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Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen. Folge 6

Die Überlieferungsgeschichte der beiden Fassungen 1853 schrieb Gottfried Keller an einen Freund: «Ich habe gesehen und gestaunt, wie schlecht und unfähig die Produkte anderer Leute gelesen werden.» Trotz dieser pessimistischen Einschätzung Kellers wurden beide Fassungen des «Grünen Heinrichs» offenbar gut und fähig genug gelesen, um inzwischen zur Weltliteratur zu zählen. Von der Kunst, Gottfried Keller zu lesen, handelt auch eine diesjährige Vorlesung am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Walter Morgenthaler, Projektleiter der Historisch-Kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe, beschreibt die Herausforderungen, Kellers Werk erstmals in vollem Umfang zugänglich zu machen und im Kontext seiner Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte darzustellen. Der Abschluss der insgesamt 35 Bände, von denen bisher 25 und ein Einführungsband erschienen sind, ist für 2011 geplant.

Dass es sinnvoll ist, zwei Fassungen des «Grünen Heinrichs» zu unterscheiden, ist kaum je ernsthaft bestritten worden. Problemlos lassen sich allgemein gebräuchliche Fassungsdefinitionen, wie diejenige des «Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft» (1997, Bd. 1, S. 567), auch auf Kellers Roman anwenden. Danach sind Fassungen «vom Autor verantwortete, aufeinander folgende Gestaltungen, die in der Regel für einen bestimmten Zeitpunkt das für ihn gültige Werk darstellen». Steht für die erste Fassung des «Grünen Heinrichs» der vierbändige Romanerstling des 35jährigen Autors, der 1854/55 im Braunschweiger Vieweg-Verlag erschienen ist, so für die zweite Fassung die vollständig umgearbeitete, im Göschen-Verlag erschienene Ausgabe von 1879/80. Diese «Neue Ausgabe» – so der Untertitel – sollte, als fortan gültige, das frühere Buch ersetzen und der Vergessenheit überantworten. Die eine Titelfigur, die im grossen und ganzen beidemal das gleiche Schicksal erfährt, geht in der zweiten Fassung an diesem nicht mehr zugrunde, sondern überlebt als erinnernder Ich-Erzähler. Genau besehen, basiert aber der Text, den wir lesen, wenn wir die zweite Fassung in Händen zu halten glauben, in aller Regel nicht auf der «Neuen Ausgabe» von 1879/80, sondern auf einer dritten Auflage, einer «Ausgabe letzter Hand» oder einem Konglomerat verschiedener Textzeugen. Obwohl in all diesen Zweitfassungs-Ausgaben der grüne Heinrich den gleichen späteren Weg geht, ist ihr Text durchaus nicht identisch. Darauf soll im folgenden, mit Bezug auf die Text- und Überlieferungsgeschichte, etwas näher eingegangen werden.

Einfach sind die Verhältnisse bei der ersten Fassung, die nur in der einen Ausgabe von 1854/55 existiert. Diese ist der absolute Anfang, nicht der Entstehungs-, aber der Überlieferungsgeschichte. Vor ihr gibt es – ausser einem zweiseitigen Entwurf für den Romananfang, einem brieflichen Konzept, ein paar Notizen und Gedichtniederschriften – nichts, was über die Textgenese detaillierten Aufschluss geben könnte. Ganz anders steht es um die Überlieferungssituation der «Neuen Ausgabe» von 1879/80. Hier ist, dank dem umsichtigen Interesse des Verlegers Ferdinand Weibert, die für den Druck verwendete Textvorlage vollständig erhalten geblieben. Sie besteht aus zwei sehr unterschiedlichen, sich ergänzenden Textzeugen, entsprechend der ursprünglichen Zweiteilung des Romans in die «Jugendgeschichte» und den eigentlichen Er-Roman. Für die vorwiegend stilistische Überarbeitung der «Jugendgeschichte» verwendete Keller ein Privatexemplar der ersten Ausgabe, in das er Seite für Seite seine handschriftlichen Korrekturen eintrug (e1). Für den zweiten Teil hingegen, der grundlegend geändert werden musste und statt dem Er- einen Ich-Erzähler erhalten sollte, erstellte Keller ein vollständig neues, dreihundert Seiten umfassendes Manuskript (H2). Bei der Durchsicht der Korrekturabzüge (*k2) nahm dann Keller, neben Fehlerbehebungen, nochmals Hunderte kleinerer Textänderungen semantischer Art vor. Diese Korrekturbogen sind nicht als ganze erhalten. Ferdinand Weibert hat aber in wunderbarer Weise jede von Keller am Rand notierte Korrektur eigenhändig ausgeschnitten und in die von ihm nach dem Druck aufbewahrte Druckvorlage (also in e1 und H2) eingeklebt. So lässt sich, im nachhinein, die Entstehung der neuen Fassung bis ins Detail verfolgen und auch – in textkritischer Hinsicht – weitgehend feststellen, wieweit Abweichungen des Drucks von der Vorlage auf den Autor, wieweit aber auf den Setzer zurückgehen.

Trotzdem bleiben einige Zweifelsfälle bestehen; so jene Stelle, wo in der «Jugendgeschichte» der ersten Ausgabe von «jungen Leuten» die Rede ist, «welche sich aus einer dunklen dürftigen Abkunft heraus durch Fleiß, Sparsamkeit, Klugheit u.s.f. in eine gute Stellung gearbeitet hatten» (11, 114).** Wie der eingeklebte Korrekturzettel belegt, beseitigte Keller die unschöne Abkürzung «u.s.f.» durch die Einfügung einer Kopula: «Fleiß, Sparsamkeit und Klugheit». Der gedruckte Text enthält aber eine noch weitergehende Änderung; es heisst dort nämlich «Talent, Sparsamkeit und Klugheit». Wie es vom «Fleiß» zum «Talent» gekommen ist, lässt sich leider nicht rekonstruieren. Für welche der beiden Varianten auch immer ein kritischer Herausgeber sich bei der Textkonstituierung entscheiden wird – die Entscheidung bleibt problematisch und lässt sich nur durch Offenlegung des ambivalenten Befundes rechtfertigen.

Im Jahr 1884 wurde eine zweite Auflage der «Neuen Ausgabe» fällig: die «dritte Auflage», wenn man, wie der Göschen-Verlag es tut, die Erstausgabe von 1854/55 mitzählt. Diese dritte Auflage wurde auf der Basis der zweiten Auflage neu gesetzt, und Keller hat nochmals eingehend Korrektur gelesen. Glücklicherweise sind die Korrekturbogen erhalten, so dass sich auch hier genau zwischen Autor- und Setzeranteil unterscheiden lässt. Die zahlreichsten Korrekturen betreffen die Rechtschreibung – eine Folge der preussischen Orthographiereform von 1880, die erstmals zu einer allgemeingültigen Normierung geführt hatte. Keller, der die Reform als Möglichkeit zur Abschaffung alter Zöpfe begrüsste, drängte auch bei der Publikation seiner Werke auf die Neuerung und nahm eigenhändig entsprechende Korrekturen vor, so vor allem die Beseitigung des «h» in Wörtern wie «Gemüth», «roth», «Theil» (auch «Thal», «That», «Thüre») und die Ersetzung von «ß» durch «s» in Endungen wie «Ereigniß», «Finsterniß» oder «Geheimniß». Auffallender sind die Änderungen von semantischer Relevanz, wie im folgenden, beliebig herausgegriffenen Beispiel. Heinrichs Mutter, die einem Bekannten ein «Lotterbettchen» abkauft, tut dies in den ersten beiden Auflagen «aus Gefälligkeit» (12, 14), in der dritten Auflage hingegen des «billigen Preises» wegen (2, 11). Auf diesem Lotterbettchen sitzend, liest Heinrich Goethes Werke durch: «dreißig Tage lang» in den ersten beiden Auflagen, «vierzig Tage lang» (die Fastenzeit von Moses und Jesus) in der dritten Auflage.

Solche Verbesserungen sind nur die eine Seite der Textgeschichte. Auf der anderen Seite gilt die bekannte Regel, wonach mit jeder neuen Auflage auch neue Fehler der Setzer dazukommen. Und zwar nicht nur einfache Druckfehler wie auf dem Kopf stehende oder verschobene Buchstaben, sondern auch fehlerhafte Wiedergaben der Druckvorlage, die nicht in jedem Fall als solche zu erkennen sind und sogar durchaus einen Sinn ergeben können, wenn auch nicht immer den vom Autor beabsichtigten. Es heisst zum Beispiel in der dritten Auflage: «So zeigte ein kleiner dreieckiger Schild noch kaum erkennbar das älteste einfache Wappenschild des Geschlechts, das nur eines von den zwanzig Feldern des jetzigen Wappenschildes ist …» (3, 173; Hervorhebungen hier und im folgenden von W.M.)

Das «einfache Wappenschild» hat hier das ursprüngliche «einfache Wappenbild» verdrängt. Dadurch entstand sowohl eine Wortwiederholung, was Keller stets zu vermeiden suchte, wie auch eine Genus-Diskrepanz (der Schild / das Wappenschild). Beide Textverderbnisse scheint Keller bei Durchsicht der Korrekturbogen übersehen zu haben. Sie wurden auch in die letzte zu seinen Lebzeiten erschienene Ausgabe, die «Gesammelten Werke» von 1889, mit übernommen.

Diese Ausgabe in zehn Bänden bildete Kellers literarisches Vermächtnis, das nur jene Werke umfasste, die Bestand haben sollten, und diese natürlich in ihrer letztgültigen Gestalt. Dementsprechend war es die zweite Fassung des «Grünen Heinrichs», die – auf der Basis der dritten Auflage von 1884 – in die ersten drei Bände der «Gesammelten Werke» aufgenommen wurde. Wie zu erwarten, findet man auch in dieser Ausgabe wiederum sowohl vom Autor selbst stammende Textänderungen wie auch solche, die ohne sein Dazutun zustande kamen und in den meisten Fällen als Textverderbnisse gelten müssen. Zu den von Keller selber veranlassten Verbesserungen gehört die stellenweise Streichung des Pronomens «derselbe / dieselbe /

dasselbe». Sicher nicht Keller zuzuschreiben sind dagegen Sätze wie der folgende, wo der Ausdruck «Kornhändlern» an die Stelle des früheren «Kornhändeln» getreten ist: «Wenn meine Mutter von Gott und den heiligen Dingen sprach, so fuhr sie fort, vorzüglich im alten Testamente zu verweilen, … bei den Kornhändlern Josephs und seiner Brüder […]. (1, 57)

Die «Gesammelten Werke» von 1889 setzten erstmals vereinheitlichend alle Texte in der neuen Orthographie. Dabei wurden – entsprechend einer Ausnahmeregelung der preussischen Reform von 1880 – auch die Schreibungen wie «Thal», «That», «Thräne» oder «Thüre» beibehalten, anders als noch in der dritten Auflage, die der konsequenteren schweizerischen Regelung gefolgt war. Es sind übrigens gerade solche Mikrobefunde, die es erlauben, die Ausgaben aufgrund weniger Textseiten mit Sicherheit zu unterscheiden.

Der kurze Aufriss mag in Erinnerung gerufen haben, wie erklärungsbedürftig das ist, was als Text eines Werks, ja selbst einer Fassung bezeichnet wird. Es gibt zwar – auf Grund der Überlieferungssituation – keine Zweifel über die Wahl der Textvorlage für die erste Fassung. Welcher Textzeuge aber soll die zweite Fassung vertreten? Und wie soll im Detail mit der gewählten Textvorlage verfahren werden? Ein Blick auf die halbkritischen und kritischen Editionen zeigt, wie unterschiedlich die Lösungsversuche gerade dann sein können, wenn man sich über die Überlieferungssituation im klaren ist.

Jonas Fränkel hat sich in seiner Ausgabe der «Sämtlichen Werke» (1926–1944) zum Ziel gesetzt, den bestmöglichen Text herzustellen: unter direkter Verwendung aller Textzeugen, insbesondere der Korrekturfahnen und des Druckmanuskripts, dessen Handschrift ihm für Authentizität bürgte. Resultat ist ein Mischtext, dessen Zustandekommen dem Leser grossenteils verborgen und unkontrollierbar bleibt. Mit Blick auf die genannten Beispiele bleiben sowohl die «Kornhändel» der dritten wie das «Wappenbild» der zweiten und sogar der «Fleiß» aus der ersten Auflage erhalten, wohingegen bei «derselbe/desselben» die Version der «Gesammelten Werke» übernommen wird.

Ganz anders verfährt die von Thomas Böning und anderen herausgegebene modernere siebenbändige Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (1985–1996). Sie folgt der Devise, dass der Herausgeber sich auf einen einzigen Textzeugen beschränken (Kontaminationsverbot) und höchstens jene Druck- und Textfehler korrigieren solle, die im Kontext keinen möglichen Sinn ergeben. Der Text der zweiten Fassung folgt hier der dritten Auflage von 1884, die als «Ausgabe letzter Hand» betrachtet wird. Das hat zur Folge, dass sämtliche Änderungen der «Gesammelten Werke» gegenüber der dritten Auflage ignoriert werden, sowohl die unbeabsichtigten («Kornhändlern») wie die von Keller selbst vorgenommenen («derselbe»). Dagegen mussten zweifelhafte Formulierungen wie «Wappenschild» und «Talent» aus der dritten Auflage mit übernom-

men werden.

Anders als die beiden genannten, folgt die Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA) den «Gesammelten Werken».*** Wie in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags, wird auch hier weder kontaminiert noch korrigiert (ausser bei Druckfehlern im engern Sinn). Jedoch werden die problematischen Stellen als problematische gekennzeichnet und durch eine unten an der Seite angebrachte Alternativvariante früherer Textzeugen ergänzt, etwa «Kornhändlern] Kornhändeln (E1–E3)». Durch solche kritischen Lesarten wird der Leser angehalten, die letztlich unaufhebbare Spannung zwischen ediertem Text und Überlieferungsstand wahrzunehmen.

Wer allerdings Genaueres über die Genese des Textes erfahren will, wird sich auf die handschriftlichen Zeugnisse der Vor- und Zwischenstufen einlassen müssen, wie sie im Textzeugenkapitel der HKKA beschrieben (20, 9 ff.) und im Variantenverzeichnis (20, 103 ff.) aufgeschlüsselt werden. Es sei daher zum Schluss ein Blick zurück auf jenen Textzeugen erlaubt, wo sich Druckvorlage und Satzkorrektur in einzigartiger Weise zusammengefunden haben. Das Manuskript für die Neufassung von 1879/80 endete mit den Sätzen: «Ich hatte ihr [Judith] einst zu ihrem großen Vergnügen das geschriebene Buch meiner Jugend geschenkt. Ihrem Willen gemäß habe ich es aus ihrem Nachlaß wieder erhalten und, um zu prüfen, wie alt ich geworden sei, den andern Theil dazu gefügt» (20, 462). Die definitive Version des letzten Satzes dagegen lautet in allen Ausgaben ab 1880: «Ihrem Willen gemäß habe ich es aus dem Nachlaß wieder erhalten und den andern Teil dazu gefügt, um noch ein Mal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wan-deln» (3, 281).

Mit der Umformulierung erhielt der Romanschluss einen ganz neuen Akzent. Statt prüfend die Altersdifferenz auszuloten, wird das Vergangene von Heinrich erinnernd nachvollzogen. Die «grünen Pfade» bilden überdies eine Analogie zum Schluss der ersten Romanfassung, wo das «grüne Gras» auf Heinrichs Grab den Fortbestand des Naturkreislaufs verbürgte: «und es ist auf seinem Grabe ein recht frisches und grünes Gras gewachsen» (12, 470). Den «grünen Pfaden der Erinnerung», die an die frühere Stelle des Naturkreislaufs getreten sind, verdankt sich zwar nicht der Fortgang des allgemeinen organischen Lebens, aber immerhin die Tradierung einer Lebensgeschichte.

Die entscheidende Änderung hat Keller im letzten Augenblick, bei Durchsicht der Druckfahnen (*k2) vorgenommen. Wie anfangs erwähnt, hat der Verleger Ferdinand Weibert, zu Händen der Nachwelt, die Korrekturen einzeln ausgeschnitten und in Kellers Manuskript übertragen. Es ist das letzte der eingeklebten Zettelchen, das die neue Formulierung enthält: «um noch ein Mal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln» (vgl. Abbildung auf S. 45). Und direkt darunter, auf dem gleichen Zettel, steht unwiderruflich «Ende», was für Kellers Roman so gut wie für Heinrichs Lebensgeschichte gilt. Am Ende der Überlieferungsgeschichte, im dritten Band der «Gesammelten Werke», ist allerdings dieses «Ende» wieder weggefallen – auf dass in den sieben Folgebänden mit den Geschichten fortgefahren werden könne.

* Zentralbibliothek Zürich, Ms. GK 13, S. 180

** zitiert mit Band und Seitenangabe nach der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA), hrsg. von W. Morgenthaler et al., Zürich/Frankfurt am Main, 1996 ff.

*** die Gründe finden sich im Einführungsband der HKKA, S. 310 ff.

Der Germanist Walter Morgenthaler, geboren 1946, ist seit 1991 Projektleiter der Historisch-Kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe.

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