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Konrad Kuoni, zvg.

Vor lauter Reformbestrebungen geht vergessen, was die Berufsbildung stark macht

Das Schweizer Berufsbildungssystem steckt in der Reformsackgasse. Es sollte auf seinen Stärken aufbauen, statt die Fehler anderer Länder zu imitieren.

Das Schweizer Berufsbildungssystem, bestehend aus den drei Pfeilern Betrieb, Berufsschule und überbetrieblichen Kursen, ist einerseits die Standardausbildung des Schweizer Mittelstandes, andererseits Motor für die Integration junger Menschen aus dem Ausland – insbesondere aus dem Süden und Osten. Noch immer durchlaufen fast zwei Drittel der Jugendlichen diesen Bildungsweg. Die hohe Arbeitsmarktorientierung garantiert wirtschaftlichen Erfolg. Dennoch gibt es Probleme. Weshalb ist das der Fall? Wie könnte Abhilfe geschaffen werden? Ansetzen muss man im schulischen Bereich.

Was läuft falsch?

Die Maturitätsquote steigt langsam, aber stetig; im Jahr 2000 lag sie bei 17,8 Prozent, 2024 bereits bei 22,9 Prozent. Dies liegt unter anderem daran, dass Expats die Berufsbildung mit ihren weiterführenden Ausbildungsmöglichkeiten nicht kennen und ihre Kinder deshalb ins Gymnasium schicken wollen. Während KMU von der Berufsbildung leben, ist sie den CEOs multinationaler Konzerne kaum bekannt.

Die zahlenmässig bedeutendste Ausbildung, die KV-Lehre, wurde 2023 durch eine Reform verunstaltet, welche durch die private Bildungsfirma Ectaveo aufgegleist und von der öffentlichen Hand bezahlt worden war. Statt Fächern gibt es fünf Handlungskompetenzen: Handeln in agilen Arbeits- und Organisationsformen, Interagieren in einem vernetzten Arbeitsumfeld, Koordinieren von unternehmerischen Arbeitsprozessen, Gestalten von Kunden- oder Lieferantenbeziehungen, Einsetzen von Technologien der digitalen Arbeitswelt. Das ist so unattraktiv, wie es klingt.

Der österreichische Philosophieprofessor Konrad Liessmann meint zur Abschaffung von Fächern: «Die neue Disziplinlosigkeit führt zu einer Verwahrlosung des Denkens und einer Abwertung des Wissens, die nur im Interesse jener sein können, die kein Interesse an gebildeten Menschen haben, da die Dummheit zu den Fundamenten ihres Geschäftsmodells zählt.» 1

Der Kompetenzbegriff wurde 2001 von Franz E. Weinert im Auftrag der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) definiert. Seither gilt die Kompetenz- beziehungsweise Handlungskompetenzorientierung bei der OECD, beim Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und den Pädagogischen Hochschulen als alleinseligmachend. Der Fokus wechselt von der In- zur Outputsteuerung, vom Lehren zum Lernen, das möglichst selbst organisiert und konstruktivistisch sein soll – jeder gestaltet sich seine eigene Wirklichkeit. Das führt tendenziell zur Degradierung der Lehrerinnen und Lehrer, die sich nun als blosse Lernbegleiter verstehen sollen.

Die Geringschätzung des Leistungsdenkens steht hinter dem Bestreben, schriftliche Schlussprüfungen abzuschaffen, was das Niveau und damit den Stellenwert der Berufsbildung schwächt. Die schon fix beschlossene Abschaffung der schriftlichen Schlussprüfung im Fach Allgemeinbildender Unterricht (ABU) konnte Anfang 2025 verhindert werden, zumal aufgedeckt wurde, dass das SBFI die Vernehmlassung falsch ausgewertet hatte. Auch bei der ABU-Reform war eine private Bildungsfirma, Interface, federführend.

«Während KMU von der Berufsbildung leben, ist sie den CEOs multinationaler Konzerne kaum bekannt»

In der IT-Branche gibt es abgesehen vom ABU keine Schlussprüfung mehr. Bei den Malern und Gipsern sowie in Polydesign 3D sollen die schriftlichen Berufskundeprüfungen ab 2027 abgeschafft und durch sogenannte «Fachgespräche» ersetzt werden. Ein Fachgespräch impliziert jedoch, dass unter Ebenbürtigen diskutiert wird. Vor lauter Feel-good-und-alle-sind-lieb-und-gleich-Denken hat man nicht einmal mehr den Mut, als Prüfung zu bezeichnen, was eine Prüfung sein sollte. Selbst in der Branche der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM) will man ab 2026 statt der schriftlichen Berufskundeprüfung, in der auch Wissen abgefragt wird, auf «praxisnahe Problemstellungen» umschwenken. Auch dieses Projekt leitet eine private Bildungsfirma (Eduxept), während sich das SBFI an der Finanzierung beteiligt.

Die Schweiz hat eine moralische Verpflichtung, ärmere Länder zu unterstützen. Darum will die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) gemeinsam mit dem Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung (EHB) das Berufsbildungssystem exportieren, etwa nach Usbekistan. Gemäss dem jüngsten Amnesty International Report kommt es dort regelmässig zu schweren Menschenrechtsverletzungen wie Folter. Auf dem Korruptionsindex 2024 von Transparency International liegt das Land auf einer Skala von 0 (schlechtestmöglicher Wert) bis 100 mit 32 Punkten hinter Weissrussland und Laos. Auf der EHB-Homepage ist zu lesen: «Bislang ist für diese Reform weder ein Impulsgeber noch eine Strategie vorhanden.» Man fragt sich, warum das Projekt dennoch bis maximal im Jahr 2033 laufen soll.

Was ist zu tun?

Eine hohe Maturitätsquote ist schlecht für die Gymnasien und die Berufsschulen. An den Gymnasien soll sein, wer wirklich dorthin gehört, an den Berufsschulen nicht nur, wer es nicht ins Gymi schafft. Rudolf Strahm, Ökonom und alt Nationalrat, hat aufgezeigt, dass ein direkter Zusammenhang zwischen einer hohen Maturitätsquote und einer hohen Arbeitslosen- und Jugendarbeitslosenquote besteht. 2 Ein System wie in Frankreich und Italien, das arbeitslose Akademiker produziert, aber keine gut ausgebildeten Berufsleute hervorbringt, ist nicht zielführend. Strahm betont: «Ein Universitätsabschluss gewisser europäischer Staaten entspricht niveaumässig manchmal nicht einmal einem Berufslehreabschluss in der Schweiz.»

Reformen sind vonnöten, sofern tatsächlich Reformbedarf besteht. Private Bildungsfirmen wollen, bezahlt vom Staat, so viel wie nur möglich verändern, weil ihnen das Aufträge beschert. Mit Reformen sollten sich primär Praktiker, nicht Theoretiker auseinandersetzen; sie müssen sich in der Praxis bewähren. Die Drittmittelabhängigkeit der Pädagogischen Hochschulen ist zu hinterfragen. Selbst die Mutter aller fehlgeleiteten Projekte, die KV-Reform, wurde von diesen begrüsst – nicht nur aus ideologischen Fehlüberlegungen heraus, sondern auch, weil sie damit beauftragt wurden, sie an den Schulen umzusetzen, sprich Geld verdienen konnten.

Wir sollten den Mut für eine eigenständige Schweizer Bildungspolitik aufbringen und nicht blindlings den OECD-Standards folgen. Noch sind wir Vorbild für andere, nicht umgekehrt. Die Kompetenz- respektive Handlungskompetenzorientierung – und damit verknüpft das selbstorganisierte und konstruktivistische Lernen – darf nicht zum Fetisch erhoben werden.

Roland Reichenbach, Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich, bedauert, dass die Urteilskompetenz durch die Handlungskompetenz ersetzt wurde. Er fragt: «Ist es denn wirklich problematisch, wenn man den Beweis für die Behauptung, die Erde sei eine Kugel, nicht selber erbracht hat?» 3 Aus einer linken Position heraus argumentierend, bemängelt er, dass die neuen Lernformen denen am stärksten schaden, für die sich ihre Verfechter am meisten einzusetzen vorgeben: den Bildungsfernen und Schulschwachen. Dabei bezieht er sich unter anderem auf die Hattie-Studie von 2009, eine Zusammenfassung von etwa 50 000 Einzelstudien, die zeigt, dass es nicht die neuen Lernformen sind, die zum Erfolg führen, sondern es ist primär die Lehrerpersönlichkeit.

Den angestrebten Rollenwechsel der Lehrerinnen und Lehrer sollte man darum überdenken. Wer nur noch begleitet, weiss nicht mehr, wo das Ziel ist. Junge Menschen haben ein Anrecht darauf, angeleitet zu werden – nicht mit einer Brechstangenpädagogik, versteht sich, sondern freundlich und wohlwollend. Schulen sollen zwar Freude bereiten, aber nicht ausschliesslich. Sie dürfen auch Engagement verlangen. Wer sie zu reinen Wohlfühloasen umgestalten will, verkennt ihre eigentliche Aufgabe: junge Menschen mit der Welt vertraut zu machen.

In Artikel 21 Absatz 2 des Berufsbildungsgesetzes heisst es, die Berufsschulen hätten die «theoretischen [nicht die praktischen!] Grundlagen zur Berufsausübung» zu vermitteln. Dass die berufskundlichen Fächer meist handlungskompetenzorientiert sind, macht dennoch Sinn. Aber auch hier gibt es Fragestellungen, die fernab vom Handeln sind: Angehende Maler/-innen sollen sich überlegen, wo die Vor- und Nachteile von ökologischen Farben sind, Grafiker/-innen, ob der Einsatz künstlicher Intelligenz sinnvoll ist.

Noch ausgeprägter gilt dies für die Allgemeinbildung. Es ist gut, gemeinsam eine Steuererklärung auszufüllen, aber es sollte auch Aufgabe der Schule sein, das Nachdenken über die Vor- und Nachteile des föderalistischen Schweizer Steuersystems anzuregen. Es ist zentral, dass angehende Berufsleute sich mit gesellschaftlichen und politischen Fragen befassen. Ein Tier handelt. Ein Mensch sollte denken und handeln, um sich vom Tier zu unterscheiden.

«Junge Menschen haben ein Anrecht darauf, angeleitet zu werden – nicht mit einer Brechstangenpädagogik, versteht sich, sondern freundlich und wohlwollend.»

Es soll weiterhin schriftliche Abschlussprüfungen geben. Sie sind Ansporn für die Lernwilligen und ermöglichen es, wichtige Stoffgebiete zu vertiefen.

Berufsbildungsprojekte in ärmeren Ländern sind sinnvoll als Hilfe zur Selbsthilfe, jedoch nur, wenn sie realistische Erfolgsaussichten haben. Projekte in Industrieländern hingegen sollten kritisch betrachtet werden, da wir damit letztlich unsere direkten Wettbewerber stärken.

Das Schweizer Berufsbildungssystem hat nur dann eine Zukunft, wenn sich nicht, wie es Konrad Liessmann befürchtet, eine «unheilige Allianz zwischen den neoliberalen Apologeten des Wettbewerbs und den menschenfreundlichen Illusionspädagogen» durchsetzt, sondern wenn das sanft weiterentwickelt wird, was es in der Vergangenheit stark gemacht hat. Dafür braucht es keine privaten Bildungsfirmen, die möglichst viel über den Haufen werfen, um die Aufträge aufzublasen, sondern Praktikerinnen und Praktiker mit Augenmass sowie in den Betrieben, überbetrieblichen Kursen und Schulen Vorbilder mit viel Fachwissen, hohem Engagement, klarer Linie und einem grossen Herz.

  1. Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Wien: Zsolnay, 2014.

  2. Rudolf Strahm: Die Akademisierungsfalle: Warum nicht alle an die Uni müssen. Bern: HEP, 2014.

  3. Roland Reichenbach: Die Pädagogik der Privilegierten. Stuttgart: Kohlhammer, 2025.

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Das Licht brennt, das Gebäude steht, das Auto läuft wieder: Manuelle Arbeit hat etwas Befriedigendes. Bild: Keystone / Ennio Leanza
Resultate statt Identitätskrise

Ich wuchs in einer Sekte auf. Mein Job als Hilfselektriker lehrte mich, Verantwortung zu übernehmen. Die Klarheit des Tuns führt zu einer Klarheit des Denkens.

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