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Von der Unabhängigkeit zur Freiheit

Historisch basiert Montenegro auf solidarischen Kleingemeinschaften

Am 21. Mai 2006 stiess ein neues Land zum Kreis der souveränen Staaten dieser Welt. Montenegro gewann seine Unabhängigkeit, nach 88 Jahren der Inkorporation in den verschiedensten staatlichen Verbänden des Balkans – zuletzt innerhalb des Bundesstaats Jugoslawien und dann als Teilstaat Serbiens.

Montenegro ist ein kleines Land an der Adriaküste, mit etwas über 600’000 Einwohnern und einer langen, bemerkenswerten Geschichte, die bis auf die alten Römer zurückreicht. Nach diesen finden wir das Land unter vielfältigen Regierungsformen und Namen: Duklja, Zeta, Montenegro. In der letzten Periode vor seiner Unabhängigkeit war es zunächst Teil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen; dann der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien, zusammen mit Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina sowie Mazedonien; dann der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien; und schliesslich gehörte es zur Föderativen Republik Jugoslawien, gemeinsam mit Serbien und der Föderation Serbien und Montenegro.

Die politischern und kulturellen Wurzeln des heutigen Montenegro reichen vom 18. bis ins angehende 20. Jahrhundert – die Zeit der Petrovi?-Dynastie. Dies ist die Periode, auf die die Montenegriner zurückgreifen, wenn sie sich auf ihre Traditionen und ihre Herkunft berufen. Damals war Montenegro vom mächtigen Osmanischen Reich umgeben, und alle seine Nachbarländer unterstanden entweder diesem oder dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich. Da Montenegro nie unterworfen war, erschien es als leuchtendes Vorbild im Kampf gegen die Türken.

1878 erkannte der Berliner Kongress Montenegro als unabhängigen Staat an und markierte den Anfang einer neuen Ära für den Balkan, die jedoch zunächst eine lange Kette von historischen Erschütterungen auslöste. Nach dem Ersten Balkankrieg (1912) war das Osmanische Reich am Ende und König Nikolaus I. von Montenegro einer der Hauptsieger. Im darauf folgenden Ersten Weltkrieg brachte er das Land auf die Seite der siegreichen Allianz, musste es dann aber aufgrund wechselnder Umstände verlassen, und Montenegro wurde 1918 Teil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Es sah so aus, als wenn damit die Geschichte eines unabhängigen Montenegro zum Abschluss gekommen wäre. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg tauchte Montenegro wieder auf und zwar als eines der sechs Gründungsmitglieder der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien. Nach deren Zusammenbruch anfangs der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts gewannen alle Teilrepubliken ihre Unabhängigkeit, ausser Serbien und Montenegro, die die Föderative Republik Jugoslawien bildeten – für viele eine düstere Zeit. Zu deren Beginn standen lediglich 15 Prozent der Bevölkerung Montenegros hinter einer möglichen Unabhängigkeit. Der Rest fand es vorteilhafter, sich mit einem zwanzigmal grösseren Partner zusammenzutun. Immerhin gewann der Gedanke der Unabhängigkeit mit der Zeit an Boden; denn die Bevölkerung gelangte zunehmend zur Überzeugung, dass «Gleichheit zwischen einer Gruppe von 5 Prozent mit einer Gruppe von 95 Prozent» eine Illusion sei.

Das Wachsen der Unabhängigkeitsbewegung wurde vom grösseren Partner mit militärischem Druck beantwortet, allerdings mit zweifelhaftem Erfolg. Denn parallel zur Unabhängigkeitsbewegung entwickelten sich die beiden Teile des Staatsgebildes immer deutlicher in verschiedene Richtungen. Serbien und der föderationsfreundliche Teil Montenegros stellten auf die traditionelle Schwerindustrie und eine starke Regierung ab, während die Unabhängigkeitsfreunde eine freie und offene Wirtschaft wollten, mit einer schlanken Regierung und stark verankerter Eigentumsgarantie.

Nach Miloševi?s Ausscheiden 2001 fiel die Gewalt als Mittel der Problemlösung zwischen Serbien und Montenegro ausser Betracht. Es begann in den komplexen, historisch belasteten Beziehungen zu Serbien eine neue Phase. Unter der aktiven Assistenz der EU kam 2003 das Belgrader Abkommen zustande, und ein Staatenverbund mit dem Namen «Föderation Serbien und Montenegro» wurde neu geschaffen. Doch in Montenegro betrachteten ihn beide Seiten lediglich als Übergangslösung auf dem Weg zur vollständigen Verwirklichung ihrer jeweils entgegengesetzten Ziele.

Gleich bei der Unterzeichnung des Belgrader Abkommens sprangen die Unterschiede zwischen den Entwicklungskonzepten der beiden Vertragspartner in die Augen, besonders krass die Tatsache, dass die beiden offiziellen Teile eines und desselben Staatsgebildes zwei verschiedene Währungen benutzten – Montenegro den Euro, Serbien den Dinar. Erhebliche Unterschiede gab es auch in der Zoll- und Visapolitik, die in Montenegro, dem Gesamtkonzept eines offenen Landes folgend, bedeutend liberaler war. Der Staatenverbund existierte bloss auf dem Papier – und in einigen EU-Köpfen, die nicht müde wurden zu beteuern, dieser stelle das optimale Vehikel für den EU-Beitritt dar.

All diese Umstände mussten schliesslich in dem im Belgrader Abkommen vorgesehenen Referendum als dem einzig möglichen Mittel münden, die Zukunft Montenegros sowohl demokratisch wie dauerhaft zu regeln. Es kam – unter tatkräftiger Vermittlung der EU – zu Verhandlungen zwischen der unabhängigkeits- und referendumsfreundlichen Regierung und der Opposition, die von beidem nichts wissen wollte. Das daraus resultierende Abkommen verlangte schliesslich für die Konstituierung der montenegrinischen Unabhängigkeit ein Quorum von mindestens 55 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Unabhängigkeitsseite akzeptierte diese Bedingung im sicheren Vertrauen auf ihre Realisierbarkeit. Der Ausgang des Referendums vom 21. Mai 2006 gab ihr recht, 55,4 Prozent stimmten dafür, 44,8 Prozent dagegen.

Die Gewinner bemühten sich darum, dass die Unterlegenen sich nicht als Verlierer fühlen mussten. Glücklicherweise war das Resultat des Volksentscheids nicht ethnisch bestimmt. Alle in Montenegro lebenden ethnischen Gruppen – bestehend aus 43,2 Prozent Montenegrinern, 31,9 Prozent Serben, 14,5 Prozent Muslimen und Bosniern, 7,5 Prozent Albanern, 1,1 Prozent Kroaten – stimmten für die Unabhängigkeit. Diese obsiegte, weil die Bürger von deren Vorteilen überzeugt waren.

Doch sieht sich Montenegro nun vor dem Problem, wie es mit dieser Unabhängigkeit umgehen soll. Führt Unabhängigkeit des Staates automatisch zu grösserer persönlicher Freiheit? Im Vordergrund steht heute für viele der Wunsch nach mehr materiellem Wohlstand. Die Gewährleistung persönlicher Freiheit ist verfassungsmässig gesichert. Fiskalpolitische Änderungen sind eingeleitet. Es geht darum, mehr Spielräume zu schaffen und staatliche Eingriffe zu reduzieren. Die Privatisierung steht in der Schlussphase. Zur Steigerung der internationalen Konkurrenzfähigkeit sind die Zölle tiefer als in den Nachbarländern. Der Rechtsstatus der Ausländer ist verankert, Gewinnrückführungen sind frei. Dank einem sehr liberalen Investitionsklima gehörte Montenegro 2005 bei den ausländischen Direktinvestitionen zur osteuropäischen Spitze.

Nun stellt sich die Frage nach der Zukunft. Wie lassen sich die gegenwärtigen Trends fortsetzen? Von besonderer Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass die Unabhängigkeit Montenegros weder eine Folge politischer Machtausübung noch einer Übereinkunft zwischen Eliten, sondern der Ausdruck des freien Willens seiner Bürger ist. Wie muss nun die staatliche Verwaltung organisiert sein, um in den Augen der Bürger deren Interessen wahrzunehmen? Die bisherigen staatlichen Massnahmen wurden auf das Ziel grösserer individueller Freiheit ausgerichtet. Entspricht dies lediglich den Präferenzen eines begrenzten Kreises, oder auch dem Willen einer Mehrheit? Wie werden sich die Eliten und Entscheidungsträger in Zukunft verhalten? Wie lässt sich die enorme persönliche Energie, die hinter dem Referendum stand, in einen fruchtbaren, landesweiten Dialog umsetzen? Was wird siegen – Kollektivismus oder Liberalismus?

Wer Antworten auf solche Fragen sucht, kann auf eine sorgfältige Analyse der in der Bevölkerung verankerten kulturellen Verhaltensmuster nicht verzichten. Der Blick auf die Entstehung des neuen Montenegro und auf die vorhandenen kulturellen Paradigmen kann zu durchaus gegensätzlichen Voraussagen führen. Falls es bei der Umsetzung der die persönliche Freiheit konstituierenden Normen zu einem Rückschritt kommen sollte, liesse sich dies historisch erklären. Montenegro basierte seit je auf kleinen kollektiven Gemeinschaften und die Montenegriner hatten nie die Möglichkeit, die Vorzüge einer individualistischen Gesellschaft zu erleben. Vor der sozialistischen Ära (1945–1991) war Montenegro während Jahrhunderten mit dem Kampf ums Überleben beschäftigt – kein idealer Boden für Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft. Doch auch für eine erfolgreiche Entwicklung in Richtung Individualismus kann das Land an vorhandene Verhaltensmuster anknüpfen. Eines davon könnte die herausragende Leistung des mutigen Individuums sein. Heroismus und Individualismus haben eine gemeinsame Wurzel.

Generationen von Montenegrinern lebten mit der Überzeugung, Heldentum und Freiheitskampf seien die höchsten Werte. Ferner wurde im Bemühen, die Entscheidungsgewalt vom Herrscher auf eine unabhängige Institution zu übertragen, schon anfangs des 18. Jahrhunderts ein Gerichtshof eingesetzt. Auch die Geschichte des Buchdrucks hat in Montenegro eine mehr als 600jährige Tradition. So liessen sich historische Gründe sowohl für ein kollektivistisches als auch für ein individualistisches Szenario finden.

Aber der Diskurs über spezifische kulturelle Muster als zwingende Voraussetzungen für eine bestimmte Grundordnung greift zu kurz. Die Grundelemente einer freiheitlichen Ordnung sind in vielen unterschiedlichen Kulturen angelegt und haben auch anthropologische Wurzeln. Jede freie Gesellschaft beruht auf einem verfassungsmässigen Fundament, das den Bürgern Wahl- und Entscheidungsfreiheit garantiert. So gesehen, ist Montenegro kein Sonderfall. Seine weitere Entwicklung hängt von der Fähigkeit der Menschen ab, die Überlegenheit der Institutionen zu erkennen, dank denen sie frei sind, und vom Willen, diese Institutionen weiterzuentwickeln.

Die Art der Entstehung Montenegros legt die Erwartung nahe, der Ausbau der freien Gesellschaft werde weitergehen. Doch das reicht nicht. Freiheit ist fragil. Unterschiedliche soziale Gruppen haben unterschiedliche Ansichten darüber, wie die Gesellschaft der Zukunft aussehen soll. Dazu kommt die entscheidende Tatsache, dass sie verschiedenartige Interessen verfolgen. Die Verantwortung dafür liegt bei den Eliten. Individuelle Freiheit kann sich als Weltanschauung nur in einem offenen Markt und im freien Wettbewerb der Ideen durchsetzen.

Der Beitrag wurde von Reinhart Fischer aus dem Englischen übersetzt.

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