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Von der Unentschlossenheit

Nichts ist so schlimm, dass man es unbedingt ändern müsste. So denkt der Unentschlossene. Ihn lähmt die Furcht vor dem Risiko
und die Hoffnung, alles renke sich von selbst wieder ein.

Von allen Übeln ist die Unentschlossenheit eines der grössten. Endlos grübelt der Zauderer, prüft, was zu tun sei, obwohl er ahnt, dass es unnütz ist. Nach einiger Zeit schlägt die brütende Schwere der Gedanken in schlaflose Erregung um. Sie rührt von den leeren Entschlüssen her, die nie etwas entscheiden und den Körper zappeln lassen wie einen Karpfen auf dem Trockenen.

Immerfort wägt der Unschlüssige die Folgen eines Schrittes gegen alle anderen Möglichkeiten ab, ohne auch nur einen Millimeter von der Stelle zu kommen. Rückt der Moment der Entscheidung dennoch näher, ergreift ihn eine seltsame Hektik. Unbedingt sucht er den Ernstfall zu verschieben. Mit doppeltem Tempo überdenkt er die Gesichtspunkte, holt weitere Ratschläge und Meinungen ein, erwägt tausendfach die Konsequenzen, die absehbaren wie die unwahrscheinlichen, konsultiert weitere Berater, um endlich erschöpft eine Pause einzulegen in der Hoffnung, dass sich die Angelegenheit am Ende doch von selbst erledigen werde.

In ihrem Alltag sind die meisten Menschen konservativ. Zögern und Zaudern halten sie für ein Gebot der Klugheit. Sie möchten glauben, dass alles so bleibe, wie es ist. Selbst wer sich in miserabler Lage befindet, hält oftmals am bekannten Elend fest. Wandel kann, so lehrt die Erfahrung, die Lage verschlimmern, auch wenn die Verschlechterung einzig darin besteht, dass Veränderungen Mühe kosten und man die Konsequenzen allein zu verantworten hat. Nur wer nichts tut, so glauben viele, macht keine Fehler.

Entscheidungen sind keineswegs harmlos. Sie durchbrechen die Routine des Alltags. Die Dezision wird getroffen, blitzartig, endgültig. Es ist wie das Fällen eines Urteils: Ja oder Nein, Rechts oder Links, Christus oder Barrabas. Der Moment der Entscheidung ist der Augenblick der Macht. Endlos haben Reflexionen und Debatten gewährt, jeder Aspekt wurde vielfach beleuchtet, doch nun durchschlägt die Entscheidung den wirren Knoten der Stimmen, Neigungen und Interessen. Sie legt fest, was gilt. Alles andere ist plötzlich nichtig.

Diese negative Kraft verleiht der Dezision symbolische Kraft. Menschen, die rasch und viel entscheiden, geniessen besonderes Ansehen. Doch bedarf die Entscheidung nicht nur der Macht, sie ist selbst ein Akt der Macht. Schlagartig entwertet sie alle Bedenken und Vorschläge. Sie bringt das Gerede zum Schweigen. Die alten Regeln werden keineswegs bestätigt. Dafür bedürfte es keiner Entscheidung. Durch den Akt der Willkür werden sie kurzzeitig negiert. Was die normativen Umstände anlangt, werden Entscheidungen fast aus dem Nichts geboren. Eine nachträgliche Schelte kann daran wenig ändern. Die Entscheidung ist unumstösslich. Könnte man sie korrigieren, wäre sie keine Entscheidung.

Entschlüsse verpflichten für die Zukunft. Mit Bestimmheit sagen sie, was getan werden soll. Manch einer fürchtet diese Aufgabe. Er möchte sich nicht festlegen, möchte sich die Optionen offenhalten. Die Vermeidung der Dezision ist eine Negation der Zukunft. Der Untätige erwartet nichts, erhofft nichts, wünscht nichts, was nicht schon der Fall wäre. Er will gar keine Zukunft. Die Entscheidung hingegen rettet die Zukunft. Sie durchtrennt die Kontinuität der Zeit und setzt eine Zäsur. Geschichte ist zwar nicht mehr zu ändern, aber morgen soll es anders sein. Mit jeder Entscheidung, die den Namen verdient, beginnt eine neue Geschichte. Schon dies verursacht Unruhe, Unmut, Besorgnis.

Aber Entscheidungen betreffen keineswegs nur die Zukunft. Indem sie sich dem blinden Fortgang der Geschichte widersetzen, korrigieren sie das Bild der Vergangenheit. Was war, wird nicht länger hingenommen. Die Dezision verurteilt die Geschichte, die Macht der Vergangenheit wird gebrochen. Nichts muss so sein, wie es ist, ja, auch früher schon musste nichts so sein, wie es war.

Weil Entscheidungen die Sicherheit der Tatsachen untergraben, werden sie gefürchtet und gemieden. Sie führen vor Augen, dass alles zur Disposition gestellt werden kann. Verträge können gekündigt, Hilfen gestrichen, Löhne gekürzt, Institutionen aufgelöst werden. Zuletzt ist auf nichts Verlass: den Lebensstandard, die Karriere, die Biographie, den Besitzstand. Nicht umsonst ist der Widerspruch gegen Veränderungen in den Mittelklassen besonders hoch. Wer nichts hat, verliert auch nichts. Wer sehr viel hat, verliert nur wenig. Wer aber etwas hat, fürchtet, alles zu verlieren. Die Verzagtheit auf historisch hohem Versorgungsniveau speist sich aus der Einsicht, dass Sicherheiten niemals sicher sind.

Unentschlossenheit beruft sich mit Vorliebe auf den Mangel an Informationen. Zahllose Kommissionen und Expertisen sollen diese Unwägbarkeit verringern. Aber zuviel Wissen ist eher Ballast. Es ist kein Zufall, dass die allermeisten Gutachten ungelesen im Aktenschrank verschwinden. Denn die Voraussetzung der Entscheidung ist nicht Wissen, sondern Unkenntnis. Wäre die Zukunft bekannt, gäbe es gar keine Alternativen, zwischen denen man wählen könnte. Nur das Nichtwissen ermöglicht Entscheidungen. Weil wir die Zukunft gar nicht kennen können, sind Dezisionen möglich – und notwendig.

Ist der Entschluss gefällt, ist die Lage noch keineswegs geklärt. Entscheidungen sind nichts wert, wenn sie nicht verwirklicht werden. Nun schlägt die Stunde des Wankelmuts. Endlich hat man alles Zögern überwunden, aber jetzt zeigt sich plötzlich Widerstand. Einwände, die erledigt schienen, melden sich wieder zu Wort, das Handeln bricht ab, beginnt erneut und scheitert nochmals.

Zu Versuch und Irrtum fehlt die Kraft. Nachdem er sich endlich durchgerungen hat, will der Wankelmütige den Erfolg sofort. Schon bei der geringsten Schwierigkeit erlahmt sein Elan. Für Rückschläge ist er nicht gerüstet. Aufgeregt sucht er herum, wendet sich hin und her, startet erneut, hält inne, bricht das Vorhaben ein zweites Mal ab und fällt schliesslich zurück ins Raisonnement. Da es ihm an Willenskraft mangelt, stösst ihn die geringfügigste Tatsache in Verzagtheit zurück.

Ohne Aktion findet der Beschluss nicht in die Realität. Die Wohltat des Handelns liegt darin, dass die Möglichkeiten, für die man sich nicht entschieden hat, alsbald vergessen werden. Sie existieren gar nicht mehr, weil das Handeln unterdessen die Lage verändert hat. Nur in Gedanken zu handeln, lässt alles, wie es ist. Allein die Tat klärt die Situation und beseitigt Alternativen. Nicht zu handeln ist daher oft schlimmer als böses Handeln. Was nicht wirkt, ist so gut wie tot. Nichtstun ist schon der vorweggenommene Tod. Daher ist es der Mut, der dem Menschen das Faulbett vergällt, ihn zum Leben erweckt und ihn zugleich aus dem Gefängnis der Imagination befreit.

Ganze Kollektive können von Unentschlossenheit befallen sein. Dies gilt im nationalen wie im internationalen Massstab. Parteien, Regierungen oder Staatenbünde scheuen Beschlüsse, obwohl sie unerlässlich sind. Kaum zeichnet sich eine Entscheidung ab, regt sich lautstarker Protest. Die Politik scheut überfällige Reformen oder Interventionen, weil die übergrosse Mehrheit die Tat fürchtet und die Folgen – ungelegen kommen. Dies führt mittelfristig zur Entpolitisierung. Politik ist der endlose Kampf um die Macht der Entscheidung. Regieren heisst nichts anderes, als jene strategischen Entscheidungen durchzusetzen, die für die Gesellschaft verbindlich sind. Das Entscheiden ist die genuin politische Tätigkeit. Auf Entscheidungen zu verzichten, heisst aufs Regieren zu verzichten. Eine demokratische Machtelite, die den Wandel blockiert, weiss zwar die Mehrheit hinter sich, aber sie begibt sich der Entscheidungsmacht, mit der sie durch den Wahlakt ausgestattet wurde.

Jeder Entschluss hinterlässt Sieger und Verlierer. Daher schafft man sich mit Entscheidungen mehr Feinde als Freunde. Breite Zustimmung ist kein Gütekriterium für Entscheidungen. Sind alle einverstanden, ist mit Sicherheit gar keine Entscheidung getroffen worden. Offenbar gab es gar keine Alternativen, zwischen denen zu wählen war. Die fortwährende Suche nach Einvernehmen jedoch erklärt Unentschlossenheit zur Strategie. Viele politische Aktivitäten dienen einzig dazu, nichts zu entscheiden und möglichst wenig zu tun.

Die Methoden organisierter Unentschlossenheit sind vielfältig. Alternativen werden so lange abgeschliffen, bis sie gar nicht mehr kenntlich sind. Frühzeitig versucht man, alle Divergenzen auszuräumen, damit ein Kompromiss die Entscheidung erübrigt. Schon im Vorfeld unterdrückt man die Artikulation brisanter Interessen, verwehrt den Zugang zur Streitarena oder biegt eine weitreichende Forderung zu einer harmlosen Anregung um. Oder man umschliesst die Opposition, indem man sie kooptiert oder ihr die Illusion suggeriert, eine Stimme zu haben, obwohl sie de facto stimmlos ist. Partizipation dient häufig dazu, die Gegenseite mundtot zu machen und jede Veränderung zu blockieren. Als günstig erweist sich auch die Einrichtung eines Vetorechts. Dies erzwingt den Konsens aller Beteiligten und Unbeteiligten. Ohne Harmonie kein Beschluss. Ist der Konsens erzielt, erübrigt sich jedoch jeder Entschluss. So eliminiert man mit der Dezision auch den Sinn fürs Politische.

Helfen auch diese Verfahren der Nichtentscheidung nicht, richtet man Ausschüsse ein, Arbeitsgruppen, Untersuchungskommissionen und Stätten der Begegnung. Sie dienen als Müllkörbe der Institutionen. Hier landen alle strittigen Themen, Meinungen und Interessen, deren Behandlung so lange aufgeschoben wird, bis nichts mehr zu entscheiden ist. Politische Systeme, die es auf die Umgehung von Entscheidungen abgesehen haben, pflegen einen endlosen Diskurs, damit niemand jemals mehr in die Nähe einer Entscheidung gelangt.

Wolfgang Sofsky, geboren 1952, ist Professor für Soziologie und Autor u.a. von «Das Prinzip Sicherheit» (2005) und «Verteidigung des Privaten» (2007). In seinen vorhergehenden Kolumnen zu «Unsitten und Untugenden» hat er sich mit der Untertänigkeit (Ausgabe 959), dem Hochmut (Ausgabe 961) und der Harmoniesucht (Ausgabe 962) befasst.

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