auf die Produktivität und das Wirtschaftswachstum nach, womit sie die Bedeutung der Thematik unterstreicht.1
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Einfluss der staatlichen Organisationsstruktur auf die Regulierung. Föderalismus bietet Raum für politische Experimente. Sieht man das auch anhand der Regulierung? Interessanterweise sind die Auswirkungen des Föderalismus auf Rechtsnormen trotz ihrem offensichtlichen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit kaum erforscht. Eine mögliche Erklärung dafür liegt in den mit Regulierung allgemein verbundenen Messschwierigkeiten. Für die Schweiz kommt bei einem Kantonsvergleich erschwerend noch hinzu: Die ermittelten Werte können eine mögliche Verlagerung der Regulierungsaktivitäten zwischen Kanton und Gemeinden nicht erfassen. Wird etwa ein negativer Zusammenhang von Dezentralisierung und Regulierung festgestellt, muss das nicht unbedingt heissen, dass stärker dezentral organisierte Kantone tatsächlich zurückhaltender regulieren, sondern könnte auch einfach bedeuten, dass der Kanton Regulierungskompetenzen auf seine Gemeinden verlagert, womit sich die gesamte Regulierungsaktivität für die Bürger nicht verändert hätte. Ohne Daten zu den kommunalen Regulierungsaktivitäten kann nicht bestimmt werden, welche der beiden Erklärungen zutrifft. Um ein komplettes Bild zu erhalten, müsste zudem die Dynamik zwischen bundesstaatlicher und kantonaler Ebene berücksichtigt werden, die einer schleichenden Zentralisierung unterliegt. Diese Daten existieren heute nicht.
Trotzdem dürften die kantonalen Regulierungsaktivitäten Aufschluss darüber geben, inwieweit der föderalistische Wettbewerb zwischen den Kantonen als «Labore» funktioniert. Kantonale Heterogenität bei den Regulierungen wäre ein starkes Indiz dafür. Im Falle einer Abwesenheit oder Abnahme kantonaler Variation über die Zeit müssten zwei Erklärungen überprüft werden: Sind die Kantone in ihrer Unabhängigkeit vom Zentralstaat seit Beginn oder im Verlauf vermehrt beschnitten worden? Gibt es Indizien dafür, dass sich Kantone in einem Abwärtswettlauf («Race to the Bottom») hinsichtlich Regulierungsstandards befinden? Der zweite Einwand wird insbesondere von der neoklassischen Kritik am Regulierungswettbewerb vorgebracht.
Race to the Bottom im Regulierungswettbewerb?
Basis dieser Kritik bildet das Modell des US-amerikanischen Wirtschaftswissenschafters Charles Tiebout,2 das die dezentralisierte Bereitstellung und Finanzierung öffentlicher Güter mit einer Marktanalogie beschreibt: Bürger und Unternehmen lassen sich in jener Gebietskörperschaft nieder, in der das Angebot an öffentlichen Leistungen in Abhängigkeit des zu zahlenden Preises (Steuern) am besten ihren Präferenzen entspricht («Voting by Feet»). Wie auf privaten Märkten führen Migrationsmöglichkeiten zu einem effizienten Ergebnis. Die Theorie des Regulierungswettbewerbs übernimmt die Analyse Tiebouts weitgehend, spezifiziert jedoch die lokalen öffentlichen Güter als Rechtsnormen.3 Ein beliebtes Argument gegen kantonale Autonomie hinsichtlich kantonaler Regulierungsstandards moniert nun, dass die Einführung föderalistischen Wettbewerbs Marktversagen durch die Hintertür einführe.4 Die Argumentation basiert abermals auf einer Analogie zu Produktmärkten. Auf solchen ist teilweise das Problem asymmetrischer Information5 zu beobachten: Im Wissen um seine Unfähigkeit, die Qualität des ihm angebotenen Produkts beurteilen zu können, ist ein Kunde ausschliesslich bereit, billigere Produkte zu kaufen. Als Folge dieses Nachfrageverhaltens werden auf dem Markt wenige oder keine hochqualitativen Produkte angeboten. Auf den Regulierungswettbewerb übertragen bedeutet dies, dass Gebietskörperschaften dem Anreiz erliegen, ihre regulativen Bestimmungen kontinuierlich zu lockern, was einen Abwärtswettlauf in Gang setzt und somit das Ziel der Regulierung untergräbt, Marktversagen zu verhindern.
«Urbane sowie französisch- und italienischsprachige Kantone beschliessen mehr Änderungen rechtlicher Normen als die ländlichen, deutschsprachigen Kantone.»
Die der neoklassischen Kritik unterliegenden Annahmen werden verschiedentlich als zu streng beurteilt. Mit Bezug auf das Informationsproblem kann man nicht zuletzt argumentieren, dass die Bewertung der Qualität einiger staatlicher Regulationssysteme einfacher fällt als die Qualität einer Vielfalt an Produkten. Und schon auf den Produktmärkten hat die Erfahrung gezeigt, dass Märkte eigene Institutionen zur Bewältigung ihrer Fehlentwicklungen hervorbringen und daher staatliche Qualitätskontrollen beispielsweise oft nicht nötig sind.
Im Rahmen des Modells der asymmetrischen Information lässt sich zudem auch über einen ganz anderen Ansatz argumentieren: Betrachtet man Regulierungen als staatliche Qualitätssignale, so wäre ganz im Gegenteil ein Überbietungswettbewerb («Race to the Top») zwischen Gliedstaaten vorstellbar.
Wie wird Regulierung gemessen?
Um die kantonale Regulierungslandschaft nach Indizien zu einem Unter- oder Überbietungswettbewerb zu untersuchen, müssen wir Messgrössen für Regulierung definieren. Der Regulierungsbestand umfasst alle zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden rechtlichen Normen. Die Regulierungsaktivität erfasst alle Veränderungen rechtlicher Normen innerhalb eines Zeitintervalls. Das Aktivitätsmass kommt folglich nicht der Veränderung des Bestandsmasses gleich, denn es umfasst nicht nur Neuerlasse und Aufhebungen, sondern auch Änderungen bestehender Normen. Für ihre Untersuchung der kantonalen Regulierungslandschaft machen die Ökonomen Simon Lüchinger (Universität Luzern) und Mark Schelker (Universität Freiburg) von beiden Massen Gebrauch.6 Neben der Anzahl Erlassen werden die Anzahl Seiten (für das Aktivitätsmass) und Zeichen (für das Bestandsmass) erfasst, da ersteres Mass eine beschränkte Aussagekraft über den tatsächlichen Regulierungsumfang hat. Die Quellen für das Bestandsmass bilden die kantonalen systematischen Gesetzessammlungen, die seit 2006 im Rahmen des Projekts «LexFind»7 digital erfasst werden. Die Aufzeichnung der kantonalen Regulierungsaktivität basiert auf den kantonalen chronologischen Gesetzessammlungen und Amtsblättern.
Regulierungsbestand
Die deskriptive Analyse basiert weitgehend auf Resultaten von Luechinger und Schelker. Die Abbildungen 1 und 2 illustrieren die Resultate des Bestandsmasses für 2013. Sie zeigen für das Jahr 2013 im Regulierungsbestand eine beträchtliche kantonale Heterogenität mit recht klaren regionalen und siedlungsgeografischen Tendenzen. Er ist in der mehrheitlich französisch- und italienischsprachigen Schweiz (z.B. Freiburg, Tessin oder Neuenburg) und in urbanen Kantonen (Zürich, Basel-Stadt, Waadt und Genf) höher als in kleineren, ländlichen Kantonen der Deutschschweiz (z.B. Uri, beide Appenzell). Auf Gesetzesebene ist eine Abnahme des Regulierungsbestands auf der West-Ost-Achse auszumachen, insbesondere gemessen an der Zahl der Zeichen. Abweichungen von diesen Mustern betreffen etwa den Kanton Bern, der bezüglich Zeichenanzahl überdurchschnittlich viel reguliert, oder den Kanton Wallis, der insgesamt und besonders im Vergleich zu anderen französischsprachigen Kantonen zurückhaltend reguliert.
Abbildung 1 erweckt weiter den Eindruck, dass bevölkerungsreiche Kantone einen höheren Regulierungsbestand aufweisen.
Ein solcher Zusammenhang stünde im Einklang mit den empirischen Forschungsergebnissen zum Regulierungsbestand der US-Bundesstaaten.8 Das könnte auf die hohen Fixkosten zurückzuführen sein, mit denen der Regulierungsprozess einhergeht: Da diese für bevölkerungsarme Staaten pro Kopf entsprechend höher ausfallen, weisen diese Staaten einen tieferen Regulierungsbestand auf. Vergleicht man – zurück in der Schweiz – nicht die gesamte Zahl der Erlasse (Abbildung 1), sondern nur die Zahl der Erlasse auf Gesetzesstufe (Abbildung 2), ist die Beziehung allerdings kaum ersichtlich.
Regulierungsaktivität
Abbildung 3 erlaubt eine grobe Einschätzung der Regulierungsaktivität der jüngeren Vergangenheit. Dargestellt sind die kantonalen Durchschnitte zwischen 2004 und 2013. Die zuvor festgestellte Heterogenität zwischen den Kantonen ist nicht nur ein Merkmal der Momentaufnahme des Bestandes, sondern sie scheint auch hinsichtlich der Aktivität zu persistieren. Das Muster ist ähnlich wie beim Bestandsmass: Urbane sowie französisch- und italienischsprachige Kantone beschliessen mehr Änderungen rechtlicher Normen als die ländlichen, deutschsprachigen Kantone. Damit wird die erwähnte hohe Korrelation zwischen Bestands- und Aktivitätsmass ersichtlich. Eine Ausnahme bildet wiederum der Kanton Wallis mit einem vergleichsweise tiefen Veränderungsniveau auf Gesetzesstufe.
Auf der Suche nach Indizien kantonaler Heterogenität in bezug auf die Regulierungsaktivitäten ist die historische Entwicklung besonders hilfreich. Wie in Abbildung 4 ersichtlich, zeichnet sich das Gesamtbild der kantonalen Regulierungsaktivitäten durch einen äusserst volatilen und tendenziell steigenden Verlauf über die Zeit aus. Weiter ist zu erkennen, dass die beobachteten interkantonalen Unterschiede nicht erst in jüngerer Zeit entstanden sind, sondern seit Beginn der Aufzeichnungen bestehen.
Betrachtet man die Entwicklung der Kantone, so zeigt sich sowohl auf Gesetzesstufe als auch insgesamt ein Basiseffekt: Kantone, die zu Beginn der Aufzeichnungen wenig regulierten (z.B. Aargau), verzeichnen höhere Wachstumsraten als solche, die bereits vor 100 Jahren aktiver agierten (z.B. Genf). Daraus hat sich bis heute aber keine konvergierende Entwicklung ergeben. Im Gegenteil ist die Variation zwischen den Kantonen unabhängig von der betrachteten Erlassstufe im Jahrhundertvergleich gestiegen.
Fazit
Eine Stärke des Föderalismus liegt darin, dass er Raum für politische Experimente bietet. Idealerweise trägt die kantonale Autonomie in Regulierungsfragen demnach zu einem Prozess der wettbewerblichen Auslese von Versuch und Irrtum bei. Ein Abwärtswettlauf oder eine konvergierende Entwicklung, welche die föderale Struktur in der Schweiz einer ihrer grossen Stärken berauben könnte, ist bei der Regulierung weder heute noch in der historischen Entwicklung auszumachen. Die Indizien, die der aktuelle Regulierungsbestand dafür liefert, sind aufgrund eines deutlich weniger langen Aufzeichnungszeitraums weniger stark als diejenigen der Regulierungsaktivität. Beide Regulierungsmasse illus-trieren indes ein Bild verbreiteter kantonaler Heterogenität mit (sprach)regionalen und siedlungstopografischen Tendenzen. Urbane sowie französisch- und italienischsprachige Kantone regulieren umfassender als die ländlichen Kantone der Deutschschweiz. Die untersuchten Daten zeigen, dass die Selbstverantwortlichkeit der Kantone in Regulierungsfragen trotz Kleinräumigkeit ein vielfältiges Muster an Angeboten ermöglicht.
Siehe z.B. John Dawson und John Seater: Federal Regulation and Aggregate Economic Growth. In: Journal of Economic Growth 18/2 (2003), S. 137−177. ↩
Charles Tiebout: A Pure Theory of Local Expenditures. In: Journal of Political Economy 64 (1956), S. 416−424. ↩
Siehe z.B. Konstantine Gatsios und Peter Holmes: Regulatory Competition. In: Peter Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Vol. 3. London: Palgrave, 1998, S. 271−275; oder Klaus Heine und Wolfgang Kerber: European Corporate Laws, Regulatory Competition and Path Dependence. In: European Journal of Law and Economics 13 (2002), S. 47−71. ↩
Siehe z.B. Hans-Werner Sinn: The New Systems Competition. Oxford: Blackwell, 2003. ↩
Die Schwierigkeiten und Auswirkungen von Märkten mit asymmetrischer Information hat der Nobelpreisträger George Akerlof in einer Betrachtung des amerikanischen Gebrauchtwagenmarkts vor bald 50 Jahren ausgeführt. Ein potentieller Käufer hat gegenüber dem Verkäufer einen Wissensnachteil bezüglich der Qualität des Produkts. Der Käufer – im Wissen um seine Unfähigkeit, die Qualität des angebotenen Produkts genau beurteilen zu können – berücksichtigt die Gefahr schlechter Qualität, indem er sein Preisangebot reduziert. Letztlich können so die Märkte für qualitativ hochwertige Produkte ausdünnen oder gar zusammenbrechen. Um Marktversagen dieser Art zu verhindern, schreiben staatliche Regulierungen beispielsweise Qualitätsstandards und Qualitätskontrollen vor. ↩
Simon Lüchinger und Mark Schelker: Regulation in Swiss Cantons: Data for One Century. CESifo Working Paper No. 5663, 2016. ↩
Casey Mulligan und Andrei Shleifer: The Extent of the Market and the Supply of Regulation. In: Quarterly Journal of Economics 120/4 (2005), S. 1445−1473. ↩