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Vorbildliche Sozialisten

Die politische Elite Frankreichs steht nicht im Ruf, die Last der Verantwortung mit dem souveränen Volk zu teilen; man entscheidet lieber selbst, in souveräner Machtvollkommenheit. Um so bemerkenswerter ist jenes Experiment, das am vergangenen 1. Dezember im Schoss einer grossen Partei stattgefunden hat.

Der aktuelle Anlass soll hier nicht im Mittelpunkt stehen; er sei indes erläutert und historisch eingeholt. Seit über zwanzig Jahren tun sich Frankreichs Linksparteien mit Europa schwer – dort zumindest, wo es um Dogmatisches geht: Welche Haltung wählen, welche Sprachregelung kultivieren gegenüber einer Konstruk-tion, die in ihrer finalité politique zwar das Gute (den Frieden nämlich) sucht, in der Wahl ihrer Mittel aber mit dem Bösen (der freien Marktwirtschaft) paktiert?

Ein Dilemma in der Tat. Solange François Mitterrand auf seinem Weg zur Macht auf die Kommunisten angewiesen blieb, durfte es Kompromisse nicht geben. Den bestehenden Europäischen Gemeinschaften stellte die Linke ein «brüderliches», «solidarisches» Europa entgegen: «L’Europe sera socialiste ou ne sera pas», rief Mitterrand damals in die Mikrophone. Im Elysée angekommen und im Kontext des Europäischen Währungssystems sogleich konfrontiert mit ökonomischen Realitäten, die sich partout nicht aus der Welt reden liessen, erzwang er dann im Alleingang jene berühmte Kehrtwendung, die in ihrer Radikalität auch und gerade die eigene Partei unvorbereitet traf. Die äussere Fassade blieb zwar mühsam gewahrt: von der Einheitsakte (1986) über Maastricht (1992) bis hin zur Einführung des Euro (2002) bauten Frankreichs Sozialisten fortan kräftig mit an der Wirtschafts- und Währungsunion. Niemals aber wurde das faktische Bekenntnis zur liberalen Marktwirtschaft von der Partei dogmatisch nachvollzogen, geschweige denn offen deklariert. Wen wundert’s – man war und blieb heillos zerstritten. Dass der jetzt zur Ratifizierung anstehende Europäische Verfassungsvertrag die Sozialisten vor eine weitere Zerreissprobe und damit ins mediale Rampenlicht stellen musste, kann vor diesem Hintergrund so wenig überraschen wie die Tatsache, dass der konkrete Gegenstand bald schon hoffnungslos überlagert wurde vom Machtspiel jener Protagonisten, die mit Blick auf andere, höhere Ziele ihren Standort kalkulierten. Plus ça change…

Wirklich überraschen sollte aber ein Aspekt, der in der Presse wenig Beachtung fand; überraschen vorab darum, weil er so gar nicht zur politischen Kultur des Landes passt. Gemeint ist der Stil, die Art des Umgangs mit dem realen Pluralismus parteiinterner Standpunkte. Nicht an der Spitze wurde schliesslich entschieden, sondern demokratisch an der Basis. Rund 120’000 eingeschriebene Mitglieder waren geladen, im Rahmen einer Urabstimmung den EU-Verfassungsvertrag gutzuheissen oder abzulehnen. So ungewöhnlich dieses Angebot auch war, das Fussvolk nahm es dankend an – die Stimmbeteiligung lag bei 80 Prozent. Natürlich ist zu relativieren. Der Erste Sekretär hätte das Referendum vermieden, wäre es irgendwie zu vermeiden gewesen; das Risiko einer Ablehnung bestand ja durchaus. Allein, viel Spielraum hatte François Hollande nicht. Für einsame Entscheidungen im Stile Tontons fehlte ihm schlicht die Autorität, die formalen Führungsinstanzen der Partei waren blockiert.

So oder so: die Urabstimmung hat stattgefunden. Und wie: «Le spectacle de ces militants venant voter dans ces bureaux de vote improvisés, avec ces urnes en carton, donne un spectacle éminemment positif de la démocratie et est bénéfique pour l’en-semble de la classe politique», stand am 2. Dezember auf der Website von «Le Monde» zu lesen. Man beachte die pädagogisch angehauchte Formulierung zur Frage, für wen der Vorgang heilsam sei. Und die Hoffnung auf Lerneffekte scheint so unbegründet nicht. Bereits hat Nicolas Sarkozy für die Gaullisten angeregt, das eigene Haus in gleicher Weise demokratisch zu beleben.

Ob das Beispiel Schule macht? Als Bürger der kleinen Schweiz möchte man es der grande nation vielleicht wünschen, doch darf der Wunsch nicht den Blick auf die Realität verstellen. Frankreich steht nicht in einer Tradition, die authentische Möglichkeiten politischer Beteiligung und Kontrolle durch die Basis kultiviert. Noch 200 Jahre nach der grossen Revolution entbehrt das Volk jeder legalen, selbst initiierten Möglichkeit, Form und Inhalt des Gemeinwillens verbindlich mitzugestalten. Auch das hier beschriebene, parteiinterne Referendum der Sozialisten wurde nicht etwa von unten erzwungen, sondern von oben gewährt. Das Volk ist souverän, bien sûr, es lebt indes mit Eigenheiten, die dem Demokratieprinzip fast schon diametral entgegenstehen. Es lebt – allen «Reformen» zum Trotz – noch immer mit einem aggressiven Staat; mit einem begehrlichen Verwaltungszentralismus; mit der spezifischen Denkkultur einer technokratischen Elite.

Machtlos ist der Bürger dennoch nicht. Zerschlagene Schaufenster und verwüstete Amtsstuben zeugen mit hässlicher Regelmässigkeit davon, dass es an funktionalen Äquivalenten für fehlende institutionelle Ventile keineswegs mangelt. Eine latente Verweigerungs- und Gewaltbereitschaft an der Basis findet ihr sozialpsychologisches Gegenstück in einer Mischung aus Misstrauen und Angst weiter oben. Frankreichs Elite fürchtet das Volk mit guten Gründen. Sie misstraut ihm aus Tradition – und konsultiert es selten mit gutem Gefühl. Vielleicht auch darum glänzten Perlen auf der Stirn des Ersten Sekretärs.

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