Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen. Folge 3
Vom Kritzeln, Malen, Schreiben und Fechten 1853 schrieb Gottfried Keller an einen Freund: «Ich habe gesehen und gestaunt, wie schlecht und unfähig die Produkte anderer Leute gelesen werden.» Trotz dieser pessimistischen Einschätzung Kellers wurden beide Fassungen des «Grünen Heinrichs» offenbar gut und fähig genug gelesen, um inzwischen zur Weltliteratur zu zählen. Von der Kunst, Gottfried Keller zu lesen, handelt auch eine diesjährige Vorlesung am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Die Überlegungen der Zürcher Literaturwissenschafterin Barbara Naumann zeigen, wie im Zusammenspiel von gedankenlosem Kritzeln, geübtem Zeichnen und tödlichem Duellieren der grüne Heinrich sich von einem erfolglosen Land-schaftsmaler zu einem erfolgreichen Schriftsteller wandelt.
Wie kaum ein anderer Autor des 19. Jahrhunderts, war Gottfried Keller dazu prädestiniert, über das Verhältnis von Malerei und Literatur zu reflektieren. Keller war ein unterrichteter Fachmann: ein zum Maler ausgebildeter Schriftsteller. Anfangs der 1840er Jahre hatte er in München seine Lehrjahre als Landschaftsmaler begonnen und es in dieser Disziplin schnell weit gebracht. Aus einer langen Reihe von Gründen, künstlerischen, jedoch nicht zuletzt auch materiellen und seelischen, brach er später das Malen ganz ab. Von Beginn seiner artistischen Tätigkeit an beschäftigte ihn das komplizierte Verhältnis von Malen und Schreiben. Er hat es vielfach als ein kritisches, ja ein prekäres Verhältnis beschrieben und vor allem nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihn der Zusammenhang – und die Differenz – zwischen beiden umtrieb. Die Sprachbilder und Szenen, die im Roman diesem Verhältnis gewidmet sind, machen beim blossen Vergleich zwischen Malerei und Literatur nicht halt. Keller entfaltet vielmehr ein Kaleidoskop von Beziehungen, Brechungen, Variationen und gegenseitigen Spiegelungen. Die Metaphorik des Zeichnens und Malens, der Gebrauch markierender und ritzender Instrumente wie Stift, Griffel, Pinsel und Degen durchzieht den ganzen «Grünen Heinrich» und spannt schliesslich einen weiten Bogen vom atavistischen Kritzeln über das kunstgerechte Zeichnen bis hin zum blutigen Fechten mit einem Nebenbuhler.
Im Tagebuch aus dem Jahre 1843 greift Keller zum Bild des Malens und der Farbigkeit, um den ersten Impuls zu seiner Jugendgeschichte festzuhalten, und er kommt zum Schluss: «Ich habe mir zwar das ganze Bild in seinen Umrissen und mit seinen Lokalfarben ziemlich treu bewahrt, und wenn ich einst aus mir selbst heraustreten und, als ein zweites Ich, mein ursprüngliches eigenes Ich in seinem Herzkämmerlein aufstören und betrachten, wenn ich meine Jugendgeschichte schreiben wollte, so würde mir dies, ungeachtet ich bis jetzt nie ein Tagebuch führte, und nur früher, vor bereits sechs Jahren, dann und wann, aber sehr selten, einzelne abgerissene Vorgänge der Außen- und Innenwelt aufzeichnete, dennoch ziemlich gelingen.» («Über Gottfried Keller», hrsg. von P. Rilla, 1978, S. 95)
Mit äusserster Vorsicht und unter Zuhilfenahme umständlicher Formulierungen tastet sich Keller an das Aufschreiben seiner Jugendgeschichte heran: «und nur früher, vor bereits sechs Jahren, dann und wann, aber sehr selten». Diese Umständlichkeit ist ein deutlicher Hinweis auf Widerstände, auf ein Nicht-direkt-Aussprechenkönnen seines Wunsches, Schriftsteller zu werden. Zugleich meint der Tagebuchschreiber, sich «einem Bilde ähnlich» erinnern zu müssen. Der junge Keller legt sich zurecht, was er bereits an Rüstzeug besitzt. Es sind Umrisse und Farben sowie ein Bildergedächtnis, in das sich dynamische, dramatische Momente, nämlich Abläufe und Ereignisse, Handlungen und Leiden, abgerissene Vorgänge des Äusseren und Inneren eingefügt haben. Man könnte diese Aufzeichnung als eine der Urszenen des Romans verstehen: Keller versucht, aus dem vielschichtigen Verhältnis von Malen und Schreiben die Voraussetzung des Schreibens zu gewinnen. Malen und Schreiben sind zwar hinsichtlich ihrer Medialität und materialen Zeichenverwendung voneinander unterschieden; beide Ausdrucksformen erscheinen aber schon in dieser kleinen Tagebuchreflexion auf komplizierte Weise miteinander verkoppelt, nämlich durch die Erinnerung, durch das Bildgedächtnis und die Imagination. Noch ehe der gescheiterte Kunstmaler Keller beginnt, ein Buch zu schreiben, denkt er schon über dieses Buch im Modus des in der Erinnerung präsenten Bildes nach. Für den Tagebuchschreiber können weder das Malen noch das Schreiben noch die Erinnerung selbst für sich beanspruchen, unmittelbare Realität wiederzugeben; sie alle werden durch einen notwendigen Bezug auf die Imagination charakterisiert und zueinander in ein Verhältnis von medialer Übertragung und Gegenübertragung gesetzt.
Die Frage, wie denn die Rede vom Bild im Roman eigentlich aufzufassen sei, begegnet dem Leser des «Grünen Heinrichs» auf Schritt und Tritt. Vielfältig sind die Szenen und Situationen, in denen die Malerei in ihrem Austausch mit anderen Künsten betrachtet wird. Zumeist sind diese Szenen gekennzeichnet von der «Wirrnis», die sich aus dem Bezug und dem Austausch verschiedener Künste ergibt. Dies scheint zumal den Protagonisten selbst zu erstaunen. Heinrich bemerkt die «wunderliche Manier, in welcher die verschiedenen Künste ihre technische Ausdrucksweise vertauschen» (2, 146)**. In seinen Malversuchen ist die Wirrnis stets präsent. Sie formt sich in den vielen Szenen des Romans, die mit der Landschaftsmalerei befasst sind, aus dem grünen Hintergrund der Szene, aus der Bewegung von Wald und Blattwerk der Bäume, und am Ende sieht Heinrich zumeist «nichts mehr, als Eine grüne Wirrniß und das Spottbild auf meinen Knieen» (1, 202). Alles, was Heinrich mit dem Stift festhalten will, verweigert sich seiner stillstellenden Nachahmung.
In der wohl berühmtesten Malereiszene des Romans hat man es wiederum mit der Wirrnis zu tun. Diesmal ist sie aber nicht Hindernis des Malens, sondern Thema der Darstellung des Gemäldes selbst. Heinrich Lee beginnt eine neue Skizze während einer einsamen, von Selbstzweifeln durchsetzten und melancholischen Phase seiner Studien, in der er nur noch ein tristes Grau in allen seinen Gemälden und Versuchen zu entdecken vermag (2, 17ff.). Ich «strichelte gedankenlos daneben, wie wenn man die Feder probiert. An diese Kritzelei setzte sich nach und nach ein unendliches Gewebe von Federstrichen, welches ich jeden Tag in verlorenem Hinbrüten weiterspann, so oft ich zur Arbeit anheben wollte, bis das Unwesen wie ein ungeheures graues Spinnennetz den größten Theil der Fläche bedeckte. Betrachtete man jedoch das Wirrsal genauer, so entdeckte man den löblichsten Zusammenhang und Fleiß darin, indem es in einem fortgesetzten Zuge von Federstrichen und Krümmungen, welche vielleicht Tausende von Ellen ausmachten, ein Labyrinth bildete, das vom Anfangspunkte bis zum Ende zu verfolgen war. Zuweilen zeigte sich eine neue Manier, gewissermaßen eine neue Epoche der Arbeit; neue Muster und Motive, oft zart und anmuthig, tauchten auf, und wenn die Summe von Aufmerksamkeit, Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit, welche zu der unsinnigen Mosaik erforderlich war, auf eine wirkliche Arbeit verwendet worden wäre, so hätte ich gewiß etwas Sehenswerthes liefern müssen» (2, 263; die handschriftliche Vorlage zu dieser Stelle ist als Faksimile auf dieser Seite abgedruckt).
Die hierbei begegnende Wirrnis erinnert nicht mehr an die früheren Komplikationen beim Zeichnen, sondern vollzieht die Entgrenzung des Zeichenakts zu einer vollkommen selbständigen, ja automatischen und zugleich referenzlosen Tätigkeit. Als Heinrichs Freunde eintreten und das nicht für das Publikum gedachte Bild bemerken, erschrecken sie über die widerspenstige Energie, die sich im Stricheln und Kritzeln Ausdruck verschafft. Diese Energie kennt weder Bildrand noch Rahmen; sie kennt keine gegenständliche Beschränkung und scheint gänzlich haltlos zu sein. Vor allem aber ebnet die Kritzelei, der Begriff sagt es schon, die Differenz zwischen dem Zeichnen und dem Schreibakt ein; sie ist eine hybride Darstellung ohne Referenz. Heinrichs Selbstbeschreibung findet dafür noch euphemistische Begriffe wie «Sehenswertes», aber auch «Labyrinth», «Unwesen», «Spinnennetz».
Die Schockwirkung dieser Kritzelei wird erst deutlich, als andere Augen sie sehen und Heinrichs Freund Erikson schliesslich in einer ironischen, spöttischen Suada ausruft: «Wohlan! du hast dich kurz entschlossen und alles Gegenständliche hinausgeworfen! Diese fleißigen Schraffierungen sind Schraffierungen an sich, in der vollkommensten Freiheit des Schönen schwebend, dies ist der Fleiß, die Zweckmäßigkeit, die Klarheit an sich, in der holdesten reizendsten Abstraktion!» (2, 265). Erikson lässt zunächst die grossen kunstkritischen Konzepte des Idealismus – man meint sich vor allem an Kant erinnert, an das interesselose Wohlgefallen am Schönen, an die sogenannte freie, das heisst für sich bestehende Schönheit –, Erikson lässt solche und verwandte Konzepte in einer Wortkaskade sich ergiessen, die so klingt, als wolle sie noch einmal das ganze Arsenal der philosophischen Kunstkritik zum Einsatz bringen. Haltlos mäandert die Rede von Begriff zu Begriff, von Sprachbild zu Sprachbild. In ihrer strömenden und wortreichen Organisation, im Fortgang vom einen aufs nächste, vollzieht sie eine ähnliche Entgrenzung und Gegenstandsflucht, wie sie Heinrichs Zeichnung selbst eigen ist. Zu einem Ende kommt das Paradigma des Tafelbilds in Heinrichs Kritzelei, zu einem Ende kommt aber auch die Kunstkritik in der pseudokritischen Rede des Erikson.
Es gelingt Erikson nicht, über das Bild mit den schablonenartig eingesetzten Begriffen der Kunstkritik zu verfügen oder auch nur das zu beschreiben, was ihm vor Augen steht. Überhaupt wendet sich der Roman gegen die Auffassung, die mediale Verschiedenheit der Künste könne in einer gemeinsamen Metasprache integriert werden. So wie Heinrichs Kritzelei das bildliche Repräsentationsparadigma in Frage stellt, so stellt Eriksons Rede die metasprachliche Repräsentation des Bildes in Frage.
Mit der Krise der kolossalen Kritzelei kommt die Auseinandersetzung mit dem Paradigma der bildenden Kunst im Roman keineswegs an ein Ende. Vielmehr setzt sie sich in dem sofort daran anschliessenden Kapitel über die Skulptur des borghesischen Fechters in einer ganz neuen Akzentuierung fort. Als Heinrich nach der gewaltsamen Zerstörung seiner Kritzelei durch Erikson wieder aufschaut, tritt, «wie ein guter tröstender Freund», der borghesische Fechter in sein Blickfeld. Heinrich betrachtet zum ersten Mal die Reproduktion dieser Skulptur genauer, die auf circa 100 v. Chr. datiert und dem Bildhauer Agasias von Ephesos zugeschrieben wird. Es geht «trotz des bröcklichen beschmutzten Gypses, ein Licht von dem rüstigen, tapferen Bilde aus», und Heinrich beginnt sogleich aufs neue mit dem Zeichnen.
Der borghesische Fechter hat schon eine lange Karriere in der kunstgeschichtlichen und der literarischen Rezeption des 17., und 18. Jahrhunderts hinter sich, als der Sonnenstrahl in Heinrichs Malersaal ihn beleuchtet. Am Fechter fasziniert Heinrich besonders die «bewegte Oberfläche». Der Körper des Fechters scheint Heinrich Lee eine kontrollierte Sinnlichkeit anzubieten: genug Muskelspiel, um zu reizen, genug Dynamik, um Spannung zu zeigen, aber keine Wunde, keine schockierende Geste der Gewalt oder Angst.
Diese gebändigte Sinnlichkeit ist es, die diese Figur auch und gerade für die anatomische, die (natur-)wissenschaftliche Zugangsweise interessant macht. «Obschon [Heinrich] nicht die mindeste Kenntniß von dem besaß, was unter der Haut wirkte und sich darstellte, und kaum eine zufällige
Ahnung vom Knochengerüste hatte, ging es doch in der ersten Anspannung und Hitze ganz gut vonstatten, und er freute
sich sogar, die Dinge zu nehmen, wie er sie unmittelbar sah, und mit natürlichem Scharfblicke sich zurechtzufinden. Er zeichnete anhaltend mehrere Stunden und brachte nicht
eine elegante Studie, sondern eine Arbeit zu Stande, welche ihn unvermutheter Weise wenigstens nicht abschreckte. Aber je länger er zeichnete, desto wunderlicher erging es ihm; die Phantasie eilte, indem die Kohle in der Hand rüstig arbei-tete, mächtig voraus und sah sich bereits weit vorgeschritten in der Behandlung und Verwendung der menschlichen Gestalt» (12, 227f.).
Keller wendet einen geschickten Kunstgriff an, um dem Verdacht des Rückfalls in den Klassizismus, in die Verehrung eines fixierten Schönheitsideals, einen Riegel vorzuschieben. Dieser Kunstgriff besteht zunächst in der Schilderung der Fechterfigur selbst. Die Statue ist nämlich ein «nur etwa anderthalb Fuß hoher borghesischer Fechter, zwar trefflich gearbeitet, aber vielfach beschädigt und beräuchert», und sie befindet sich «in einer Ecke auf dem Boden». Später überträgt Heinrich seine Selbstwahrnehmung auf diese Figur, die ihm als ebenso «fleissig» wie er selbst erscheint: «Alles war Leben in dem von Sonne, Wind und Wetter gereiften Körper dieses abgehärteten Kriegers, der mit ehrlichem Fleiße sich seiner Haut wehrte.» In Kellers Beschreibung der Ikone bürgerlicher Klassikverehrung findet sich kein heroischer Ton, keine ehrfürchtige Historisierung. Vollendet wird die Distanzierung vom Klassizismus in der abschliessenden Sentenz, die die zunehmende Identifikation Heinrichs mit dem Fechter auf einen ironischen Höhepunkt und den Klassizismus ad absurdum führt: «Zusammenziehen und Ausdehnung vereinigten sich in Einem Momente, in welchem das schönste Spiel der Muskeln darstellte, wie das Leben recht eigentlich durch sich selbst um sich selber kämpfte in dieser munteren Menschenkrabbe» (12, 227). Angekommen ist die Sequenz beim nackten Leben jenseits aller artistischen Darstellung, bei der Animalität der Krabbe – und damit auch bei der Ironie, derer der Klassizismus bekanntlich nicht fähig war, die aber zum Grundton des «Grünen Heinrichs» gehört.
Die Befassung mit dem Fechter drängt Heinrich förmlich zu neuen Erkenntnissen, und diese beziehen sich nun nicht mehr auf das Studium der sich dem Auge darbietenden Natur, sondern auf die Naturwissenschaft und die Anthropologie. Zurück bleibt dabei das vergebliche Streben im schattenhaften Atelier. Anstatt der platonischen Schattenbilder, die den Maler zu zweifelhaften Darstellungen der Ideen verführt hatten, sieht Heinrich endlich «Licht» auf dem Fechter. Auf der Ebene der Körperdarstellung ist die ganze Skulptur, mit den Worten Johann Joachim Winckelmanns, «nach vorne geworfen». Diese Dynamik greift auf Heinrich über, der am Fechter für sich die Eröffnung einer Zukunftsperspektive gewinnt. Auf der Zeit-Ebene des Romans weist der Fechter für Heinrich wiederum nicht in die klassizistische Vergangenheit, sondern in eine im Horizont der Naturwissenschaften und der Anthropologie entworfene Zukunft.
Nach dem durch den borghesischen Fechter vermittelten Abgesang auf die Malerei folgt eine Episode des Wissenschaftsinteresses, ohne dass jedoch der Roman damit zu einem wissenschaftsgläubigen Text würde. Es gibt keine Teleologie der Bildung im «Grünen Heinrich». Denn die Wissenschaft erscheint, wie alle Ereignisse, Diskurse und Bildwelten, als eine Episode, als ein Umweg, der wiederum neue Wendungen ins Offene nach sich zieht. Alles im Roman unterliegt potentiellen ironischen Wendungen, die ihn, als eine umwegige Erzählung, in ein offenes Selbstverhältnis treten lassen. Der Fechter fungiert als Zeichen dafür, dass das Streben nicht zu einer dogmatischen oder apodiktischen Verfestigung des Denkens führen darf.
Als Fechter hatte Heinrich selbst schon einmal Erfahrung gesammelt, und diese in ganz und gar unheroischer Weise. Als er meinte, im Duell mit seinem Freund Ferdi-
nand Lys die von jenem verlassene Agnes rächen zu müssen, war es ihm eher zufällig gelungen, Lys eine Lungenverletzung beizubringen. Dennoch wird zunächst Heinrich als das Opfer der Szene geschildert: Er «war nun todtenbleich und sah sich ganz verwundert um. Die Kraft verließ ihn und er mußte sich selbst auf einen Stuhl setzen, wo er wie durch einen Traum hindurch das rothe Blut fließen sah» (12, 204). Dem hereinstürzenden Freund Erikson gegenüber spielt Lys die Verwundung herunter; es sei «Nichts weiter, der grüne Heinrich hat nur die Feder, mit welcher er seine Jugendgeschichte geschrieben, an meiner Lunge ausgewischt – ein komischer Kauz» (12, 205). Während Heinrich den Freund körperlich verletzt, wird er auch selbst getroffen, und zwar an seiner seelisch verletzlichsten Stelle, seiner Unsicherheit in bezug auf das Malen und Schreiben. Lys bringt die Verletzung in der ironischen Wendung, Heinrich habe seine Feder an seiner Lunge ausgewischt, auf den Punkt. So lächerlich Heinrich auch als Fechter und als Schreibender agieren mochte – sein Tun zeitigt eine unheimliche, tödliche Wirkung; Keller lässt Lys – in der ersten Fassung des Romans – an der Verwundung sterben. Sterbend rät der seinem Freund: «Ich hoffe Du werdest so klug sein und Dich meinen Tod nicht anfechten lassen! Ich habe seither viel an Dich gedacht und bin ein förmlicher Philosoph geworden!» (12, 447). Lys endet als «förmlicher Philosoph», seinem Freunde vergebend, wie Sokrates in Platons Dialog «Phaidon». Nicht zuletzt mit der metonymischen Verbindung vom Fechten und Schreiben insistiert Keller: Wenn es um das Kritzeln, Malen und Schreiben geht, geht es auch ums Denken, und damit um Leben und Tod.
* Zentralbibliothek Zürich, Ms. GK 12 Nr. 2.
** zitiert mit Band und Seitenangabe nach der Historisch-Kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe (HKKA), hrsg. von W. Morgenthaler et al., Zürich/Frankfurt am Main, 1996ff.
Barbara Naumann ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich.