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Von der Lebenslüge zehren

Zum 100. Todestag von Hernik Ibsen

Als Henrik Ibsen 1850 aus der heimatlichen Kleinstadt Skien, wo er 1828 zur Welt gekommen war, nach Kristiania zog, wie die norwegische Hauptstadt damals hiess, hatte er schon Gedichte veröffentlicht und ein Drama geschrieben. Denn nachdem seine Familie aus relativem Wohlstand in wirtschaftliche Not abgeglitten war und er mehrere Jahre als Lehrling in einer Apotheke hatte arbeiten müssen, fand er im Schreiben einen Ausweg aus dem Unglück. Dieses Unglück, das er auch um sich herum beobachtete, war zugleich die Quelle «einer grossen, anhaltenden poetischen und dramatischen Energie», wie die amerikanische Kritikerin Elizabeth Hardwick einmal schrieb, «die ihn Tag um Tag, Jahr um Jahr weiterarbeiten liess». In Kristiania holte Ibsen die Schulabschlussprüfungen nach und wollte studieren, doch er nahm mehr am gesellschaftlichen und politischen Leben als am akademischen Unterricht teil. Die revolutionäre Umbruchstimmung von 1848 hatte schliesslich den entlegenen europäischen Norden erreicht, und auch in Norwegen formierte sich nicht nur eine liberale Opposition, sondern entstanden sozialistische Arbeiter- und Handwerkervereinigungen, die als Zentralorgan eine Zeitung herausgaben. Der Chefredaktor dieser «Zeitung der Arbeitervereinigungen», Theodor Abilgaard, war Ibsens Nachbar in einer ärmlichen Gegend von Kristiania, und er gewann ihn als Redaktionsmitarbeiter. Als die Zeitung – und die Arbeitervereinigung – im Sommer 1851 verboten und Abilgaard und andere Zeitungsmitarbeiter verhaftet wurden, entkam Ibsen nur, weil ein vorsichtiger Drucker herumliegende Manuskripte, darunter auch seine, vernichtet hatte.

Ibsens Aufsätze aus dieser Periode waren meist Satiren, in denen er die inhaltsleere Rhetorik des öffentlichen Diskurses als Symptom einer inhaltslosen politischen Betriebsamkeit ausmachte. Es war nicht zuletzt die Verkrustung der norwegischen Gesellschaft, gegen die sich eine nationalromantische Stimmung wandte, der auch Ibsen verfiel. Er begann, alte Sagen zu verarbeiten, schrieb patriotische Gedichte und wurde zu einem Verfechter des «Skandinavismus», den er jedoch später als Demagogie denunzierte, als Schweden und Norwegen Dänemark gegen Preussen nicht beizustehen vermochten. In mehreren Stücken zeichnete Ibsen ein satirisches Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse und schuf Figuren, die an der allgemeinen Verlogenheit scheiterten. «Wohl ist die unmittelbare Wirklichkeit unberechtigt im Reich der Kunst», schrieb Ibsen in einer Theaterkritik von 1851, «aber das Kunstwerk, das die Wirklichkeit nicht in sich trägt, ist ebenso unberechtigt.»

Die Wirklichkeit, die Ibsen seinen Stücken verliehen hat, war nicht nur gesellschaftlicher, sondern auch psychologischer Art. Seine moralische Strenge – ein Erbe seiner pietistischen Erziehung – führte zu einer sozialkritischen Haltung (in dem Gedicht «Ein Reimbrief» schildert er das zeitgenössische Europa als prachtvolles Dampfschiff, in dessen Laderaum eine Leiche verborgen ist) und zugleich zu einer «krankhaften Lust am Entsetzen», wie George Bernard Shaw fand. Trotz phantastischen und unheimlichen Episoden wurden Ibsens erste Dramen nur wenig erfolgreich, die er in den 1850er Jahren als Hausdichter am neugegründeten Norske Theater in Bergen schuf. Doch in den fünf Jahren, die er in Bergen verbrachte, schulte er sein dramaturgisches Geschick an unzähligen Inszenierungen und schrieb immerfort. Als er zum Theaterdirektor des Norske Theaters in Kristiania berufen wurde, war er für seine kräftige, an die nordische Folklore ebenso wie an die pietistische Predigt angelehnte Sprache bekannt, aber noch immer nicht erfolgreich. Ibsen, der inzwischen geheiratet hatte, war in ständiger finanzieller Not, und als das Theater 1864 in Konkurs ging, verschlimmerte sich seine Lage derart, dass er das Land verliess. Denn, wie er in «Peer Gynt» schrieb: «Ich las mal gedruckt / – und darin liegt Verstand –: / Es gilt kein Prophet im eigenen Land.»

Die nächsten 27 Jahre verbrachte Ibsen in Dresden und München und immer wieder in Rom. In Dresden wohnte er Shakespeare-Aufführungen bei, die seinen Umgang mit dem dramatischen Stoff prägten; in München begegnete er Paul Heyse, und in Rom lernte er Edvard Grieg kennen, der sein dramatisches Gedicht «Peer Gynt» in Musik setzte und mit dem ihn eine «eisige Freundschaft» (Grieg) verbinden sollte. Auch die Dramen, die Ibsen berühmt machten und den Naturalismus begründeten, entstanden im Exil in Mittel- und Südeuropa. «Er arbeitet ungemein bedächtig und gewissenhaft», schildert 1894 ein Freund Ibsens Arbeitsweise. «Er schreibt täglich fünf Stunden, nicht mehr und auch nur selten weniger, von acht Uhr vormittags bis ein Uhr mittags. Er arbeitet in ziemlich gleichmässigem Tempo und braucht zur Niederschrift eines jeden Stückes etwa fünf Monate. … Seine erste Niederschrift ist ganz unfertig, skizzenhaft, gewissermassen nur die Untermalung. Da sagt er ohne Rücksicht auf die Gebote der praktischen Bühne alles, was er sagen will, und hält sich auch nicht dabei auf, wie er es gerade sagt. Die stärkste Veränderung erfährt das Stück bei der zweiten Umgestaltung. Da entsteht aus der ‹rudis indigestaque moles›, der ersten Aufzeichnung, das festgegliederte szenische Gebilde. Da erhält auch der Dialog schon im grossen und ganzen seine endgültige knappe Fassung. Die dritte Redaktion ist eigentlich nur Reinschrift in noch strafferer und präziserer Form.» Ibsens finanzielle Lage verbesserte sich erst in den 70er Jahren. Nicht mehr nur in Norwegen, sondern vor allem in Deutschland wurden seine Stücke mit Erfolg inszeniert, und der dänische Verlag Gyldendal veröffentlichte und vertrieb sie mit Gewinn.

Freiheit als Selbstbestimmung der Frauen

Mit den vier sogenannten Gesellschaftsdramen, «Stützen der Gesellschaft» (1877), «Nora oder Ein Puppenheim» (1879), «Gespenster» (1881) und «Ein Volksfeind» (1883), wurde Ibsen berühmt, und «Ibsenism», wie George Bernard Shaw «die in dramatische Form gekleidete Kritik moralischer Konvention» nannte, wurde zu einer Art intellektueller Weltanschauung. Weil sie einen sozialkritischen Rahmen hatten und in ihnen individuelle Lebensentwürfe entfaltet wurden, galten diese Dramen als realistisch, aber weil ihre Figuren ausser Stimmungen und Verstimmungen wenig erlebten und in Selbstreflexion verharrten, galten sie als Ideenstücke. Ibsens Männerfiguren litten an selbstgemachtem Unglück, das sich aus Machtdrang und emotioneller Starre konstituierte, und mussten irgendwann ihr «ganzes verpfuschtes, verfehltes Leben» erkennen. Seine Bühnenpopularität rührte von seinen Frauengestalten, die zwischen Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung in ihrem Unglück gefangen und trotzdem in ihrem Freiheitsdrang ungebrochen waren. Und es war das weibliche Publikum, das, wie eine umfangreiche Korrespondenz zeigt, in der dichterischen Sugges­-tivkraft dieser Figuren alltagspsychologische Dimensionen erkannte. Wegen der Entschlossenheit, mit der Nora in «Ein Puppenheim» schliesslich ihren Mann verlässt, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wurde das Stück von der Frauenbewegung als emanzipatorisches Manifest aufgenommen. In einer Ansprache vor der norwegischen Gesellschaft für Frauenrechte, die ihn eingeladen hatte, sagte Ibsen, er wisse nicht, was für Rechte Frauenrechte seien, ihm gehe es allgemein um Freiheit, um ein freies Leben.

Dieses freie Leben war für Ibsen ein jenseits der sozialen Konventionen, wohl aber mit Rücksicht auf moralische Normen selbstbestimmtes Leben – und es war das Streben nach Freiheit, das sein frühes politisches Verhalten bestimmt hatte und das er zum poetischen Vorwurf verdichtete. «Wer die Freiheit anders besitzt denn als das zu Erstrebende», schrieb Ibsen einmal an einen Freund, «der besitzt sie tot und geistlos, denn der Freiheitsbegriff hat ja doch die Eigenschaft, sich während der Aneignung stetig zu erweitern, und wenn deshalb einer während des Kampfes stehen bleibt und sagt: Jetzt habe ich sie! – so zeigt er eben dadurch, dass er sie verloren hat.» Dieses Streben nach einem freien Leben machte er zu einem Charakterzug seiner Figuren, die keineswegs heldenhafte Tugenden besassen, sondern Durchschnittsmenschen waren. Denn auf der dramatischen Bühne gab es nur noch Menschen, nachdem die Götter verbannt worden waren. «Der Mensch», schrieb der Literaturtheoretiker Peter Szondi über das moderne Drama, «ging ins Drama gleichsam nur als Mitmensch ein.» Der Dialog, der das Drama konstituiert und als Gattung definiert, schliesst aus, was sich ausserhalb seiner selbst abspielt. Durch die räumlich?zeitliche Gegenwart des Dialogs wird auch die Form des Dramas festgelegt: weil jede Szene gleichermassen «hier» und «jetzt» stattfindet, ist der Zeitablauf eine Gegenwartsfolge. «Im Drama (und in der Epopöe) existiert das Vergangene nicht», diagnostizierte Georg Lukács, «oder es ist vollkommen gegenwärtig. Da diese Formen den Zeitablauf nicht kennen, gibt es in ihnen keinen Qualitätsunterschied des Erlebens zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem; die Zeit besitzt keine wandelschaffende Macht, nichts wird von ihr in seiner Bedeutung verstärkt oder abgeschwächt.» In der szenischen Unmöglichkeit der Vergegenwärtigung und der formalen Notwendigkeit des Dialogs liegt ein Formproblem, das Ibsen überwinden musste. Er hat als erster Dramatiker versucht, die Vergangenheit, die sich nicht vergegenwärtigen lässt, dramatisch darzustellen, und hat damit dem Drama neue formale Dimensionen erschlossen.

Am Ende die Aussprache

Weil die Handlungsmotive seiner Stücke in der Vergangenheit und die Wahrheit seiner Figuren in ihrem Inneren liegen, ist Ibsens Ausgangspunkt epischer, nicht dramatischer Natur, und tatsächlich teilte er seine Themen mit der Prosaliteratur seiner Zeit. Wie in den grossen Romanen des 19. Jahrhunderts, geht es in Ibsens Stücken um Provinz­alltag, um feige Anpassung, um soziale Stellung und Geld, um Moral und Verzicht und um unterdrückte Wut – es geht um eine vornehm verhüllte Lebenslüge, die erst am Ende der Stücke in der Aussprache der Figuren blossgelegt wird. So ist die Handlung der Stücke als Suche nach Spuren von Vergangenem im Gegenwärtigen, nach «Gewesendem» (Heidegger) angelegt – nicht zufällig werden diese Stücke «analytisch» genannt. Wie in einer Psychoanalyse wird eine Urverletzung vorausgesetzt, wird das sorgsam Verborgene langsam ans Licht geholt, wird die Gegenwart durch die Vergangenheit erklärt – und wie in einer Psychoanalyse muss das Vergangene sprachlich vergegenwärtigt werden. Indem er die Vergegenwärtigung der Vergangenheit leitmotivisch als Ausgesprochenes gestaltete, konnte Ibsen die epische Grundlage verbergen; und indem er die Enthüllung von vergangenem und verborgenem Leben dramaturgisch notwendig und somit plausibel machte, konnte er Gegenwart und Vergangenheit handlungswirksam miteinander verflechten. Aber Ibsens Figuren können nur in sich gekehrt und von der Lebenslüge zehrend (über)leben, und die offene Aussprache, zu der sie gezwungen werden, bedeutet zugleich ihr dramatisches Ende. So wurde der Dramatiker, schrieb Szondi, «zum Mörder seiner eigenen Geschöpfe».

Ibsen gelang es, das Formproblem zu meistern. Ohne dabei die dramatische Form aufzugeben, verzichtete er auf jene räumlich?zeitliche Gegenwart, die das Drama als solches erfordert. Als er 1891 nach Norwegen zurückkehrte, war Ibsen ein kanonischer Dichter. Er hatte die Verkrustung einer moralisch verlogenen Gesellschaft aufgedeckt und die Konventionalität der Lebensentwürfe als Lebenslügen entlarvt – und hatte dabei eine der Moderne angemessene analytische Technik erprobt. Tatsächlich hat Ibsen den Weg des Dramas in den modernen Naturalismus geebnet. Schon vor seinem Tod am 23. Mai 1906 in Oslo waren seine Stücke ins Repertoire aller grossen Theater eingegangen. Berühmte Schauspielerinnen der Zeit traten in Inszenierungen und später in Verfilmungen auf und etablierten die Figuren und die Stücke als Teile des abendländischen Kulturerbes.

Glück der Lebenslüge

Hedda Gabler gehört zu Ibsens problematischsten Figuren. Sie ist zwar eine modern-emanzipierte Frau, aber ihr Freiheitstrieb ist, wie Lou Andreas-Salomé schon Anfang des 20. Jahrhunderts fand, «ohne innere Wahrheit, ohne Kraft, ohne Ziel und deshalb ohne Wert»; ihr Zerstörungs- und Selbstzerstörungsdrang macht sie zu «einer der bösartigsten romantischen Gestalten der Literatur», urteilte die amerikanische Kritikerin Elizabeth Hardwick. Wenn dieses Stück eine Moral hat, dann die, schrieb Hardwick, dass «letztlich nichts sich als wert erweisen wird, andere und sich selbst zerstört zu haben». Diese Moral lässt sich vielleicht aus allen Stücken Ibsens destillieren – und macht ihn zum Ahnen Ingmar Bergmans, dessen Filme von einem ibsenschen Misstrauen gegenüber den pathetisch falschen Lebensvorstellungen der Frauenfiguren gespeist sind. Tatsächlich sind Ibsens Frauen in der Mischung aus Kälte und heissem Überlebenskampf die Vorläuferinnen der Bergmanschen Figuren.

Ibsen wurde zum Paten des modernen Dramas. Gerhart Hauptmann führte Ibsens analytisches Drama in den Naturalismus über; George Bernard Shaw wendete den Ernst seiner gesellschaftskritischen Beobachtung ins Satirisch-Komische; Arthur Miller machte aus den Seelenkrisendramen psychologisches Theater; Bertolt Brecht schliesslich stützte sich auf die Ideenstücke, um sein episches Theater mit aufklärerischem Impuls zu entwickeln. Für Literaturwissenschafter boten Ibsens depressionsgefährdete Figuren den Spielboden einer psychoanalytischen Literaturinterpretation, die sich auf Freud berief, jedoch dessen hermeneutische Vorsicht stets verriet; Sprachwissenschafter erkannten in Ibsens Bruch mit dem rigiden Register der bis dahin geltenden Bühnensprache und in seiner Verwendung von Sprichwörtern eine Erneuerung der Alltagssprache; Regisseure rieben sich immer wieder an den ereignislosen Handlungen und an der sparsamen und genauen Figurenführung.

Mit Inszenierungen seiner Stücke wird überall Ibsens 100. Todestag begangen, aber vor allem in Norwegen wird sein literarisches und dramaturgisches Erbe gefeiert. So wurde anlässlich des Ibsen-Jahres der Theaterkünstler Robert Wilson eingeladen, am Norwegischen Nationaltheater in Oslo «Peer Gynt» zu inszenieren. Es gibt einen offiziellen Internetauftritt mit Informationen zu weltweiten Veranstaltungen, und die ersten vier Bände einer neuen Ibsen-Ausgabe wurden der Öffentlichkeit präsentiert. Diese Ibsen-Ausgabe ist das grösste Editionsprojekt in der Geschichte Norwegens. Innerhalb von drei Jahren sollen insgesamt 15 Textbände, 15 Kommentarbände und ein Registerband veröffentlicht werden, schliesslich eine digitalisierte Ausgabe sämtlicher Texte. Spätestens dann wird man per Mausklick erfahren, dass die Lebenslüge existentiell notwendig sei. Denn – so heisst es in «Die Wildente» –: «Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, und Sie nehmen ihm zu gleicher Zeit das Glück.»

Stefana Sabin, geboren 1955, schreibt als freie Kulturkritikerin insbesondere für die NZZ und die FAZ.

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