Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen. Folge 2
An der Schwelle zur Moderne: die Verabschiedung der Gottesidee 1853 schrieb Gottfried Keller an einen Freund: «Ich habe gesehen und gestaunt, wie schlecht und unfähig die Produkte anderer Leute gelesen werden.» Trotz dieser pessimistischen Einschätzung Kellers wurden beide Fassungen des «Grünen Heinrichs» offenbar gut und fähig genug gelesen, um inzwischen zur Weltliteratur zu zählen. Von der Kunst, Gottfried Keller zu lesen, handelt auch eine diesjährige Vorlesung am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Die Überlegungen der Zürcher Germanistin Ursula Amrein zur Auseinandersetzung Kellers mit dem Verlust des Glaubens an Gott und damit auch des Glaubens an die Unsterblichkeit sind die überarbeitete Fassung eines dieser Vorträge.
«Erste Theologie» – «Lob Gottes und der Mutter. Vom Beten» – «Weiteres vom lieben Gott» – «Die Glaubensmühen»: bereits das Inhaltsverzeichnis lässt erkennen, dass die Religion zu den beherrschenden Themen in Gottfried Kellers autobiographischem Bildungsroman «Der grüne Heinrich» gehört. In der Fiktion des Romans selbst erklärt der Erzähler, es gehe ihm darum zu zeigen, «wie die Religion und meine Kinderzeit zusammengekuppelt wurden» (1,96)**. Die negativen Folgen dieses Tuns sind unübersehbar.
Eine verquere religiöse Erziehung lässt das Kind verstockt reagieren und mit dem Entschluss, Maler zu werden, auch eine in der Konsequenz fatale Entscheidung treffen. Mit dem Scheitern seiner Künstlerkarriere wandelt sich der grüne Heinrich zum erklärten Atheisten und gewinnt damit eine Perspektive auf sein Dasein, die ihn im Moralsystem des Textes auszeichnet. Gleichzeitig aber bekommt sein Leben unter diesem Gesichtspunkt den Anstrich des Verfehlten. In der Erstfassung des Romans (1854/55) unterstreicht Keller diesen Aspekt, indem er Heinrich aus Einsicht in sein Versagen sterben lässt. Die Zweitfassung (1879/80) nimmt an dieser Stelle eine signifikante Änderung vor. Heinrich darf überleben. Der Gedanke des verfehlten Lebens jedoch wird nicht suspendiert, sondern mit der Überarbeitung vielmehr zusätzlich ausgeleuchtet und vielschichtig kommentiert.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, besitzt der «Grüne Heinrich» seinen historisch genau definierbaren Ort in der Geschichte der Säkularisierung. Die Art und Weise, wie Keller die Frage des Gottesglaubens literarisiert, verleiht seinem Roman epochale Bedeutung. Am Beispiel einer Figur, der er Züge der eigenen Biographie einschreibt, reflektiert er den Atheismus in seinen unterschiedlichen Facetten und kommentiert an der Schwelle zur Moderne auch die Folgen, die sich aus der Verabschiedung der Gottesidee für die Anthropologie und die Ästhetik ergeben.
Ausgangspunkt dieser Reflexion bilden in der Jugendgeschichte Heinrichs die Gottesvorstellungen, die an das Kind herangetragen werden. Der Roman fächert diese Bilder auf und demontiert sie zugleich, indem er das relationale Moment ihrer Konstruktion hervorhebt. Die ersten Vorstellungen, die sich Heinrich von Gott macht, sind untrennbar mit dem Tod des Vaters verbunden. Heinrich sieht sich durch dieses Ereignis aus der göttlichen Ordnung verstossen und beginnt, sich den Vater in immer phantastischeren Vorstellungen zu vergegenwärtigen. Der tote Vater wird so zum Anlass und auch zum Gegenstand einer Phantasietätigkeit, die Erfundenes und Wirkliches in scharfen Gegensatz treten lässt. Es sind insbesondere Stoffe aus dem Bereich des Religiösen und Wunderbaren, der Welt des Aberglaubens, der Gespenster und der Teufelsbeschwörungen, an denen sich Heinrichs Phantasie entzündet. Das Material dazu bezieht er bezeichnenderweise aus dem Trödelladen der Frau Margret. Hier findet er auch eine «verrückte Theosophie» (1,101), eine spiritualistisch begründete Lehre vom Göttlichen, die er zur Grundlage seines Wissens über die kosmische Ordnung macht und der er zuletzt das Bild seines Vaters einzeichnet. «Zunächst dem Auge Gottes, noch innerhalb des Dreieckes», plaziert er diesen und lässt ihn «durch dieses allsehende Auge auf die Mutter und mich herunter» schauen (1,102). Präsent ist der Vater damit gerade in seiner Absenz. «Je dunkler die Ahnung», konstatiert Heinrich, «welche ich von seiner äußern Erscheinung in mir trage, desto heller und klarer hat sich ein Bild seines innern Wesens vor mir aufgebaut und dies edle Bild ist für mich ein Teil des großen Unendlichen geworden, auf welches mich meine letzten Gedanken zurückführen und unter dessen Obhut ich zu wandeln glaube» (1,29).
Während Heinrich den toten Vater vergöttlicht, um sich selbst als Teil einer sinnvoll geordneten Welt zu erfahren, ist die Mutter umgekehrt bestrebt, ihrem Sohn einen Gott nahezubringen, der als «Ernährer und Beschützer» (1,43) definiert ist und so seinerseits die Stelle des abwesenden Vaters einnimmt. Die durch ihre Nüchternheit charakterisierte Mutter ist «schlechthin gottesfürchtig», ihr «Gott» erscheint insofern nicht als «Befriediger und Erfüller einer Menge dunkler und drangvoller Herzensbedürfnisse, sondern [ist] klar und einfach der vorsorgende und erhaltende Vater, die Vorsehung» (1,43). Mit ihrer Tabuisierung der Phantasie und der Emotionen treibt die Mutter die – romanintern psychologisch begründete – Fehlentwicklung Heinrichs voran. Zugleich aber verdeutlicht der Text auch die Affinität zwischen ihrem Charakter und ihrer Idee von Gott. Beispielhaft geschieht dies, wenn sie Heinrich das Essen als Gabe Gottes schmackhaft machen will. Der Mittagstisch wird so zum Schauplatz eines sich wiederholenden kleinen Dramas, das seine Auflösung regelmässig in einer religiösen Erbauung findet. «Die Speisen meiner Mutter», führt der Erzähler aus, «ermangelten, so zu sagen, aller und jeder Besonderheit. Ihre Suppe war nicht fett und nicht mager, der Kaffee nicht stark und nicht schwach, sie verwendete kein Salzkorn zu viel und keines hat je gefehlt. … Diese nüchterne Mittelstraße langweilte mich, der ich meinen Gaumen dann und wann anderswo bedeutend reizte, und ich begann, über ihre Mahlzeiten eine scharfe Kritik zu üben, sobald ich satt und die letzte Gabel voll vertilgt war.» Die Mutter indes weist ihn nicht zurecht, sondern widerlegt ihn geduldig. «Machte sie alsdann auch noch auf die Undankbarkeit aufmerksam, welche ich gegen Gott beging, indem ich seine guten Gaben tadelte, so hütete ich mich mit einer heiligen Scheu, den allmächtigen Geber ferner zu beleidigen und versank in Nachdenken über seine trefflichen und wunderbaren Eigenschaften» (1,42f.). Mangelhaft jedoch ist die Suppe der Mutter gerade deswegen, weil sie ohne Fehler ist. Und weil Gott und die Suppe wiederum in direkter Abhängigkeit zueinander stehen, spiegeln sich in ihr auch die Eigenschaften eines Gottes, der korrekt wie die Suppe, zugleich aber von entsprechender Fadheit ist. Für Heinrich wird «Gott nachgerade eine farblose und langweilige Person» (1,58), von der «alltäglichen Haussuppe» (1,96) nicht zu unterscheiden.
In der Konsequenz führt die Vervielfachung der Gottesbilder dazu, dass sich die Identität Gottes auflöst, und Heinrich muss erkennen, dass sein Gott nur den ihm aufgezwungenen religiösen Vorstellungen sowie seiner eigenen Imaginationskraft entspringt. Auch wenn Heinrich die zurückliegenden Kinderjahre als eine «halb gottlose Zeit» (1,96) bezeichnet, als Atheist ist er an dieser Stelle nicht definiert; denn diese Definition würde einen bewussten Akt der Abgrenzung voraussetzen. In der Art und Weise jedoch, wie Keller Heinrichs Jugend schildert, wird diese Absage nicht nur vorbereitet, sondern hellsichtig auch vorgeführt und kommentiert. Dies geschieht analog zur Suppengeschichte wiederum in einer szenischen Vergegenwärtigung des Geschehens.
Erzählt wird, wie Heinrich das Elternhaus vom Keller bis zum Dach erforscht und dabei vom Dunkel ins Licht aufsteigt. Angelangt auf dem höchsten Punkt, eröffnet sich ihm ein nur durch die Berge am Horizont begrenzter Panoramablick. Die Mutter erklärt diese Berge zu «Zeugen von Gottes Allmacht» (1,33), zu greifbaren Manifestationen seiner Schöpfung. Heinrichs Blick richtet sich schliesslich auf ein von der untergehenden Sonne beschienenes Kirchendach: «Auf diesem Dache stand ein schlankes, nadelspitzes Türmchen, in welchem eine kleine Glocke hing und auf dessen Spitze sich ein glänzender goldener Hahn drehte. Wenn in der Dämmerung das Glöckchen läutete, so sprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten; ich fragte: ‹Was ist Gott? ist es ein Mann?› und sie antwortete: ‹Nein, Gott ist ein Geist!› Das Kirchendach versank nach und nach in grauen Schatten, das Licht klomm an dem Türmchen hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich mich plötzlich des bestimmten Glaubens, daß dieser Hahn Gott sei. Er spielte auch eine unbestimmte Rolle der Anwesenheit in den kleinen Kindergebeten, welche ich mit vielem Vergnügen herzusagen wußte. Als ich aber einst ein Bilderbuch bekam, in dem ein prächtig gefärbter Tiger ansehnlich dasitzend abgebildet war, ging meine Vorstellung von Gott allmählich auf diesen über, ohne daß ich jedoch, so wenig wie vom Hahne, je eine Meinung darüber äußerte» (1,34).
In der zitierten Passage, über die Lichtführung geschichtsphilosophisch aufgeladen, leuchtet mit dem goldenen Hahn eine Idee von Gott auf, die sich dem Abglanz des Abendlichts verdankt und sich mit diesem zugleich wieder verflüchtigt. Der Roman verabschiedet dabei weit mehr als nur die aus kindlicher Perspektive vorgenommene Gleichsetzung zwischen Wetterhahn und Gott. Vielmehr scheinen an dieser Stelle noch einmal die alten und zuletzt verabschiedeten Gottesbilder auf. Für die Mutter ist Gott der Schöpfer, der die Welt hervorgebracht hat, mit Heinrich nun kehrt Keller diese Relation um. Nicht mehr der Mensch ist das Geschöpf Gottes, vielmehr erweist sich Gott selbst als Produkt des Menschen, er wird hervorgebracht durch den Blick, ist definiert über die Sprache und die Vorstellungswelt des Menschen. Der Text unterstreicht diesen Vorgang, indem er das Auseinanderfallen von Namen und Ding inszeniert. Der Begriff «Gott» bleibt ohne Referenz ausserhalb der sprachlich konstituierten Welt, und entsprechend virtuos vermag Heinrich denn auch zu beten, das «Unser Vater» als «Vater Unser» vorwärts und rückwärts aufzusagen. Wie von Gott, bleibt vom Gebet so am Schluss einzig die entleerte Sprachhülse zurück.
Die in dieser Szene zur Darstellung gebrachte Figur des Blickwechsels markiert eine Wende in der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Diesseits und Jenseits, die einer kopernikanischen Wende in der Wissensgeschichte des 19. Jahrhunderts gleichkommt. Der Text nämlich verwirft an dieser Stelle den Glauben an Gott und nimmt darin Nietzsches Diktum «Gott ist tot!» vorweg. Für Keller ist die Hinwendung zum Atheismus auch biographisch von zentraler Bedeutung. 1849 hatte er in Heidelberg den Religionsphilosophen Ludwig Feuerbach kennengelernt, der Gott zu einer Projektion des Menschen und damit zu einer Personifikation des menschlichen Wesens überhaupt erklärte. Das Diesseits leitet sich gemäss dieser Lehre nicht vom Jenseits ab, vielmehr erscheint dieses als Produkt des Irdischen selbst. In dieser Vertauschung der Positionen von Schöpfer und Geschöpf ist der im «Grünen Heinrich» abgebildete Wechsel der Blickrichtung präfiguriert. Bei Feuerbach schliesslich geht die Abschaffung des Göttlichen einher mit der Absage an die Idee der Unsterblichkeit und führt im Effekt zu einer Neubewertung des Todes. Wenn es keinen Gott gibt, so gibt es kein Jenseits, und wenn es dieses nicht gibt, dann kann es auch kein Leben nach dem Tod geben, lautet die entsprechende Argumentation. Der Tod bildet im atheistischen Denken mithin nicht mehr die Passerelle zum ewigen Leben, er wird vielmehr als Ereignis begriffen, das die menschliche Existenz begrenzt, sie beendet und definitiv aufhebt.
Die Philosophie Feuerbachs muss Keller unmittelbar eingeleuchtet haben. Dessen Ausführungen über Gott und die Unsterblichkeit gewinnen für ihn eine Evidenz, von der die Briefe aus der Heidelberger Zeit beredtes Zeugnis ablegen. Keller kommentiert hier seinen Wandel und die Konsequenzen, die er aus der Lehre Feuerbachs zieht, wobei ihn insbesondere Fragen der Anthropologie und der Ästhetik in der säkularen Welt beschäftigen. Er beginnt, sich «an den Gedanken des wahrhaften Todes zu gewöhnen», konstatiert, dieses Wissen fordere ihn «mit aller Macht auf, meine Aufgabe zu erfüllen … da ich keine Aussicht habe, das Versäumte in irgend einem Winkel der Welt nachzuholen», und gibt sich «fest überzeugt, daß kein Künstler mehr eine Zukunft hat, der nicht ganz u ausschließlich sterblicher Mensch sein will» (19,202f.).
Diese Überlegungen fliessen direkt ein in die Arbeit am «Grünen Heinrich». Erste Pläne zum Roman stammen aus den vierziger Jahren, realisiert wurden sie zu einem grossen Teil jedoch erst zu Beginn der fünfziger Jahre in Berlin. Nach der Begegnung mit Feuerbach vermochte Keller dabei eine Perspektive zu entwickeln, die seinem autobiographisch angelegten Projekt eine über das Subjektive hinausweisende Bedeutung verleihen konnte. Diesen Zusammenhang verdeutlichen insbesondere die aus den Jahren 1849/50 überlieferten Notizen. Sie fügen sich nicht zu einer durchgehenden Niederschrift des Romans, werfen indes Schlaglichter auf einzelne Passagen, die – und das ist aufschlussreich – mehrheitlich Fragen der Religion betreffen. «Nicht zu vergessen … H’s Gott so schildern, wie H. selbst ist. Naivetät, mit welcher er seine willkürl. genial. Subjektivität zu seinem Gotte macht» (20,473), notiert Keller beispielsweise und verweist darin auf den projektiven Charakter von Heinrichs Gottesvorstellungen. Die Notizen dokumentieren ausserdem Kellers Reflexionen zur Bedeutung des Todes im atheistischen Denken und kommentieren mit der Kompositionsstruktur zugleich das abrupte Ende des Romans. Weil Heinrich es verpasst, rechtzeitig zur Mutter zurückzukehren, trägt er die Schuld an ihrem Tod und zerbricht, ohne Aussicht auf ein erlösendes Jenseits, am Wissen um die Unaufhebbarkeit dieser Schuld. «Sein Leib und Leben brach und er starb in wenigen Tagen» (12,469), vermerkt der Roman lakonisch.
Heinrichs Tod entspricht der konzeptionellen Logik des Romans, wurde indes als wenig glaubwürdig und auch als zu pessimistisch kritisiert. Keller seinerseits wehrte sich kategorisch gegen die Forderung, «statt mit dem Tode des g. H. … mit einer Hochzeit zu enden» (19,311). Vor die Alternative von Happyend oder Katastrophe gestellt, entschied er sich für letztere und betont vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Erzählkonventionen das Tragische des Schlusses. Die Zweitfassung nimmt an dieser Stelle eine bedeutsame Änderung vor. Heinrich bleibt am Leben und verbindet sich mit Judith, die seinetwegen aus Amerika zurückgekehrt ist. Eine Heirat jedoch lehnen sie ab und schliessen stattdessen einen Bund, dem das resignative Moment aus der Erstfassung eingeschrieben bleibt. Zugleich wird Heinrichs Versagen dadurch entschärft, dass Keller der Mutter einen Teil der Verantwortung am Schicksal ihres Sohnes zuweist. Auch die Drastik ihres Todes schwächt er ab, indem er diesen nicht mehr als harten Schnitt inszeniert, sondern ihm ein Moment der Erfüllung zugesteht. «Trost p. Mutter, Tod. Es ist denkbar, daß auf dem Indifferenzpunkte zwischen Tod u Leben der Augenblick der Befreiung, des Ruhegefühls [so] mit merkwürdigen Vorstellungen der Beglückung so lange erscheint, wie ein ganzes Leben, vermöge der Erfahrungen des Traumes, der Opiumesser etc. u daß also das erlebte Uebel in jenem Augenblicke sich aufheben könnte», hält eine Notiz aus dem Jahre 1879 fest (20,490). Heinrichs Tod schliesslich wird durch Judiths Tod substituiert. Aus ihrem Nachlass bekommt er zuletzt seine Aufzeichnungen zur Jugendgeschichte zurück, die er ihr einst geschenkt hatte, und fügt diesen die restlichen Teile seiner Lebensgeschichte bei, «um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln» (3,281; vgl. Faksimile auf S. X).
Der Roman endet so auch in einer autopoetischen Reflexion, mit der er die Prämissen des poetischen Realismus aufdeckt: Schrift und Tod sind verschränkt, Erzählen ist Erinnern, in der Literatur ist aufbewahrt, was in der säkularen Welt dem Prinzip der Vergänglichkeit unterworfen ist. Auf die Literatur wird damit ein Teil dessen übertragen, was der Atheismus mit der Absage an die Unsterblichkeit preisgegeben hat. Die Literatur vermag das Vergangene präsent zu halten, zeigt sich aber zugleich vom Bewusstsein der Sterblichkeit durchzogen.
Vor diesem Hintergrund wird die Religion nicht einfach zum Relikt, zum Zeugnis einer vergangenen Welt, auf die man aus der Position des Fortschritts entweder überlegen zurückblickt oder die man umgekehrt in nostalgischer Verklärung wieder auferstehen lässt. Keller interessiert sich sehr viel grundsätzlicher für die Verschiebungen im Verhältnis von Diesseits und Jenseits und beschäftigt sich eingehend mit der Transformation des Religiösen im Prozess der Säkularisierung. «Der grüne Heinrich» und mit ihm praktisch das gesamte Werk Kellers, sind Schauplatz dieser Auseinandersetzung.
* Zentralbibliothek Zürich, Ms. GK 13, S. 180
** Zitiert mit Band- und Seitenangabe nach der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA), hrsg. von W. Morgenthaler et al., Zürich/Frankfurt am Main, 1996 ff.
Ursula Amrein, geboren 1960, ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich.