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Von wegen abgelegen
Schlagzeuger Mauro Galato begleitet Schriftsteller Frank Heer bei der Lesung seines Romans «Alice» in der Kellerbühne in St. Gallen. Bild: fotografiert von Vojin Saša Vukadinović.

Von wegen abgelegen

Eine Reise zu den unabhängigen Bühnen der Ostschweiz.

 

Es waren zwei herausfordernde bis harte Jahre für ganze Branchen, für viele Unternehmen wie auch für zahllose Selbständige. Die Covid-19-Pandemie und die Massnahmen zu ihrer Bekämpfung haben nicht nur die Gewohnheiten und Gepflogenheiten der Arbeitswelt und des Alltags gründlich durchpflügt, sondern auch die Kulturangebote. Abgesagte Auftritte, mangelnde Alternativen und die völlige Unplanbarkeit erschwerten vielen Künstlern wie Veranstaltern, überhaupt etwas dar- oder ­anzubieten. Sicher, andere gesellschaftliche Areale fanden sich in ähnlicher Lage und suchten nach handhabbaren Lösungen – Hochschulen streamten beispielsweise Vorträge, denen man aus der eigenen Küche folgen konnte. Emotionen jedoch, um die es auf der Bühne vorrangig geht, können nur mit erheblichen Abstrichen übertragen ­werden. Folglich waren es auch zwei entbehrungsreiche Jahre für alle, die Freude an ­Gesang, Schauspiel, Cabaret, Lesungen oder Ausstellungen haben.

Ich will herausfinden, wie die Schweizer Kleinkunst und Bühnenkultur auf den Beginn der postpandemischen Zeit reagiert, und mache dafür die Probe aufs Exempel – und zwar dort, wo abseits der grossen Städte mitsamt ihren kostspieligen Kulturinstitutionen und unabhängig von beträchtlichen staatlichen Kultursubventionen wieder gespielt, gesungen, aufgeführt und ausgestellt wird. Meine Wahl fällt auf die Nordostschweiz, eine gerade in kultureller Hinsicht viel zu oft und zu Unrecht unterschätzte Region des Landes.

Hinter dieser Tür in der Schaffhauser Webergasse findet sich der Eingang zur Fassbühne. Alle Bilder fotografiert von Vojin Saša Vukadinovic´.

Mit der Planung kommt bereits die erste Einsicht: Es ist dieses Frühjahr noch nicht möglich, eine Kulturreise so zu organisieren, um während einer Woche jeden Abend ­einer Kleintheateraufführung in einer anderen Stadt beizuwohnen. Viele der Gruppen haben ohnehin nur eine Produktion pro Jahr. Da sie oft 2020 nichts aufgeführt haben und 2021 auf ungewohnte Formate umstiegen, ist längst noch nicht alles auf dem Vor-Pandemie-Niveau. Ich reise deshalb zu Bühnen, die wieder bespielt werden, oder besuche diejenigen, die für die entsprechenden Programme verantwortlich sind.

In Schaffhausens Untergrund

Die erste Station ist der nördlichste Kanton, der von Deutschland fast umringt ist und deshalb trotz relativer Nähe zu Zürich einen insularen Eindruck macht. Schaffhausen punktet nicht nur mit Rhein und Rheinfall, mit dem Munot und mit dem Museum zu Allerheiligen, sondern auch mit seiner auffallend lebendigen Kleinkunstszene. Bekannte Einrichtungen der Stadt sind das Theater Schauwerk, das Haberhaus und das Theaterbüro. Wer die freie Szene kennen­lernen will, sollte zudem in die unabhängigste Einrichtung hinabsteigen: zur Fassbühne, die in der Altstadt gelegen ist.

Zwischen einer Buchhandlung und einer Beiz, mit denen dieser Veranstaltungsort eine Dachgenossenschaft bildet, findet sich die Tür zum Fasskeller. Dort treffe ich Noah Valley, Vorstand des Vereins Szenario, dessen Produktionen hier vor der Pandemie zu sehen waren und bald wieder zu sehen sein dürften. Valley, dessen Kleidungsstil an beste Grunge-Zeiten erinnert, kommt betont unauf­geregt daher, arbeitet in einem 60-Prozent-Pensum in der IT und kümmert sich ehrenamtlich um die Aufführungen, die auf der Fassbühne realisiert werden. Er schliesst die Tür auf, und eine Wendeltreppe führt hinab in ein Kellergewölbe, von dessen Vorraum es dann noch eine Etage ­tiefer zur eigentlichen Bühne geht. Sie ist klein, entscheidend ist aber etwas anderes. Hier unten spürt man sofort, warum dieser Ort die Herzen von Teenagern oder von ­Angehörigen einer Subkultur schneller pochen lässt, denn dieser Raum verspricht, dass man unter sich bleibt. Niemand verirrt sich zufällig hierher. Neben Konzerten und Partys – unter anderem für Grunge- und Punk-Zugeneigte – wird hier vor allem Theater gespielt, der Platz vor der Bühne reicht tatsächlich für 100 Stühle aus; sanitäre An­lagen werden allerdings mit der Beiz oben geteilt.

Weshalb sich in dieser Stadt mit ihren überschaubaren 35 000 Einwohnern eigentlich so viele Theatergruppen unterschiedlicher Art tummeln, will ich wissen. «Es ist irgendwie doch weit weg von Zürich, die Szene ist his­torisch gewachsen und es gibt eine Verbundenheit gegenüber dem ‹Fass›, das mittlerweile seit 45 Jahren besteht», erklärt Valley, «in Schaffhausen geht sehr viel. Man hat fast den Eindruck, diese Stadt habe ein Angebot wie Winterthur, obwohl sie nur ein Drittel so gross ist.» Bezüglich anderer Kulturangebote ist Winterthur wohl überlegen, doch in ­Sachen Produktivität und Lebendigkeit der Theaterszene muss sich Schaffhausen in keiner Weise verstecken.

Die Fassbühne ist nicht von Kultursubventionen abhängig, Geld ist hier kein grosses Thema. Manchmal wird allerdings Unterstützung beantragt. «Für den Staat sind gesprochene Beträge von 5000 Franken Peanuts – aber dem kulturellen Leben in der Stadt bringt das sehr viel», sagt Valley, als er, oben angekommen, die Tür zum Schaffhauser Underground wieder abschliesst.

Staat und Geld, dieses Thema wird mich wohl auf jedem der nachfolgenden Ausflüge begleiten, denke ich, als ich mit dem Zug in den Thurgau fahre und in Frauenfeld den Bus in Richtung Müllheim nehme. Ob Punks und Libertäre doch mehr gemeinsam haben, als ihnen lieb ist?

Ein Monument autarker Kultur

Aussen erklärt nichts, was der Modelhof im thurgauischen
Müllheim ist.

Die Unabhängigkeit nicht nur zu wahren, sondern genuin autark zu sein, ist Anspruch einer anderen Bühne, die aus einem gänzlich anderen Politikverständnis heraus entstanden ist. In Müllheim steht ein recht unkonventionell wirkender Veranstaltungsort mit einem leicht mysteriös anmutenden Touch. Er ist betongrau und mutet auf den ersten Blick wie eine religiöse Institution an, ist aber ganz und gar säkular, worauf die ganz in Gold gehaltene Eingangstür hinweist, die einen betont schweren weltlichen Glanz ausstrahlt. Der Unternehmer Daniel Model liess das 2012 fertiggestellte Kultur- und Schulungszentrum Modelhof hier errichten. Sechs Jahre zuvor hatte der Unternehmer mit libertärer Verve einen eigenen Staat namens Avalon ausgerufen. «Die Kunst ist eine Schwester der Freiheit und aus dieser direkten Verwandtschaft zu verstehen», erläutert er das Kunstverständnis des Hauses. Hier gibt es nicht nur Vorträge zu hören, es werden auch regelmässig Opern aufgeführt. Auf der Webseite sind schon jetzt sämtliche Aufführungen bis 2029 gelistet. Für den 6. April 2029 ist bereits die «Zauberflöte» geplant.

Für vergleichsweise bescheidene 40 Franken (notabene nur in bar zu begleichen) darf ich einer Inszenierung von Regisseur Max Medero beiwohnen, der hier «Gianni ­Schicchi» auf die Bühne bringt. Giacomo Puccinis einstündige Oper mit nur einem Akt spielt 1299 in Florenz, wo sich die Verwandtschaft des gerade verstorbenen Buoso Donati um dessen Totenbett versammelt, der allerdings alle enterbt hat. Der Protagonist Gianni Schicchi wendet eine List an und gibt sich gegenüber dem Notar, der vom Tod noch nichts erfahren hat, als Donati aus, um seiner Tochter Lauretta die Eheschliessung zu ermöglichen. Ihre Arie «O mio babbino caro» wurde von vielen Operngrössen gesungen– darunter Maria Callas, Montserrat Caballé und Anna Netrebko.

Ich bewundere zunächst die imposanten Kronleuchter und zahlreichen Gemälde, die hier alle paar Meter hängen, bevor ich Platz nehme. Die Reihen füllen sich, gestuhlt ist für 100 Personen. Das Publikum ist gemischt, und zu irgend­wem gehört auch ein kleiner Hund, der zwischen den Stühlen hin und her flitzt. Der Vorhang geht auf, Erzähler Franz Moser – Direktor der St. Marks Opera Company aus Florenz, die hier spielt – führt in die Handlung ein, und los geht’s. Für die Dauer von einer Stunde tummeln sich ein Dutzend Personen auf der Bühne, was bisweilen einen recht bedrängten Eindruck macht. Doch da «Gianni Schicchi» ein Einakter ist, sind die räumlichen ­Gegebenheiten kein Hindernis; zudem überzeugt die Akustik.

Die Aufführung beweist, dass autarke Kultur, ausdrücklich verstanden als Alternative zu staatlich subven­tionierten Häusern und deren Programmen, nicht nur als Konzept möglich ist, sondern sich selbst in einer kleinen Thurgauer Gemeinde zu bewähren vermag. Ich möchte dennoch wissen, warum das Gebäude denn nun ausgerechnet in Müllheim steht. «Dass der Modelhof steht, wo er steht, ist sehr wichtig», erfahre ich auf Nachfrage vom Eigentümer, «er steht neben der Bildhauerschule Müllheim, wo Bildhauer in einer vierjährigen Lehre ausgebildet werden, und er steht an einem Ort, der sehr gut erreichbar ist aus allen Himmelsrichtungen. Er ist gebaut, um lange zu überdauern.» Eine privat finanzierte Kulturinstitution, die für Hunderte von Jahren bestehen soll? Darüber denke ich nach, als ich nach der Oper alleine an der Bushaltestelle «Müllheim Dorf Post» stehe. Gegenüber ist ein Kebab­laden, der während einer halben Stunde keine Kunden hat. Alle paar Minuten passiert ein Auto die Strasse. Der Bus kommt pünktlich.

Mit den Appenzeller Bahnen, einer der unterschätzten ­Linien des Landes, was das Panorama angeht, geht es ab St. Gallen zur dritten Destination. Die kurvenreiche Fahrt führt mich über Hügel und durch kleinere Täler, in den ­höheren Streckenabschnitten gewährt sie mir einen fabelhaften Blick auf den Bodensee. Am liebsten würde ich mir im Zug ein Homeoffice einrichten und überlege bereits, wie ich meinem Chef verklickern könnte, dass es sich in einem ­dieser Wagen gut redaktionell tätig sein lässt. Diese ­Aussicht!

Erhaben auf Holzbänken

Die Deckenmalerei in der evangelischen Kirche Trogen,
Kanton Appenzell Ausserrhoden, gehört zu den frühesten Zeugnissen
sakraler Malerei in der reformierten Kirchengeschichte der Schweiz.

Im reformierten Halbkanton Appenzell Ausserrhoden ­waltet der Geist des Fleisses. Das fällt zumindest dem nichtchristlichen Besucher sofort auf. In Trogen hat die Kaufmannsfamilie Zellweger einst Steingebäude errichten lassen, die diesen Fleiss in Repräsentatives überführt haben, einen merklichen Kontrast zu den übrigen Häusern in dieser Gegend herstellen und für ein städtisches Flair sorgen. Vor der evangelisch-reformierten Kirche parkieren ­erstaunlich viele SUV, die heute vielleicht dasselbe Fleiss-prinzip repräsentieren wie besagte Gebäude der Vergangenheit. Wie die Kennzeichen verraten, hat sich hier das Bürgertum auch anderer Kantone eingefunden, denn hier wird etwas geboten, das überregional geschätzt wird. Es handelt sich um eine Veranstaltung der in St. Gallen ansässigen J. S. Bach-Stiftung, die innerhalb von 25 Jahren sämtliche Kantanten von Johann Sebastian Bach aufführt, ausschliesslich von privater Hand finanziert, wie die Website erklärt.

Innen überrascht die im Rokokostil gehaltene Kirche mit einer prächtig bemalten Decke – und, gewollt gegenläufig dazu, mit knausrigen Holzbänken. Aber im Gegensatz zu vielen anderen reformierten Kirchen, deren Weiss sie den Charme eines Krankenhauses ausstrahlen lässt, kann man sich hier immerhin am Detailreichtum des Deckengemäldes erfreuen.

Die Veranstaltung ist bis auf den letzten Platz belegt, es gibt zusätzlich bereitgestellte Stühle, und ich erspähe mit Konrad Hummler unternehmerische Prominenz. Das Programm beginnt. Allerdings nicht mit Musik und Gesang, sondern mit einer theologischen Einführung seitens Rudolf Lutz und Niklaus Peter, denn wir sind ja nicht zum Spass hier. «Jesu, nun sei gepreiset» heisst die von Bach zum Sonntag nach Neujahr geschriebene Kantate für ­Sopran, Alt, Tenor und Bass – hier 297 Jahre nach ihrer Erstaufführung in Leipzig 1725 dargeboten. Chor und Orchester der J. S. Bach-Stiftung sorgen für ein erhabenes Klangerlebnis, das von Reflexionen des Psychiaters Rudolf Osterwalder unterbrochen wird, der den Bogen von Bach zu Karl Jaspers schlägt. Der Existenzphilosoph Jaspers hatte sich nämlich mit dem Bösen befasst, das in der Kantate mit der Zeile «Den Satan unter unsre Füsse treten» geschlagen wird. Rabiat, aber die meisterhaft vorgebrachten Bach’schen Harmonien sind gutes Gegenmittel gegen die Zumutungen der Gegenwart. Nach der zweiten Aufführung derselben Kantate ist die Veranstaltung beendet.

Auf dem Weg zurück finde ich mich mit einigen Leuten im Abteil wieder, die mir bekannt vorkommen. Sie reden viel, laut und über Unerhebliches, während ich noch das Besinnliche im Ohr habe. Dann merke ich: Es sind Angehörige des Orchesters, die umgezogen einen ganz anderen Eindruck machen. Und eben auch zusehen müssen, wie sie nach Veranstaltungsende wieder abreisen.

So ein Glück, erneut Appenzeller Bahn zu fahren. Ob die­jenigen, die hier leben, eigentlich wertzuschätzen wissen, was für einen Landschaftsbonus ihr Regionalverkehr ­aufweist? Nun geht es erneut zu einer Institution, die ­eigenständig wirkt und im ländlichen Raum ein Zeichen setzt. Vielleicht kann ich meinen Chef doch noch von einem Ostschweizer Aussenposten der Redaktion überzeugen.

In der schönsten Hütte der Voralpen

Der Konzertraum in der Kunsthalle Ziegelhütte in Appenzell mit den
noch erhaltenen Mauern des Ziegel-Brennofens von 1566 in der Mitte.

In Appenzell Innerrhoden steht das Kunstmuseum Appenzell, das der Unternehmer Heinrich Gebert (1917–2007) stiftete, der mit dieser privaten Initiative das Kulturleben in der Region entschieden erneuert hat. Die Kunstsammlung der Heinrich-Gebert-Kulturstiftung umfasst nicht nur 1000 Werke der Appenzeller Maler Carl August Liner und Carl Walter Liner, sondern noch 200 weitere Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern der Klassischen Moderne und der Gegenwart. Zum 1998 eröffneten Stammhaus, das nicht nur in architektonischer Hinsicht auffällt, wurde 2003 noch ein zweiter Bau hinzugenommen, die Ziegelhütte. «Hütte» ist selbstredend eine Untertreibung. Es handelt sich um eine ehemalige Ziegelei, deren Kern ins 16. Jahrhundert zurückreicht und die heute als Kulturzentrum genutzt wird. Zu Gast waren dieses Jahr bereits die Cabaretduos Pasta del Amore (Christian Gysi, Bruno Maurer) und Ohne Rolf (Jonas Anderhub, Christof Wolfisberg) sowie die Musiker von Gankino Circus, die Konzertcabaret machen. Aktuell sind unter anderem Bilder von Miriam Cahn in einer Ausstellung zu sehen.

Roland Scotti ist Geschäftsführer des Hauses, empfängt mich überaus freundlich und führt durch alle Etagen, wobei mich vor allem der historische Ofen, in dem Ziegel gebrannt wurden, beeindruckt, über dem eine Bühne errichtet worden ist. Die Mauern von damals sind erhalten und begehbar. «Das hier ist bei Kindern besonders beliebt», sagt Scotti, während wir durch die kleinen, verzweigten Gänge schreiten, durch die Heranwachsende problemlos tollen können, Menschen über 1,80 Metern allerdings unentwegt den Kopf einziehen müssen.

«Wenn Anfragen kommen von freien Theatergruppen, tun wir unser Möglichstes, damit die gewünschte Veranstaltung stattfinden kann», erklärt Scotti. Zwar beläuft sich die Theaternutzung auf lediglich 10 Prozent des Gesamtprogramms. Doch die Institution steht Interessierten grundsätzlich offen – «sie müssen eben nur fragen». Der Geschäftsführer erwartet von Veranstaltern und Gruppen, «dass sie selbst auf die Idee kommen». Tatsächlich fanden im Haus bereits Aufführungen von Volkstheatergruppen statt, und die Sitze reichen für 300 Personen. Ein Unikum ist, dass sich die Bestuhlung so aufbauen lässt, dass das Publikum einer Aufführung von allen Seiten beiwohnen kann – fast dreidimensional also. Diesen Herbst wird das Kleinkunst-Variété «Nacht der Kleinkünste» hier seine Tournee beenden und auch das Kabarettduo Luna-Tic in der Ziegelhütte zu Gast sein.

Als ich gehe, drehe ich mich nochmals nach der «Hütte» um und frage mich, ob diese Diskrepanz zwischen bescheidener Selbstbezeichnung und tatsächlicher Innovationsleistung nicht etwas typisch Schweizerisches sei. Gleichzeitig bin ich mir sicher, dass dies vor allem für Jugendliche, denen ansonsten nur die Tracht als Lebensentwurf nahegelegt wird, den Erstkontakt zu etwas anderem erlaubt.

 Eine weitere Station steht auf dem Programm. Ich fahre ein letztes Mal in den Osten des Landes und finalisiere im Kopf die Idee eines mobilen «Schweizer Monat»-Schreibtisches in dieser Gegend.

Literatur mit Schlagzeug

Schlagzeuger Mauro Galato begleitet Schriftsteller Frank Heer bei der Lesung
seines Romans «Alice» in der Kellerbühne in St. Gallen.

Mein letztes Ausflugsziel ist wieder ein Keller. Am Rande der Altstadt von St. Gallen und neben dem Kloster gelegen, findet sich mit der Kellerbühne ein Ort der kulturellen Zusammenkunft, der sich allerdings niemals als «Institution» deklarieren würde – etwas, das vielleicht ein verbindendes Merkmal aller bislang von mir besuchten Veranstaltungsorte sein könnte. Dieser Treffpunkt existiert seit 1965. Er entstand noch während der ersten Gründungswelle der hiesigen Kleintheater. Franz Hohler hatte hier im selben Jahr seinen ersten Auftritt ausserhalb von Zürich. Getragen werden die Aktivitäten von einem Verein, rund 600 Mitglieder finanzieren das Programm: «Sie fördern das Kleintheater für die Stadt und Region St. Gallen», heisst es dazu auf der Webseite.

Ich schreite also erneut hinab und treffe auf Matthias Peter, den künstlerischen Leiter des Hauses und Programmverantwortlichen, der mich über die Besonderheit von Kellern als Kulturorten aufklärt. «Die Cabarets sind aus den Wirtshaussälen in die Keller gezogen», berichtet er. «Alle Kleintheatergründungen beruhen auf Cabaretgruppen, die ihre eigenen Theater eingerichtet haben.» In der St. Galler Kellerbühne wird allerdings nicht nur Cabaret aufgeführt – das abwechslungsreiche Programm umfasst auch Comedy, Chanson, Schauspiel und Literatur. Die Komödiantin Anet Corti war hier kürzlich zu Gast, und das Amateurtheater der St. Galler Bühne führte «Kurz vor null» von Agatha Christie auf. Der Bündner Autor Arno Camenisch trug, in Begleitung des Gitarristen Roman Nowka, Spoken-Word-Poetry vor. Diverse Veranstaltungen wie diese sind der Grund, weshalb das Publikum der Kellerbühne stets gut durchmischt ist.

So auch heute Abend. Angereist bin ich für eine literarische Veranstaltung. Auf der Bühne liest Schriftsteller Frank Heer aus seinem kürzlich im Limmat-Verlag veröffentlichten Werk «Alice»; die Darbietung ist eine Mischung aus Lesung und Musikprogramm, denn Heer wird von Schlagzeuger Mauro Galato begleitet. Die Handlung spielt in den 1970er-Jahren, folglich werden nicht nur Passagen aus dem Buch wiedergegeben, sondern diese auch mit Musik aus jener Zeit untermalt; eine Langspielplatte von Lou Reed, die im Roman eine Rolle spielt, ist zu Heers Füssen platziert. Nach der Durststrecke der beiden letzten Jahre fühlt sich diese Aufführung wirklich besonders an – wie eine liebevolle Vermählung von Wort und Klang, eine Verneigung vor der Rock-Ära und im Grund auch vor der Kellerbühne, die ja in den 1970ern bereits existierte und vom ­einen oder anderen Gast des aktuellen Abends wohl schon damals frequentiert wurde. Den Abend komplettierten Heer und Galato mit einem Instrumentalstück mit Gitarre und Drums.

Das Publikum ist vorwiegend mittleren Alters, was ­angesichts des 1970er-Jahre-Bezugs nicht überrascht. Die Plätze der Kellerbühne sind jedoch nur zu einem Drittel belegt, was gerade an vielen Orten der Fall zu sein scheint.

Doch man darf optimistisch sein: Die Zuschauerzahlen werden wieder steigen. Eine Pandemie mag zwar Aufführungen und das Kulturleben stilllegen, doch der Bühnenreichtum dieses Landes als solcher ist nicht so leicht zu bezwingen. Gerade auch die unabhängige, primär privat ­finanzierte Szene ist immer auch ein Garant für neue ­Konzepte, künstlerische Innovationen und oft ein Weg­bereiter für erfolgreiche Karrieren. Und überhaupt scheint in der Schweiz nichts zu abgelegen, um nicht für eine Veranstaltung besucht zu werden.

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