Von heissen Kartoffeln und dem wahren Rentenklau
Stellen Sie sich vor: Die Bundesversammlung beschliesst in der nächsten Session ein Gesetz, welches die Schwerkraft aufhebt. Das kann sie, wenn sie das will. Es ist allerdings nicht anzunehmen, dass sich die Schwerkraft von einem Beschluss des Schweizer National- und Ständerats beeindrucken liesse: Newtons Apfel fiele nach wie vor vom Baum – neuerdings einfach gesetzeswidrig. […]
Stellen Sie sich vor: Die Bundesversammlung beschliesst in der nächsten Session ein Gesetz, welches die Schwerkraft aufhebt. Das kann sie, wenn sie das will. Es ist allerdings nicht anzunehmen, dass sich die Schwerkraft von einem Beschluss des Schweizer National- und Ständerats beeindrucken liesse: Newtons Apfel fiele nach wie vor vom Baum – neuerdings einfach gesetzeswidrig. Ist dieses Beispiel absurd? Natürlich. Aber das gleiche Prinzip wird bei der zweiten Säule unserer Altersvorsorge angewendet: Mit dem Mindestzins und dem Mindestumwandlungssatz legt die Politik fest, wie sich die Märkte in bezug auf unsere Pensionskassen zu verhalten haben.
Das Problem ist natürlich, dass sich Märkte oder gar die Demographie – ähnlich der Schwerkraft – nicht so einfach dem Willen des Schweizer Parlaments unterwerfen lassen. Die Folgen sind systemwidrige Querfinanzierungen von Jung zu Alt: Jeder Rentner bezieht heute 65 000 Franken mehr Alterskapital, als er angespart hat, die systemwidrige Umverteilung von Jung zu Alt beträgt jährlich etwa 3 Milliarden Franken. Die Differenz bezahlen die Erwerbstätigen in der Form höherer Lohnabzüge oder tieferer künftiger Renten. Dies ist allgemein bekannt und ohne Ideologie anhand von einfacher, kühler Arithmetik nachweisbar. Und will man doch etwas Ideologie einbringen, müsste man eigentlich sagen: Diese Querfinanzierung ist der eigentliche Rentenklau in der beruflichen Vorsorge.
Ich bin gegen Rentenklau, egal ob dieser an heutigen oder zukünftigen Rentnern begangen wird. Diese Haltung ist im Parlament aber weniger verbreitet, als man denken könnte: Gerade bei Parteien, die sonst Nachhaltigkeit predigen, verstummt diese Rhetorik bei der Finanzierung unserer Sozialwerke. Für jede noch so ineffiziente und zusätzliche Umverteilung von Reich zu Arm nehmen die Umverteiler jeden Schaden in Kauf – auch Schuldenberge zulasten der nächsten Generationen. «Soziale» Sozialpolitik sieht anders aus. Das gilt übrigens nicht nur für die berufliche Vorsorge, sondern generell für die Sozialwerke. Diese sind per Definition langfristig angelegt – eben Generationenprojekte. Darum verlangt eine liberale Politik, dass bei der Ausgestaltung unserer Sozialwerke der Blick nicht im Jetzt verharrt, sondern stets auch auf den Horizont gerichtet ist. Die Mehrheiten im Parlament neigen aber eher dazu, den Kopf in den Sand zu stecken und den noch entfernten Sturm zu ignorieren.
Die Altersvorsorge, das Gesundheitswesen, die Ergänzungsleistungen: alle diese Dossiers sind heisse Eisen der Politik. Die Schwierigkeit, das heisse Eisen zu schmieden, liegt darin, dass Schulden lange unsichtbar sind, während eine Rentensenkung oder Leistungsanpassung unmittelbar spürbar ist, was wiederum unmittelbar Protest verursacht. Und da man sich an heissen Eisen auch verbrennen kann, reicht man sie – der berühmten heissen Kartoffel gleich – lieber weiter, damit sich später – unbedingt später – jemand anderes darum kümmert. In der Zwischenzeit macht man sich selber mit weiteren Umverteilungsgeschenken bei der Wählerschaft beliebt.
Die Gesellschaft verändert sich, und einhergehend mit diesen Veränderungen müssen wir auch die Sozialwerke anpassen. Besitzstandwahrung in jedem Fall können wir uns nicht leisten. Doch hier liegt das Kernproblem unsozialer Sozialpolitik: Ist eine Leistung einmal gesetzlich festgelegt, ist es nahezu unmöglich, diese anzupassen oder gar abzuschaffen.
Auf die laufende Reform der Altersvorsorge angewendet bedeutet dies: Eine Reform von AHV und BVG ist realpolitisch leider nur möglich, wenn die Leistungen dieser Sozialversicherungen nicht spürbar sinken. Eine minime (und noch immer ungenügende) Senkung des Umwandlungssatzes auf 6 Prozent muss mit einer höheren Beitragspflicht junger Menschen erkauft werden. Gewisse Kreise wollen noch weitergehen und zusätzliche Zückerchen in der AHV verteilen. Solcher Zuckerguss ist aber süsses Gift: Statt das Finanzierungsproblem der AHV zu lösen, vergrössert man es und verschiebt die Lösung auf später. So wird auch in der AHV eine enorme Umverteilung von Jung zu Alt bestehen bleiben, von derjenigen von «oben nach unten» gar nicht zu sprechen.
Der Graben zwischen Verteilwünschen und Realität fördert bisweilen Groteskes zutage: Während sich im Parlament Umverteiler vehement gegen eine kompensierte Senkung des Umwandlungssatzes auf 6 Prozent wehrten, musste die Pensionskasse des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes im August ihren Umwandlungssatz deutlich senken – auf 6,25 Prozent. Die Schwerkraft falscher oder verschobener Entscheide holt am Ende eben auch die wendigsten Finanzierungsakrobaten auf den Boden der Realität zurück.
Andrea Caroni
ist promovierter Jurist, Anwalt und Ständerat (FDP/AR).