Vorbild Kanada
Wenn es um zweckmässige Modelle für die Organisation von Einwanderung geht, wird gern das kanadische Punktesystem zitiert. Die ehemalige Generalgouverneurin des Landes weiss, wie es tatsächlich darum steht.
Frau Clarkson, Sie sind als Flüchtlingskind im Jahre 1942 aus Hongkong nach Kanada gekommen. Heute sind Sie nicht nur eine bekannte «kanadische» Schriftstellerin, sondern auch ehemalige Generalgouverneurin von Kanada, das Sie einmal aufgenommen hatte, waren zwischen 1999 und 2005 also die Repräsentantin von Königin Elizabeth II als Monarchin des Commonwealth Realm. Wenn Sie zurückdenken: Wann wurde Kanada Ihr Zuhause?
Gleich nachdem wir angekommen waren. Wir hatten gar keine andere Wahl. Meine Familie und ich flüchteten während eines Krieges, in dem uns alles genommen wurde – und so ging es damals vielen Menschen. Von Robert Frost stammt die Formulierung: «Dein Zuhause ist der Ort, wo man dich hereinlassen muss, wenn du gezwungen bist anzuklopfen.» In diesem Satz verstecken sich auch negative Implikationen, aber Kanada hat letztlich immer davon profitiert, sich an ihn zu halten. Die meisten Kanadier haben Eltern oder Grosseltern, die aus einem anderen Land stammen. Die einzigen ursprünglichen Einwohner sind indigene Völker.
Der Ausdruck «Home», den Sie in diesem Kontext in einer Ihrer Landessprachen verwenden, auch in vielen Ihrer Essays eine wichtige Rolle spielt, kann im Deutschen zweierlei bedeuten: das eigene Heim, kleinräumig-privat, oder die Heimat, eher grossräumig-kollektiv. Was bedeutet er für Sie?
«Home» ist ein Ort, an dem man sich sicher fühlt, ohne dass der Ausdruck einen völkischen oder vaterländischen Beiklang hat. Wir Kanadier verstehen darunter aber auch: Heimat. In Europa ist das anders: Europäer verbinden damit meist die Herkunft und Geschichte einer Bevölkerungsgruppe, ihre Ethnie, Religion oder auch eine Kultur, die aus diesen Komponenten hervorgeht. In Kanada aber leben Menschen aus allen Teilen der Welt. Das liegt im wesentlichen an den historischen Entwicklungen: Als die Franzosen einwanderten, trafen sie auf die indigenen Ureinwohner, die die Basis unseres Landes bilden. Im 18. Jahrhundert folgten in Verbindung mit der Eroberung Kanadas verschiedene Teile des englischen Empires, und von da an wurde es für die Kanadier zum Leitprinzip, Menschen aufzunehmen, die nirgends sonst willkommen waren. Kaum jemand weiss beispielsweise, dass Tolstoi alle Erlöse aus seinem letzten Roman, «Auferstehung», dafür einsetzte, 4500 bis 5000 Duchoborzen aus dem Gulag zu befreien und nach Kanada zu bringen. Hier ist das alles andere als ungewöhnlich: Wir Kanadier sind Ausgestossene vieler verschiedener Länder und Kulturen.
Wie sind Sie aufgewachsen, sprich: wie sah Ihr neues Heim, Ihre neue Heimat aus?
Ich wuchs in einem interessanten Milieu auf: Wir kamen aus dem kolonialen Hongkong, das damals britisch war und wo die Familie meiner Mutter während dreier Generationen gelebt hatte. Die Chinesen nannte man damals die «Juden Asiens», weil sie überallhin zogen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. China war ein extrem armes Land und hatte eine furchtbare Vergangenheit – und wir waren natürlich nicht die ersten, die kamen: Die Erschliessung des gesamten kanadischen Westens im 19. Jahrhundert fusste auf der Strategie, Einwanderer aus Europa anzuziehen, egal ob aus Ungarn, Polen, Estland oder der Ukraine. Und es kamen viele, auch Deutsche und Schweizer. Sie wussten, sie würden vom kanadischen Staat ein ansehnliches Stück Land erhalten, eine Kuh, ein Pferd, einige Geräte und Saatgut. Das war für die meisten ein Vermögen – und eine neue Erfahrung: Man gab ihnen die Chance, etwas aus ihrem neuen Zuhause zu machen, zu handeln, zu investieren. Und die allermeisten haben diese Chance genutzt. Über hundert Jahre später bot Kanada mir noch ganz andere Möglichkeiten: ich besuchte eine anglikanische Universität, und das war für mein weiteres Leben kulturell entscheidend.
Bis heute gilt das kanadische Immigrationssystem als eines der tauglichsten der Welt. Potentielle Einwanderer kriegen heute keine Kühe mehr, sie müssen sich durch ein Punktesystem zur Einreise qualifizieren – über Schul- und Universitätsabschlüsse oder berufliche Erfahrung. Das alles zu prüfen, ist ein enormer bürokratischer Aufwand. Wie effizient ist diese Methode also tatsächlich?
Zunächst: unser System ist nicht fehlerlos, es ist enorm bürokratisch und teuer, es musste in den letzten Jahren auch mehrfach ausgesetzt werden, die Kriterien wurden mehrmals neu justiert. Es ist auch nicht so, dass man ohne Universitätsabschluss nicht einwandern könnte, ein grösseres Problem ist es eher, dass Diplome anderer Länder bei uns zu selten anerkannt werden. Wer etwa in Indien Medizin studiert hat, darf in Kanada nicht praktizieren – er müsste hier das gesamte Studium wiederholen. Das ist neben der Bürokratie ein gravierendes Problem, und ich glaube, viele andere Länder, vor allem Deutschland, lösen es aktuell besser als wir, indem sie sich die Mühe machen, herauszufinden, welche Abschlüsse äquivalent sind oder was Einwanderer für einen gleichwertigen Abschluss nachholen müssen. Das sorgt für Effizienz.
Welche Rolle spielen hier Branchenkartelle und ihre politischen Vertreter – oder anders gefragt: wie gross ist ihr Einfluss auf die Einwanderungspolitik, um sich vor Konkurrenz zu schützen?
In Kanada sind Berufszünfte wie die der Ingenieure, Ärzte oder Rechtsanwälte berechtigt, sich selber zu regulieren. Einen Arzt aus Hyderabad werden sie also in aller Regel nicht akzeptieren, selbst wenn es sich um eine Koryphäe handelte. Am Institute for Canadian Citizenship führen wir immer wieder Studien durch, um Druck auf die Zulassungsstellen auszuüben und das Problem für die Bevölkerung sichtbar zu machen: Man steigt in Kanada in ein Taxi und der Fahrer war in einem anderen Land Chirurg. Das ist absurd.
Welche Vorteile bietet also das System? Irgendwoher muss doch der globale Ruf rühren.
Kanada hat als einziges Land auf der Welt – neben den USA – ein vollwertiges Einwanderungsministerium. Wir haben Einwanderungsbeamte, die sehr gut ausgebildet und im Umgang mit Menschen sehr erfahren sind, das ist das eigentliche Geheimnis. Als 2015 etwa beschlossen wurde, 45 000 Flüchtlinge in Kanada aufzunehmen, haben wir etwa 6000 unserer Beamten in die Camps in Jordanien und im Libanon geschickt, um den Aufnahmeprozess zu starten. Auch in Indien und Südostasien sind wir organisatorisch gut aufgestellt, denn dorther kommen viele Einwanderer: unsere Botschaft ist die grösste in Indien. Riesig. 450 Menschen arbeiten dort, und in jeder Botschaft gibt es eine Einwanderungs- und eine Visaabteilung. Visa für Zuwanderer werden separat gehandhabt und die Antragsteller als zukünftige Bürger Kanadas behandelt. Die Vorstellung, dass wir sie rauswerfen, sobald wir sie nicht mehr brauchen, gibt es bei uns nicht.
In europäischen Ländern ist das Innenministerium für die Einwanderung zuständig …
… und das bedeutet: Sicherheitsbedenken, Überwachung und Polizei. Mir fällt dazu immer dieselbe Anekdote ein: Als ich als junge Austauschstudentin in Paris ankam, musste ich mich gleich registrieren lassen, bei der Polizeipräfektur. Ich hatte zwar nie zuvor einen Polizeiposten besucht, denn solche Orte besucht man bei uns nur, wenn man etwas falsch gemacht hat – ich hatte bloss ein Stipendium für die Sorbonne. Und fragte: Was soll ich hier? Als Ausländerin, so belehrte man mich, dürfe ich ohne carte d’identité nicht einmal das Haus verlassen, sonst drohe eine Gefängnisstrafe (lacht). In Kanada besuchen die meisten Menschen ihr ganzes Leben lang keine Polizeistation, auch ausweisen müssen wir uns nicht, womit auch? Es gibt ja nicht einmal eine ID-Karte!
Nationale Personalausweise hält man in Kanada für eine kuriose europäische Sitte?
So ist es. Wer nicht ins Ausland geht, braucht nur einen Führerschein oder eine Krankenversicherungskarte. Überhaupt: vom Staat identifiziert oder gar inspiziert zu werden ist für die meisten Kanadier eine abscheuliche Vorstellung. Erst lange nach meiner Zeit in Paris habe ich erkannt, dass das ein Unterschied zu Europa ist: Nicht nur bei der Einwanderung sehen die Europäer mehr Gefahren als Chancen – in vielen anderen Dingen auch.
Einst waren die USA das Einwanderungsland par excellence. Ganze Schweizer Täler entvölkerten sich, weil hier Armut herrschte und es in Amerika Arbeit gab. Heute werden dort nur 45 Prozent der Einwanderer eingebürgert, in Kanada sind es 85 Prozent. Zurück also zum Prozedere an der Grenze: die Menschen, die nach Kanada einwandern wollen, werden ausgewählt, es sind nicht mehr die Armen und Ärmsten. Das erklärte Ziel ist die «qualifizierte Zuwanderung».
Ja. Aber unsere Beamten wissen stets nur über den Antragsteller Bescheid. Seine Familie darf mitkommen, ohne dass etwas über sie bekannt ist. Es geht auch bei unserem Bürgerrecht nicht um materiellen Besitz oder darum, Teil der Mittelklasse zu sein, wie in den USA. Bürger Kanadas zu sein bedeutet, dass man Vertrauen in die Institutionen des Landes haben kann, dass man wählen und sich zur Wahl für ein öffentliches Amt stellen kann, es berechtigt, bestärkt. Nicht zuletzt bedeutet es auch, in einem sehr komplizierten Land zu leben. Sämtliche Strassen, Einrichtungen und Waren bis hin zur letzten Cornflakes-Packung sind bei uns zweisprachig angeschrieben, weil Bürger zu sein bedeutet, dazuzugehören und jederzeit Zugang zu haben.
«Nicht nur bei der Einwanderung sehen die Europäer mehr Gefahren als Chancen – in vielen anderen Dingen auch.»
Bürger zu sein bedeutet in der Schweiz dasselbe, sogar mit zwei zusätzlichen Sprachen. Bis man aber seine ID beantragen kann und dann vielleicht auch einmal wählen darf, dauert es mitunter zwölf Jahre, was statistisch enormen Einfluss auf die hiesige Ausländerquote hat; sie liegt bei ca. 27 Prozent. In Kanada dauert es statistisch nur drei bis fünf Jahre bis zur Einbürgerung. Warum?
Ich habe einen britischen Freund, den es peinlich berührt hat, dass man ihn bei der Einbürgerung so detailliert darin unterwiesen hat, wie die Schweiz politisch funktioniere und wie er sich zu verhalten habe (lacht). In Kanada gehen wir davon aus, dass Einwanderer unsere Lebensweise von selbst verstehen und in Teilen annehmen, man muss sie nicht politisch einweisen oder auf ihr Wissen um Land und Leute prüfen – und es stimmt! Wir haben dazu auch ein gutes öffentliches Schulsystem und sind besorgt darum, es auf einem hohen Niveau zu halten. Das schafft Chancen: die Kinder lernen sehr schnell Englisch, und alles, was sie lernen, tragen sie nach Hause…
Das tun sie in der Schweiz doch alles auch. Woher kommt der offenkundige Gap zwischen vermeintlichem Miss- und Vertrauen bei der Vergabe von Bürgerrechten?
Er ist kultureller Art und hat mit der Geschichte Europas und der Kleinheit des Kontinents zu tun: die vielen unterschiedlichen Sprachen und kulturellen Errungenschaften, Kunst, Architektur – all das, was Europa auch zu Recht schätzt, betont die Unterschiedlichkeit. Erst auf den zweiten Blick, von weiter weg betrachtet, erkennt man den eigentlich diesen Kulturen innewohnenden Nachweis für Gemeinschaft und Inklusion. Die Schweiz ist ein Paradebeispiel dafür.
Europa ist, seine Nationalstaaten sind, Sie sagen es, ziemlich klein – vor allem im Vergleich mit Kanada. Sprich: der Europäer, erst recht der Schweizer, lebt auf beschränktem Raum. Diese Diskussion ist in der Schweiz eine der am heftigsten geführten, wenn es um die Zuwanderung geht: die Gebäude stehen in den Agglomerationen immer dichter beieinander, im Mittelland verschmelzen die Ortschaften, man baut in die Breite statt in die Höhe…
(Lacht) oh, bitte, sagen Sie nicht, mehr Raum sei der Grund, weshalb wir in Kanada so viele Menschen aufnehmen können! Vorab: ich verstehe die Probleme Europas. Wenn es zu eng wird, kommt es zu Konflikten, da muss man vorbeugen – aber Sie sagen es ja selbst: Unausweichlich ist Platznot auch in wachsenden Gesellschaften nicht. Sehen Sie, Kanada ist auf der Landkarte zwar riesig, aber der eigentliche Lebensraum macht nur einen Bruchteil davon aus – der grösste Teil Kanadas ist tatsächlich nicht bewohnbar, und da geht es nicht um hübsch gepflegte Grünflächen. Die meisten Einwohner konzentrieren sich bis heute entlang der Ostküste und in einem schmalen Streifen an der Grenze zu den USA, weil dort immerhin das Klima erträglich ist. Und wir haben ein brutales Klima: es gibt keinen Frühling, nur Sommer und Winter. In den USA konnte sich dank der gemässigten Temperaturen eine gigantische Baumwollindustrie entwickeln, die auf dem Rücken entrechteter Sklaven ein «Wirtschaftswunder» herbeischuften liess – wir mussten von Anfang an erfinderischer sein, um bestehen zu können. Das nützt uns bis heute bei der Raumaufteilung.
Wie denn konkret?
Beispiel Nahrungsmitteltechnologie. Sie war schon sehr früh sehr wichtig für uns, nur so gelang es, uns erfolgreich dem Land anzupassen: Im Red River Valley haben wir früh und erfolgreich eine Weizenart gezüchtet, die in diesen klimatischen Verhältnissen gedeiht und zwei Ernten pro Jahr liefert. So ist Kanada zu einem Brotkorb Europas geworden. Ohne diesen Weizen gäbe es auch keine «italienische» Pastaindustrie. Kanada musste immer innovativ sein, damit es überleben konnte, also aus wenig viel machen – wirtschaftlich, kulturell, politisch. Das ist hart, hat aber einen zentralen Vorteil: man wird nicht träge und schätzt, wo sie dann tatsächlich vorhanden ist, die Nähe zu anderen, auch die Dichte. Der Schweizer denkt umgekehrt: meine kleine soziale oder kulturelle Einheit unterscheidet sich irgendwie von der zehn Kilometer entfernten, das ist auch wichtig – aus tatsächlicher Nähe wird herbeigeredete Ferne. Als ich das erste Mal nach Europa kam, fand ich das noch reizend und kurios – mittlerweile fehlt mir bei dieser Haltung einfach der Widerhall einer globalen Bürgerlichkeit, die man braucht, um sich über Kontinente zu verständigen.
Pardon, aber Sie haben selbst einmal geschrieben, dass es den Einwanderern schade, wenn alles reibungslos ginge, wenn keine Hindernisse bei der Integration überwunden werden müssten. Wie passt das zusammen?
Das bezieht sich auf geistige Unannehmlichkeiten: Es ist für Menschen gesund, dazulernen zu müssen. Aber nur solange sie nicht den Eindruck bekommen, dass ihr Lernen ihnen nichts bringt, wenn es um die Zugehörigkeit geht. Herbeigeredete Unterschiede, die da bleiben, egal wie viel man dazulernt, sind kontraproduktiv. Ich glaube: man wird nicht zu dem, was man ist, nur weil man von irgendwoher kommt. Aber: man kann zu dem werden, was man sein will, sofern die Umstände irgendwo es begünstigen.