Von schlechten Eltern
Nächtliche Fahrten durch Vevey und Montreux, durch Seewen und Ödischwend. Ein schweigsamer Chauffeur, der VIP quer durch die Schweiz fährt, spielt die Hauptrolle in Tom Kummers Kurzgeschichte ganz in Schwarz-Weiss.
01:30
Landstrasse, Fahrtrichtung Osten. Kein Gegenverkehr. Leere Dörfer, als gäb’s eine Ausgangssperre. Ich streichle das Lenkrad, das Leder der Handschuhe knirscht leise. Mein Fahrgast diktiert das Reiseziel. Im Kopf fahre ich, wohin ich will.
01:42
Eine Gerade nahe Lausanne. Die Strasse, matt, wie von Russ überzogen. Ich schalte alle Lichter aus, nehme beide Hände vom Steuer und gleite in die Dunkelheit, bis ein Wunder geschieht: Hinter der Windschutzscheibe erscheint ein Gesicht, männliche Nase, volle Lippen, blaue Augen.
Mehr als fünf Sekunden Geisterfahrt schaffe ich selten. Auf den Armaturen leuchten jetzt die Warnungen des Intelligent Driving Systems. Ich schalte die Abblendlichter wieder ein, drücke die rechte Hand zwischen meine Beine und kontrolliere den Rückspiegel. Mein Passagier schläft. Ich habe ihn vor der Genfer Zentrale der Banque Nationale de Paris abgeholt. Er sei Geschäftsmann aus Dakar, Senegal, informierte die Zentrale. VIP-Status. Er spreche Französisch. Reiseziel: Hotel Bellevue, Bern.
01:53
Ich schlucke die rote Tablette. Sie soll mich wachhalten. Drücke meine Hand tiefer in den Schoss. Fühlt sich an, als ob sich elektrisch geladene Fäden von meinen Fingern durch den Körper spannen. Bei Vevey gleite ich auf die Autobahn, weiter östlich erscheinen Umrisse, wie von einer verbrannten Stadt: Montreux. Mein Blick fällt auf das Foto am Armaturenbrett. Es zeigt Vincent und Sebastian mit ihrer Mutter. Ich starre sie an, als seien sie eine Antwort schuldig.
Rückfahrt Richtung Westen. Mittelerde. Skelettiertes Land. Murg, Seewen, Ödischwend, Arn. Der See gefüllt mit Schlamm, darüber rotes Licht. Ich halte den Wagen am Rastplatz mit Panorama, öffne die Fenster, das Schiebedach. Über der anderen Seeseite sticht ein Flugzeug in den Himmel. Alles ruhig, die Landschaft geplündert, kahlgefressen. Stille, Totenstille.
Irgendwann erwacht mein Passagier. Er hustet. Ich blicke in den Rückspiegel. Er schaltet sein iPad ein. Er ist kräftiger Afrikaner, Anfang vierzig, im viel zu engen Nadelstreifenanzug, mit roter Krawatte, Siegelring am Mittelfinger, ein Silberzahn glänzt im halb geöffneten Mund.
Er fragt jetzt, wie lange die Fahrt noch dauere.
Nicht mehr so lange, sage ich.
Er nickt und schaut durch das Seitenfenster.
Auf dem Pannenstreifen stossen Strassenarbeiter schwerbeladene Schubkarren Richtung Norden.
02:12
Was ist das für eine Gegend, fragt er.
Greyerz. Hier wird Käse hergestellt.
Dieser berühmte Käse mit den grossen Löchern?
Nein, kleine Löcher.
Er starrt wieder auf sein iPad, dann kurz in meinen Rückspiegel.
Ein See taucht in der Dunkelheit auf, die Oberfläche wie Glas.
Lac de la Gruyère, sage ich. Der längste Speichersee der Schweiz.
Er starrt ins Schwarze.
In diesen Gewässern trieb ich als Kind.
In einem Ruderboot. Vater fischte nach Forellen.
Mittendrin liegt eine Insel, öde und gottverlassen.
Von wo kommen Sie, fragt mein Fahrgast.
Bern.
Sie sprechen Französisch mit englischem Akzent.
Ich nicke in den Rückspiegel und ziehe die Hand zwischen meinen Beinen hervor.
Hab lange in den USA gelebt.
Ich schalte das Radio ein, SRF2 spielt klassische Musik. Der Gegenverkehr nimmt zu. Bei Freiburg verlasse ich die Autobahn.
Was gefällt Ihnen an der Schweiz?
Ich richte den Rückspiegel und schaue ihn kurz an.
Die Nacht. Sie beruhigt mich.
Die Nacht? Das ist alles?
Tagsüber schlafe ich.
Er starrt jetzt auch auf das Foto am Armaturenbrett.
Ist das Ihre Familie auf dem Bild?
Ja.
Nieselregen. Verschmierte Windschutzscheibe.
Intelligent Driving System meldet sich zurück. Scheibenwischer einschalten.
Blick in den Rückspiegel. Er lässt nicht locker.
Und Ihre Frau ist bei den Kindern, während Sie arbeiten?
Nein. Sie ist tot.
Der Afrikaner schaut verlegen zur Seite, lockert seinen Krawattenknopf.
Das tut mir leid.
Für einen Moment sehe ich ihn von seiner Krawatte an einem Baum hängen. Im Xenonlichtkegel hinter der Windschutzscheibe. Nackt. Vielleicht ist es die Langeweile.
Sie sind alleinerziehender Vater?
Ja.
Keine Frau in Aussicht?
Er spielt weiter mit seiner Krawatte.
Ich bin nicht allein, sage ich und studiere die roten Muster auf dem zu breiten Ding.
Ich halte mir eine Schweizer Hausangestellte, die ich übers Internet buche.
Stille. Der Senegalese hustet, als ob er sich verschluckt hätte.
Dann beugt er sich nach vorne, Schweiss auf seiner Stirn, er legt die Hand auf meine Rückenlehne.
A Swiss maid, really?
Ja, sieht sogar aus wie meine verstorbene Frau. Ein Avatar.
Er blinzelt.
Ein Avatar?
Ja.
Und wie sind Schweizer Hausangestellte, die man im Internet buchen kann?
Er hat Feuer gefangen.
Die sind total verrückt nach Senegalesen, antworte ich und grinse ihn an.Mein Fahrgast starrt reglos. Dann lässt er sich in seinen Sitz zurückfallen und klatscht amüsiert seine Hände zusammen.
Mon Dieu, Sie machen mir vielleicht Spass! Fast hätte ich Ihnen geglaubt. Schweizer Haushälterinnen? Das gibt es doch nicht.
Er blickt wieder auf das Foto.
Stille.
Meine Frau ist vor drei Jahren in Dakar gestorben. An Gelbfieber. Glauben Sie an ein Leben danach?
Ich streichle das Steuerrad.
Daran glaube ich nicht, Monsieur.
Wieso glauben Sie nicht daran?
Menschen sind biologische Maschinen. Wir funktionieren. Nach dem Tod verrotten wir. Das ist alles.
Das glauben Sie?
Ich lüge ihn an. Ich lüge sie alle an.
Der Senegalese beugt sich wieder nach vorne.
Glauben Sie nicht, dass wir göttliche Wesen sind, mit einer unsterblichen Seele und einem ewigen Geist?
Nein, das glaube ich nicht.
Ich schon. Wir können in ein vergangenes Leben zurückkehren und dort mit unseren Toten sprechen.
Er deutet auf das Foto. Ich reagiere nicht.
Andere Fahrer montieren hier ein Kreuz. Oder Bilder von Haustieren. Obwohl uns die Zentrale verboten hat, Persönliches im Wagen auszustellen. Wenn ich mein Foto lange genug anschaue, schiessen die Stromschläge bis hoch zum Hals.
Sie spannt Fäden in mir. Manchmal spüre ich sogar ihr Würgen, so fest, dass mir die Luft wegbleibt. Natürlich kennt der Senegalese die Wahrheit: Die Toten kehren zurück. Sie kontrollieren dein Leben. Es ist Rache. Vielleicht will sie mich umbringen.
02:55
Wir nähern uns der Stadt. Der Turm der Verbrennungsanlage glimmt im roten Kunstlicht, sie gleicht einem riesigen Schiff aus Beton. Mein Passagier kann nichts erkennen. Er ist wieder in sein iPad vertieft. Er sieht nicht die Kolonnen alter Menschen. Klein und gebeugt bewegen sie sich, gestützt auf ihre schwarzen Stöcke, zur Verbrennungsanlage. Dann der lange Boulevard Richtung Stadtzentrum.
Bern ist eine Geisterstadt, kalt und trostlos. Ich sehe Heimatlose, die beim Weltpostdenkmal um ein Feuer stehen und beten. Asche schwebt über den Asphalt. Schwärme von Krähen säumen die Bundesgasse. Streunende Hunde trotten Richtung Hauptbahnhof. Hinter den Regierungsgebäuden leuchten die Alpen im Mondlicht. Dann sind wir am Ziel: Hotel Bellevue. Ein Nachtportier steht bereit. Ich steige aus. Der Senegalese umarmt mich wie ein alter Freund.
Swiss maids, flüstert er in mein Ohr. Er klopft mir grinsend auf die Schulter.
Sie sind ein grosser Spassvogel, mon vieux!
Er will mir zwanzig Franken Trinkgeld geben. Ich lehne ab.
*
03:25
Als ich das Kinderzimmer betrete, liegt Vincent auf dem Bett, mit ausgebreiteten Armen, wie ein Engel. Draussen, über dem Haus, kreisen die Krähen. Sie sind mir bis in den Ostring gefolgt. Ich ziehe mich aus, die Handschuhe zuletzt, und lege mich neben meinen Sohn. Wie immer, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme. Ich lausche seinem Atem, streichle seine Stirn, dann die nackte Brust. Betrachte die Form seines Bauchnabels. Dann küsse ich seinen zarten Hals.
Irgendwann sucht Vincents Hand mein Gesicht. Sie tastet sich von meinem Hals zum Mund vor. Sanft berührt sie meine Augenbrauen, so sanft, als sei dem Elfjährigen längst klargeworden, dass ich ihn mehr brauche als er mich.
06:45
Erst als es draussen hell wird, drehe ich mich um. Ein neuer Schultag beginnt. Ich sollte das Frühstück vorbereiten. Vor dem Kinderzimmerfenster treiben Rauchschleier vorbei. Weiter südlich leuchten Eiger, Mönch und Jungfrau in der Morgensonne. Ich küsse Vincents Stirn und lege meinen Kopf an seinen. Ein schutzloses Baby, das seine Eltern braucht.
Er schläft immer nackt, hat es mir irgendwann abgeschaut. Ich streichle ihn wach. Manchmal zittern seine geschlossenen Augenlider. Es hat schon Nächte gegeben, da habe ich zu weinen begonnen, während ich sein schlafendes Gesicht betrachtete.
Ich erklärte meinen Söhnen erst spät, dass ich zurück in meine alte Heimat muss. Sebastian, der Ältere, weigerte sich.
Dad, nicht in die Schweiz, bitte!
Viele Menschen versuchen, in die Schweiz zu flüchten, erklärte ich. Sie flüchten nicht vor Geistern, sondern vielleicht, weil sie politisch verfolgt werden. Oder in der Schweiz einen Partner fürs Leben finden wollen. Aber es gelingt nur wenigen.
Sebastian überzeugte das nicht.
Als wir ohne ihn in Zürich-Kloten landeten, sagte ich Vincent auf dem Weg zur Passkontrolle: Was haben wir für ein Glück! Die Schweiz ist das Paradies auf Erden. Vielleicht das reichste Land der Welt. Bestimmt das sicherste!
Als wir von den Einwanderungsbehörden ausgesondert und in einem überbelichteten Raum verhört wurden, bekam er Angst. Er begann zu weinen. Er vergrub sein Gesicht in meinem Schoss. Ich massierte seinen Nacken. Ich versuchte ihn zu beruhigen: Sie müssen uns reinlassen, habe ich Vincent gesagt. Wir sind Schweizer. Und wir haben alles verloren.
07:15
Ich ziehe die Decke von seinen Füssen, rüttle ihn wach. Er muss zur Schule. Ich öffne die Fenster in seinem Kinderzimmer, in einer spartanisch eingerichteten Dreizimmerwohnung, oberster Stock eines Hochhauses in einem Berner Aussenquartier, ein Plattenbetonbau aus den frühen sechziger Jahren mit grosszügigen Gartenanlagen, flankiert von einem kleinen kuratierten Wald, in dem fast alle Arten stehen, die in einem Schweizer Wald wachsen. Die Baumkronen enden direkt vor Vincents breiter Fensterfront, und es sieht ein bisschen aus, als lebe er in einer Baumhütte. Oder in einem Geisterschiff. Das ist unsere neue Heimat.
*
01:30
Landstrasse. Kanton Aargau. Kein Gegenverkehr. Der dichtere Nebel auf der A3 zwang mich zu einem Umweg. Bei Münchwilen bin ich von der Autobahn abgefahren und am rechten Rheinufer der Hauptstrasse 7 gefolgt, dann auf die 5 Richtung Süden.
Mein Fahrgast weiss von nichts. Es ist eine dunkelhaarige Frau, Ende dreissig mit schönen traurigen Augen, vertieft in ihren Computerbildschirm. Ich starre sie schon viel zu lang im Rückspiegel an.
Von der Zentrale gab es keine genaueren Angaben. Sie spreche Englisch. Kein VIP-Status, was mich überraschte. Ich hatte sie beim Hauptquartier des Chemieunternehmens Novartis abgeholt. Sie wurde von einem Portier und einem Sicherheitsbeamten zum Wagen eskortiert.
02:05
An Würenlingen vorbei, ein Stück Schweiz nach dem Ende der Welt. Ein Waldstück mit toten Kiefern, dazwischen Gebäudetrümmer und Kabelstränge. Im Dickicht Menschen. Menschen im Wald. Manche an ihre Flugzeugsitze geschnallt, mit weit geöffnetem Mund, als hätten sie noch einmal tausend Meter freien Fall vor sich. Ich sehe es ganz deutlich. Würenlingen. Die Warnlichter des Intelligent Driving Systems melden sich zurück. Wir tauchen in eine Nebelbank. Sichtweite zwanzig Meter. Sie blickt durch das Seitenfenster, dann nach vorn.
Wo sind wir, fragt sie.
Nahe Zürich, Madam. Keine Sorge, der Nebel ist kein Problem.
Sie versucht sich abzulenken, ohne auf den Bildschirm zu schauen. Blickt auf das Foto auf dem Armaturenbrett.
Das ist Ihre Frau auf dem Bild, korrekt?
Ja, Madam.
Sie hatte mich schon kurz nach Basel auf das Bild angesprochen. Jetzt fragt sie mich, ob ich Schweizer sei. Woher Vincent und Sebastian ihre Locken hätten. Und diese üppigen Lippen. Und ich erzähle ihr die Lügengeschichte, die ich all meinen Fahrgästen erzähle, wenn sie die Locken und die Lippen mit meiner Herkunft in Verbindung bringen.
Meine Familie kommt aus Nordafrika, sage ich.
Das habe sie fast vermutet, sagt sie. Ich komme übrigens aus London. Tochter einer Japanerin und eines Israeli. Schlimme Mischung. Ständig werde ich auf meine Herkunft angesprochen.
Sie spricht, als habe sie Vertrauen zu mir gefunden.
Sagen Sie bitte Olga, sagt sie und lächelt mich an.
Tom, sage ich.
Ich studiere ihren Körper und werde immer unvorsichtiger. Mein Verhalten ist unprofessionell.
Was hat Sie nach Basel geführt, frage ich und drehe mich leicht in ihre Richtung.
Stille.
Ich bin Unternehmerin in der Chemiewirtschaft. Ich unterhalte Labors.
Also sind Sie Chemikerin, frage ich so ahnungslos wie möglich.
Nein, ich leite ein Unternehmen, das neue Medikamente entwickelt. Das ist alles.
Sie lächelt.
Welches ist momentan das profitabelste Medikament der Welt?
Sie schaut aus dem Fenster.
Ich glaube, es ist ein Hepatitis-C-Medikament der Firma Harvoni. Mit Preisen von über 20 000 Euro für eine Monatspackung.
Ist ja noch teurer als Viagra. Ich grinse in den Rückspiegel.
Sie lacht zurück. Benutzen Sie das?
Noch nicht.
Wir lachen.
Unsere Firma arbeitet an der Entwicklung von hochpotentem Sildenafil, ohne Nebenwirkungen. Und wir werden die Kosten senken. Das wird eine Revolution auslösen.
An was?
Stille.
Plötzlich beugt sie sich vor, als ob sie mit ihrer Hand meine Schulter berühren wollte.
Viele Frauen finden unsere Forschung schädlich für die Sexualität. Der verdammte Feminismus beschäftigt sich einfach zu sehr mit dem weiblichen Lustprinzip. Und nicht mit der jouissance des Mannes.
Ich weiss gerade nicht, was jouissance heisst. Ich blicke zurück, sie lächelt mich an.
Es gibt Männer, die Probleme haben, ihre Sexualität auszuleben. Das ist ungesund für die Welt.
Wir lachen.
Und Ihre Forschung wird das ändern, frage ich.
Ja, davon bin ich überzeugt.
Ich schaue ihr in die Augen und frage: Wie man Menschen zusammenbringt, dafür gibt es noch kein Medikament?
Sie starrt mich an. Ich spüre, wie sich meine Haut spannt. Ein kaltes Prickeln, das von meinen Fingerspitzen bis in den Bauch strahlt.
Ich habe schon viele Frauen durch die Nacht gefahren. War nie ein Problem. Jetzt braut sich eine miese Idee im Kopf zusammen.
02:25
Ich sage eine Weile nichts mehr, der Wagen gleitet auf die A3. Scheinwerfer blenden mich.
Meine Augen schmerzen. Ich sollte die Pille nehmen, Tropfen wären besser. Ich schalte die Nebellichter ein. Sie konzentriert sich auf ihr iPhone. Ich kann ihr Gesicht im Licht des Bildschirms nur schwach erkennen. Aber ihre Augen leuchten, volle rote Lippen. Wir gleiten weit oben am Zürichsee vorbei.
Ist das Middle-Earth, fragt Olga plötzlich und lächelt.
Stille.
Wo war Tolkien, als er die Schweiz besuchte?
Ich drehe mich kurz um.
Sie meinen J.R.R. Tolkien, den Autor von «Der Herr der Ringe»?
Ja, genau.
Er besuchte das Lauterbrunnental, das liegt gut einhundert Kilometer südwestlich von hier, mehr weiss ich nicht. Tut mir leid. Sie müssten mit meinem Sohn über Tolkien sprechen. Er weiss alles.
Ich setze mich gerade auf. Das Lauterbrunnental. Gegenüber von Mürren liegt das Jungfraumassiv mit Schwarzmönch und Silberhorn, Tolkiens Lieblingsberg. Mein Vater erzählte mir furchtbare Geschichten über diesen Schwarzmönch, eine Wand, durch die er noch kurz vor seinem Tod geklettert ist und zu deren Füssen wir im April 1973 seine Asche verstreuten.
Genau in diesem Moment durchfährt mich eine Gier, gerade so als habe meine Passagierin ein chemisches Mittel ins Wageninnere gesprüht, ein neues Mittel, das von der Isolation befreit. Ich sollte reagieren. Doch meine Hände schmerzen, zu fest habe ich das Steuer umklammert. Ich sehe, wie Olga mit ihren schönen traurigen Augen über die düstere Fläche des Zürichsees blickt. Es fällt mir schwer, nicht anzuhalten und es zu versuchen.
Ein merkwürdiger Geruch umgibt mich jetzt, etwas Metallisches. Ich beschleunige auf 135 Stundenkilometer. Mein Blick bleibt an der weissen Randlinie hängen, als ob sie den letzten Halt böte. Aber es gelingt mir nicht. Die Gier wird stärker. Ich muss mich ablenken. Ich sollte etwas zu meiner Passagierin sagen, vielleicht von meinen Kindern erzählen. Aber was?
Ich könnte erzählen, dass unsere Jungs immer pünktlich zu essen bekamen. Sie haben immer genügend geschlafen, konnten ohne Regeln spielen, bekamen Liebe, fühlten sich ernst genommen und trafen selbständig ihre Entscheidungen. Wir haben ihnen Zeit zum planlosen Spielen gegeben. Planloses Spielen sorgt für die beste Vernetzung im Gehirn, hatte ich mal in einem Erziehungsratgeber gelesen. Die Glücksforschung wäre bei unseren Kindern zu dem Schluss gekommen: Glückliche Kinder! Glückliche Eltern! Aber ich sage nichts. Sie schaut mich nur an.
03:20
Vaduz, Parkhotel Sonnenhof. Sie habe diese Fahrt genossen, sagt Olga. Wenn sie wieder die Schweiz besuche, werde sie mich als Fahrer buchen.
Ein Hotelportier kümmert sich um ihr Gepäck.
Der Kofferraum schliesst automatisch.
*
Rückfahrt Richtung Westen. Mittelerde. Skelettiertes Land. Murg, Seewen, Ödischwend, Arn.
Der See gefüllt mit Schlamm, darüber rotes Licht.
Ich halte den Wagen am Rastplatz mit Panorama, öffne die Fenster, das Schiebedach. Über der anderen Seeseite sticht ein Flugzeug in den Himmel. Alles ruhig, die Landschaft geplündert, kahlgefressen. Stille, Totenstille.
Ich stecke eine Zigarette zwischen die Lippen. Finde kein Feuer. Dann erscheint sie in der Dunkelheit.
Sie legt ihren Arm um meine Schulter, versucht, mich zu beruhigen. Wie früher. Sie gibt mir Feuer. Wir blicken über den See. Sie küsst mich, ich schliesse die Augen. Unsere Zungen kreisen umeinander. Ich spüre ihren Herzschlag direkt unter der Brust, warmen Herzschlag, angetrieben von rotem Blut, das durch ihre Adern fliesst. Ich streichle ihre Haare, atme ihren Duft tief ein. Ihre Hände wandern über meinen Rücken.
Was für eine Nacht.
Wir tauchen ein in den Zürichsee, unfassbar lauwarm. Seite an Seite gleiten wir durch schäumendes Wasser. Wild und schmutzig an der Oberfläche, sanfter und stahlblau darunter. Ich schaue sie an, wie sie im Wasser schwebt, in zehn Metern Tiefe, ganz entrückt.
Ich ziehe sie heran, durchflute sie mit meiner Wärme, und ihre Wärme flutet zu mir zurück.
Wir tauchen tiefer. Etwas funkelt dort unten. Sie hat ihren Kopf abgewendet, zieht mich hinterher, ich rufe ihr zu, schlucke Wasser, dann schaut sie mich an, mit Augen ohne Hornhaut, aus ihrem Mund wächst der Schnabel eines Riesenkalmars. Ihre langen Arme reissen mich in die Finsternis, bis zum Grund. Sie saugt sich an mir fest. Der chitinisierte Schnabel zerschneidet meine Lippen. Sie öffnet ihr Inneres, stösst bunten Nebel aus. Erst dann lässt sie los, lässt mich treiben, wie eine Leiche. Sie entfernt sich im Blau des Zürichsees, zieht ihren Schweif hinter sich her.
Ich tauche auf, schnappe nach Luft.
Blutspuren auf dem Mond über Horgen. Donnergrollen über Kilchberg. Gibt es Erlösung?
Als ich zurück auf die Autobahn gleite, spüre ich Tränen auf den Wangen.
Du hast etwas verloren, Tom, du hast es vernichtet. Und es ist dennoch grösser als du. Koreanische Nachbarn in Los Angeles haben mir von dieser extremen Traurigkeit erzählt. Sie nennen den Zustand Han. Man könne daran sterben, sagten sie.
Ein Weltschmerz. Ein Wahnsinn. Ein Kummer. Als Zürich im Rückspiegel verschwindet, verstummt die Stimme.
Endlich, vor mir, das nicht enden wollende Nichts des Schweizer Mittellands, bei Nacht beinahe erträglich. Der Kühlturm des Atommeilers stösst Rauchbänder aus, die sich leuchtend mit dem Himmel verbrüdern. Der Anblick tut gut. Vor den Mond schiebt sich Finsternis, aber mein iPhone leuchtet.
Die Zentrale. Ich soll den Wagen direkt in die Garage am Casinoplatz fahren. Inspektion.
Ich nehme die Hände vom Steuerrad. Ich nehme das Bild vom Armaturenbrett. Ich falte es sorgfältig, stecke es in die Innentasche meines schwarzen Blazers. Über mir ziehen die grünen Schilder der A1 hinweg.
Illustrationen: Michael Raaflaub.
Beim vorliegenden Text handelt es sich um den Beginn seines neuen Romans «Von Schlechten Eltern», der im Frühjahr bei Tropen erscheinen wird. Diesen Auszug hat er auf Einladung von Michael Wiederstein an den diesjährigen «Tagen der deutschsprachigen Literatur» in Klagenfurt (Bachmannpreis) gelesen.