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Realismus statt Mythos: warum die Vorteile eines EU-Beitritts trotz allem überwiegen

Die jüngste Europadebatte ist an sich erfreulich. Aber sie ist zu stark von rückwärtsgewandten Schablonen dominiert. Das macht es schwer, über die Konsequenzen unserer Europapolitik einen sachlichen Diskurs zu führen. Schauen wir drei der zentralen Argumente an, die die euroskeptischen Mitbürger oft mit Sorge erfüllen: unser wirtschaftliches Wohlergehen (I), die EU-Bürokratie (II) und die Souveränität der Schweiz (III).

I. Das wirtschaftliche Wohlergehen. Im Vordergrund der Sorge steht oft das Argument des Wohlstands des Landes. Der Schweiz geht es gut, die Bilateralen waren ein Erfolg – was wollen wir mehr? Das Argument übersieht, dass es uns wirtschaftlich dort gutgeht, wo wir die Integration trotz allem vollzogen haben, und nicht dort, wo wir abseitsstehen.

In zeitlicher Hinsicht sticht vorerst ins Auge, dass die gute wirtschaftliche Situation relativ neu ist. In den 1990er Jahren war sie nicht günstig. Die relative Offenheit der Schweiz der Nachkriegsjahre war bis zu den 1970er Jahren von den anderen europäischen Staaten wettgemacht worden. Die europäische Integration hatte dann zu einer weitergehenden Öffnung der Volkswirtschaften unserer wichtigsten Handelspartner geführt. Die Schweiz verschlechterte sich in dieser Zeit nicht, aber sie stand still und wurde deshalb de facto überholt.

Die Wachstumsschwäche wurde seither erfolgreich überwunden – weil wir nach der Ablehnung des EWR-Beitrittes die EWR-Reformen selbständig durchgeführt haben. Unter dem Namen «Swisslex» setzten wir das «Eurolex»-Paket um, das der EWR mit sich gebracht hätte. Das Kartellgesetz von 1995 und die verschiedenen Liberalisierungspakete sind Beispiele dafür. Ausgenommen waren lediglich der Agrar- und der Dienstleistungsbereich (die wir heute nachholen). Die wettbewerbsorientierte Erneuerung durch Übernahme der EWR-Reformen bildete einen wesentlichen Grund der positiven Entwicklung, deren Früchte wir nun ernten.

Dabei haben wir allerdings Ausnahmen gemacht oder spät gehandelt. Und gerade dort haben wir nicht so stark von der Öffnung profitiert, wie wir es hätten tun können. So haben wir viele Liberalisierungen nur zögernd und unvollständig umgesetzt. Man denke nur an den Telekommunikations- und den Elektrizitätssektor, aber auch an das Cassis-de-Dijon-Prinzip und die Parallelimporte. Hier haben wir die Marktöffnungen mit fast 10jähriger Verspätung und mit Swiss-finish-Fehlern vollzogen. Der Bundesgesetzgeber war bisher aus eigener Kraft nicht in der Lage, über den Schatten seines Interessenkonfliktes zu springen, insbesondere wegen seiner Eigenschaft als Haupteigentümer der Swisscom und wegen der Staatsnähe der Elektrizitätswirtschaft.

Insgesamt ist das wirtschaftliche Bild somit dort gut, wo wir die Integration vollzogen haben. Es ist dort weniger vorteilhaft, wo wir nicht oder verspätet handeln. Auch das gute Abschneiden des Landes in der Finanzkrise ist nicht auf unser Abseitsstehen zurückzuführen, sondern auf die ausgezeichnete Wirtschaftslage in Deutschland, von der weite Teile der Exportwirtschaft wegen der Integration direkt profitieren.

Im einzelnen verbleibt für die Beurteilung einer verstärkten Integration die dreifache Frage nach der Auswirkung auf die Beschäftigung, die Steuern und die Zinsen. Für die Beschäftigung haben wir mittlerweile die Antwort: die offenen europäischen Grenzen haben uns Arbeitsfelder im europäischen Ausland geöffnet und in der Schweiz die Wirtschaft belebt.

Bei den Steuern wird eine Annäherung an die EU früher oder später eine Erhöhung der Mehrwertsteuer mit sich bringen. Dies würde einen Umbau des Steuersystems notwendig machen, nicht aber unbedingt eine Erhöhung der Gesamtsteuerlast. Ein solcher Umbau wäre politisch keine leichte Sache. Er wäre jedoch machbar und würde uns wahrscheinlich am Ende gut bekommen.

Schliesslich haben wir die historisch niedrigen Zinsen zu verteidigen. Falls wir zum Schluss kommen, dass eine Übernahme des Euros den Zinsvorteil gefährden würde, bestünde hier Verhandlungsbedarf – und wohl auch Verhandlungsspielraum, wenigstens solange wir aus einer starken Position heraus verhandeln können. Allerdings ist nicht auszuschliessen, dass uns die Wechselkursproblematik so oder anders zu einer Anlehnung an den Euro zwingt.

II. Die EU-Bürokratie. Die europäische Verwaltung wird oft als übergross und übermächtig beschrieben. Tatsächlich jedoch ist die Verwaltung der EU mit 32’000 Funktionären nur gut zehn Prozent grösser als jene der Stadt Zürich.

Diese Verwaltung hat sich in den letzten Jahren immer wieder als kompetent erwiesen. Sie hat beispielsweise in der Finanzkrise schnell reagiert und die riesigen staatlichen Hilfspakete in ordnungspolitische Bahnen geleitet, auch wenn deren längerfristige Wirkung noch nicht feststeht. Die Voraussetzungen der Staatshilfe wurden – trotz freier Interpretation des EG-Gesetzes – an konkret formulierte Bedingungen gebunden (Ausserordentlichkeit, sachliche und zeitliche Begrenzung, baldige Rückführung). Die Banken, denen die Mitgliedsstaaten zu Hilfe eilen durften, wurden in der Folge angehalten, sich Restrukturierungen zu unterziehen. Auch die Schweiz hielt sich beim UBS-Rettungspaket an die europäischen Voraussetzungen, drängte in der Folge allerdings weniger stark als die EU auf die nachfolgende Restrukturierung.

Das schliesst bürokratische Fehlleistungen nicht aus. Auch das gibt es in Brüssel, ebenso wie in Bern und in unseren Kantonshauptstädten. Das Problem der wirtschaftlichen Überregulierung ist real. Wir könnten dem jedoch am besten entgegentreten, wenn wir eine institutionelle Stimme im «Club» hätten. Immerhin nimmt sich eine Verordnung über die Krümmung der Gurken im Vergleich zum Entwurf des schweizerischen Bundesamtes für Justiz für eine Kinderhüte-Verordnung als relativ niedlich aus.

III. Die Souveränität der Schweiz. Auch hier ist ein Blick zurück heilsam. Was geschah seit dem Nein zum EWR im Jahre 1992? Wir haben in Wahrheit praktisch den gesamten acquis communautaire, der Gegenstand des EWR-Abkommens war, in das schweizerische Recht übergeführt. Wir übernahmen sogar den freien Personenverkehr, der damals Grund für alle «Überfremdungsängste» war, und sind heute Mitglied des Schengen-Raums. Wir sind jetzt daran, uns auch die noch verbleibenden Teile auf dem Gebiete der Agrarwirtschaft und des Dienstleistungssektors zu eigen zu machen.

Auch wenn man es in vielen offiziellen Diskursen nicht aussprechen will: wir übernehmen das Gemeinschaftsrecht in «autonomem Nachvollzug», und zwar systematisch, regelmässig und ohne dauerhafte Ausnahmen. Das ist sicherlich vernünftig, denn ein rechtlich harmonisierter Wirtschaftsraum ist eine wesentliche Voraussetzung für den ungehinderten Handelsverkehr mit den Partnern, die für uns zählen. Aber man muss die Dinge beim Namen nennen: mit Souveränität hat das nichts zu tun.

Im Gegenteil. Wir verzichten so auf jeden Einfluss, den wir auf die Entstehung der Normen ausüben könnten, die später unseren wirtschaftlichen Alltag regeln. Wir dürfen uns sicherlich in unseren Einflussmöglichkeiten nicht überschätzen. Aber wir müssen uns auch nicht kleiner machen, als wir sind. Die Schweiz hat eine grosse multikulturelle und mehrsprachliche Erfahrung, die ihr eine Einflussmöglichkeit verschaffen könnte. In souveränitätspolitischer Hinsicht sind die Bilateralen die schlechteste aller Varianten: wir übernehmen alles und beeinflussen nichts.

Wie weiter? Als erstes gilt es, eine Diskussion auf dem Boden der Tatsachen zu führen. Der Schweiz geht es wirtschaftlich dann gut, wenn es Europa und insbesondere Deutschland gutgeht. Unsere Exporte – 50 Prozent der Wirtschaftsleistung – hängen von prosperierenden Partnern ab. Der Handel mit den USA, mit Japan und mit China ist wichtig, umfangmässig ist er aber gegenüber dem europäischen Handel zweitrangig – und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Wirtschaftlich würden wir vom vollumfänglich ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt per saldo profitieren, und die «Verspätungsschäden» wegen verzögerter und halbherziger Liberalisierung würden ausbleiben. Aber es geht nicht um eine wirtschaftliche Überlebensfrage.

Jenseits dieser wirtschaftlichen Aspekte sieht die Sache für die Schweiz als staatliche Gemeinschaft anders aus. Eine staatliche Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft, in der die Bewohner die wesentlichen Elemente ihres Zusammenlebens einigermassen selbst bestimmen oder mitbestimmen können. Unter diesem Aspekt schneidet das Abseitsstehen in allen Formen schlecht ab. Der mit den Bilateralen oft verbundene Glaube an die schweizerische Selbstbestimmung hält einer vorbehaltlosen Realitätsprüfung nicht stand. Wir verwechseln beschränkte, aber reale mit illusionärer, also irrealer Selbstbestimmung.

Im Hinblick auf die integrationspolitischen Weichenstellungen für die 2010er und 2020er Jahre zeichnet sich somit ein Dreifaches ab.

Erstens: Der bilaterale Weg wird wirtschaftlich wohl weiterhin gangbar sein, wenn auch mit (bezahlbaren) Nachteilen verbunden; souveränitätspolitisch ist die Lösung freilich zu unserem Nachteil.

Zweitens: Eine EWR-Lösung würde die verbleibenden wirtschaftlichen Nachteile beseitigen, durch Schaffung von Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit; souveränitätspolitisch ist jedoch auch diese Lösung unbefriedigend.

Drittens: Ein Beitritt würde sowohl die wirtschaftlichen als auch souveränitätspolitischen Nachteile beseitigen; die Schweiz würde vordergründig Kompetenzen teilen, wäre dafür aber in den Verbund integriert.

Eine vorausschauende Haltung verlangt, dass die verschiedenen Varianten jetzt vorbehaltlos abgewogen werden, damit das Land in einigen Jahren wirklich entscheidungsbereit ist. Nutzen wir die Chance!

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