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Von einer Zweiklassengesellschaft kann nicht die Rede sein
Andreas Stöckli, zvg.

Von einer Zweiklassengesellschaft kann nicht die Rede sein

Unter dem Aspekt der verminderten Ansteckbarkeit lässt sich die frühzeitige Rückkehr zu den Grundrechten für Geimpfte, Genesene und Getestete rechtfertigen.

 

Nachdem die freiheitseinschränkenden Coronamassnahmen lange Zeit grundsätzlich unabhängig von der Frage gegolten hatten, ob Personen immun waren oder nicht, wurden in der ­Zwischenzeit erste Differenzierungen eingeführt: So können beispielsweise Personen, die bereits zwei Impfdosen erhalten haben, im Falle eines Kontakts mit einer positiv getesteten Person von der Quarantänepflicht befreit werden. Die Frage der differenzierten Behandlung von Geimpften und Ungeimpften hat denn auch an praktischer Bedeutung gewonnen, nachdem erste wissenschaftliche Studien aufgezeigt hatten, dass eine Impfung nicht nur wirksam vor der Erkrankung schützt («klinische Immunität»), sondern auch die Übertragung des Virus deutlich einschränkt («sterile Immunität»).

Private dürfen differenzieren – im Namen der Wirtschaftsfreiheit

Wenn aus rechtlicher Sicht über eine Differenzierung zwischen Geimpften und Ungeimpften gesprochen wird, muss erst einmal zwischen dem staatlichen und dem privaten Bereich unterschieden werden: Anders als der Staat dürfen sich Private nämlich auf Grundrechte wie etwa die Wirtschaftsfreiheit berufen. Während Differenzierungen nach dem Impfstatus für den staatlichen Bereich, beispielsweise für den Zugang zu staatlichen Einrichtungen wie Schulen, schwer zu rechtfertigen sind, besteht im privaten ­Bereich deutlich mehr Spielraum. Im Kontext von Grossveranstaltungen oder im Flugverkehr könnte eine solche Differenzierung denn auch im wirtschaftlichen Interesse liegen. Auch der Besuch eines Restaurants oder Fitnesscenters lässt unter diesem Aspekt eine Differenzierung zu.

Einigen Bürgern ist das ein Dorn im Auge: Sie fordern ein Verbot der Ungleichbehandlung durch Private. Es ist aber fraglich, ob es für ein solches staatliches Verbot eine ausreichende Rechtfertigung gäbe. Sollte sich aber zeigen, dass Ungeimpfte ihre Grundbedürfnisse nicht mehr ohne grösseren Aufwand decken können, wäre ein staatliches Eingreifen im Einzelfall aber wohl angezeigt.

Besonders knifflige Fragen können sich im Arbeitsbereich ergeben. Bereits heute bietet das Arbeitsrecht einen gewissen Schutz, zu nennen ist insbesondere der Persönlichkeitsschutz, doch unter Umständen können Arbeitnehmende in gewissen Branchen, zum Beispiel in Arztpraxen oder Pflegeheimen, auch zur Impfung verpflichtet werden. Es ist insofern fraglich, ob es weitere staatliche Klärungen braucht. Meines Erachtens sind in diesem Bereich idealerweise sozialpartnerschaftliche Lösungen zu finden.

Wie darf der Staat lockern?

Es stellt sich weiter die Frage, ob der Staat nicht gar verpflichtet ist, die staatlichen Coronamassnahmen, die erheblich in grundrechtliche Freiheiten der einzelnen und der Unternehmen eingreifen, gegenüber Geimpften aufzuheben.

Aus verfassungsrechtlicher Sicht scheint die Antwort auf diese Frage – jedenfalls auf den ersten Blick – ziemlich klar zu sein. Zwei Punkte sind dabei besonders bedeutsam: Da erstens in bezug auf nicht mehr ansteckende Personen der Grund für die freiheitsbeschränkenden staatlichen Coronamassnahmen weg­gefallen ist, müssen diese grundsätzlich aufgehoben werden. Es ist insofern unzutreffend, von Privilegien zu sprechen; vielmehr geht es um die Wiederherstellung der verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechte. Zweitens stellt der Umstand, geimpft und damit für andere kein Ansteckungsrisiko mehr zu sein, im Kontext der Pandemiebekämpfung ein legitimer Grund dar, anders behandelt zu werden als Ungeimpfte, von denen weiterhin ein Ansteckungsrisiko ausgeht. Das Kriterium der Nichtansteckung erscheint als gerechtfertigtes Kriterium für Differenzierungen: Von einer Diskriminierung im rechtlichen Sinne kann nicht gesprochen werden, da die Differenzierung nicht an ein verpöntes Merkmal (wie etwa Rasse, Religion, Geschlecht, Behinderung) anknüpft.

Nichtsdestotrotz ist eine selektive Lockerungsstrategie freilich mit zahlreichen Herausforderungen verbunden: So stellt sich etwa die Frage, welcher Grad an Schutz, Immunität und Übertragungsverminderung beziehungsweise welcher Impfstoff für eine Lockerung der Massnahmen für Geimpfte genügt. Diese Frage muss in erster Linie von Epidemiologen, Virologen und Gesundheitsexperten beurteilt werden. Dabei muss auch die Frage auf­geworfen werden, welche Restrisiken vernünftigerweise ein­gegangen werden sollen und dürfen. Eine selektive Lockerung der Coronamassnahmen für Geimpfte kommt aber grundsätzlich nur bei einer weitreichenden «sterilen Immunität» in Frage. Studien deuten darauf hin, dass dies bei den heute zugelassenen Impfstoffen der Fall ist.

Weiter stellt sich die Frage, ob eine Lockerung für Geimpfte erst ab dem Zeitpunkt in Frage kommt, wenn alle Personen ­Zugang zur Impfung haben. Würde man nicht darauf warten, entstünde eine Ungleichbehandlung für Leute, die sich zwar impfen lassen wollen, aber dies aufgrund der fehlenden Impfmöglich­keiten noch nicht können. Gleichzeitig widerspricht eine verzögerte Öffnung den Interessen der Geimpften. Eine Abwägung kann deshalb auch so ausfallen, dass nicht auf das Impfangebot für alle gewartet wird, wobei freilich vorausgesetzt ist, dass zumindest für alle eine Impfperspektive besteht.

Kein «faktisches Impfobligatorium»

Mit Blick auf die Ausführungen zur schrittweisen Wiederherstellung der Grundrechte sind die Bedenken einer Zweiklassen­gesellschaft nur wenig überzeugend. Es gibt aber durchaus Argumente, die gegen eine selektive Lockerung sprechen. So ist etwa das Argument der Regelbefolgung im Blick zu behalten: Werden Geimpfte von gewissen Coronamassnahmen entbunden, beispielsweise von der Pflicht, im öffentlichen Verkehr eine Maske zu tragen, kann dies zu Missstimmung und Misstrauen und dazu führen, dass sich Ungeimpfte nicht mehr an die Regeln halten. Da es sich hierbei um ein juristisch «weiches» Kriterium handelt, dürfte es allerdings nur in bezug auf leichte Grundrechtseingriffe durchschlagend sein. Folglich sollte auf eine Differenzierung ­zwischen Geimpften und Ungeimpften in bezug auf das Masken­tragen im öffentlichen Verkehr oder in öffentlich zugänglichen Räumen verzichtet werden.

Gegen eine Differenzierung können weiter auch Praktikabilitätsargumente ins Feld geführt werden: Was, wenn sich eine ­Differenzierung nicht kontrollieren oder durchsetzen lässt? Dies wäre etwa bei Grossveranstaltungen der Fall, wo keine Zutrittskontrolle stattfindet.

Gegen eine Differenzierungsstrategie wird weiter vor­gebracht, dass sie ein «faktisches Impfobligatorium» einführe, wobei dies vor allem deshalb problematisch sei, da die Politik ein solches bisher kategorisch ausgeschlossen habe. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass durch die selektive Lockerung Anreize entstehen, sich impfen zu lassen. Solche Anreize sind so lange ­legitim, als sie der Autonomie und der Entscheidungsfreiheit der einzelnen Personen Rechnung tragen.

Relevant sind weiter auch Verhältnismässigkeitsüberlegungen: Es ist insbesondere zu fragen, ob es mildere Massnahmen zur Differenzierung gibt und ob eine Unterscheidung überhaupt notwendig ist. Sofern es die epidemiologische Lage oder der Aufbau alternativer Schutzkonzepte zulässt, müssen die Massnahmen für alle gelockert werden.

Unter Gleichheits- und Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten müssen des weiteren Personen mit einem zuverlässigen negativen Testergebnis gleichbehandelt werden wie nicht mehr an­steckende Geimpfte. Dadurch würden sowohl Impfwillige, die noch nicht geimpft sind, als auch Personen, die sich nicht impfen lassen können oder wollen, nicht ungleich behandelt. Von einem «faktischen Impfobligatorium» kann somit nicht mehr die Rede sein. Ob auch für bereits genesene Personen eine Gleichstellung vorgesehen werden muss, hängt davon ab, ob eine vergleichbare sterile Immunität vorliegt wie bei Geimpften, für die Lockerungen vorgesehen werden. Das Unterscheidungskriterium lautet also nicht geimpft/nichtgeimpft, sondern ansteckend/nichtansteckend.

Voraussetzung für eine selektive Lockerungsstrategie ist auf alle Fälle die Gewährleistung eines sicheren und zuverlässigen Impf- beziehungsweise Immunitätsnachweises. Dabei ist nicht nur an eine nationale, sondern – mit Blick auf den grenzüberschreitenden Verkehr – auch an eine internationale Anerkennung zu denken. Ebenfalls müssen die Erfordernisse des Datenschutzes beachtet werden.

Die Schweiz ist auf Kurs

Diese Feststellungen führen mich zum Schluss, dass der Staat in Bereichen, in denen eine Lockerung der Coronamassnahmen noch nicht für alle Personen in Frage kommt, vorübergehend eine Strategie der selektiven Lockerung für Nichtansteckende verfolgen darf und sollte. Regelungen betreffend die allgemeine Prävention (Maskenpflicht, Abstandsvorschriften, Hygieneregeln) sollten indes weiterhin für alle Personen gleichermassen aufrechterhalten werden, sofern sie notwendig und zumutbar sind.

Unterstützungswürdig ist insofern der Vorschlag des Bundesrats, der beabsichtigt, in der zweiten Phase (der sogenannten ­Stabilisierungsphase) seines 3-Phasen-Öffnungsplans, sobald die impfwillige erwachsene Bevölkerung geimpft ist, den Zugang zu gewissen Orten für geimpfte, negativgetestete und genesene ­Personen aufgrund eines Covidzertifikats selektiv zu ermöglichen.

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