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Von der Kunst, den «Grünen Heinrich» zu lesen. Folge 1

«Eine gewisse Unförmlichkeit» – ein Roman, fast wie ein Brief 1853 schrieb Gottfried Keller an einen Freund: «Ich habe gesehen und gestaunt, wie schlecht und unfähig die Produkte anderer Leute gelesen werden.» Trotz dieser pessimistischen Einschätzung Kellers wurden beide Fassungen des «Grünen Heinrichs» – die erste wurde 1854/55 publiziert, die zweite fünfundzwanzig Jahre später – offenbar so gut und fähig gelesen, dass sie inzwischen zur Weltliteratur zählen. Von der Kunst, Gottfried Keller zu lesen, handelt auch eine diesjährige Vorlesung am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Eine Auswahl der dort gehalten Vorträge, zu denen neben den Zürcher Dozenten auch auswärtige Gäste eingeladen sind, wird bis Ende des Jahres in einer überarbeiteten Version in den «Schweizer Monatsheften» publiziert werden. Die folgenden Überlegungen des Zürcher Germanisten Wolfram Groddeck zur poetologischen Funktion der Briefe im «Grünen Heinrich» sind der Beginn.

Gottfried Keller schrieb das «Vorwort» zum «Grünen Heinrich» 1853. Es entstand auf Drängen des Verlegers Eduard Vieweg und ist Ausdruck einer Verlegenheit. Keller war mit der Fertigstellung seines Romans weit hinter seinen Versprechungen zurückgeblieben, und der Verleger wollte die ersten Bände des «Grünen Heinrich» nun drucken, noch ehe Keller mit dem ganzen Roman fertig war. Darauf liess sich Keller notgedrungen ein, er schrieb umgehend ein «Vorwort» und begründete in seinem Begleitbrief noch einmal die «Grundabsicht» seines Romans: durch den tragischen Ausgang des Ganzen solle der Roman «Mitleid erregen», und mit dem «traurigen Ende», bei dem das «Marthyrthum» der Mutter sich über die «Verherrlichung der mütterlichen Pflichterfüllung» erkläre, aber auch mit dem «Untergang» des Sohnes, auf den es durch den ganzen Roman «fast auf jeder Seite des Buches zwischen den Zeilen abgesehen» sei, müsse der Roman enden wie «in einem guten Trauerspiele» (19, 240)**. Man könnte fast versucht sein, den Brief an den Verleger und das diesem Brief beigelegte Vorwort auszutauschen. Die wesentlichen Passagen im Brief über die Absicht des Romans entsprechen weit mehr einem einführenden Vorwort als das tatsächliche Vorwort des Romans, das eher einem Entschuldigungsbrief gleicht und von einer ungelösten Formproblematik handelt.

Dieses entschuldigende Vorwort enthält einen weitausgeführten Vergleich: «…die Entstehungsweise des Ganzen gleicht derjenigen eines ausführlichen und langen Briefes, welchen man über eine vertrauliche Angelegenheit schreibt, oft unterbrochen durch den Wechsel und Drang des Lebens. Man läßt den Brief ganze Zeiträume hindurch liegen, man wird vielfältig ein Anderer; aber wenn man das Geschriebene wieder zur Hand nimmt, fährt man genau da fort, wo man aufgehört hatte. … Man hat den Brief mit einer gewissen, redseligen Breite begonnen, welche eher von Bescheidenheit zeugt, indem man sich kaum Stoffes genug zutraute, um den ganzen schönen Bogen zu füllen. Bald aber wird die Sache ernster; das Mitzu-theilende macht sich geltend und verdrängt die gemüthlich ausgeschmückte Gesprächigkeit, … um sich gegen den Schluß des Briefes hin wenigstens so viel Raum zu erkämpfen, als nöthig ist, mit der warmen Liebe des Anfanges zu endigen. So entsteht freilich nicht ein streng gegliedertes Kunstwerk, aber vielleicht ein um so treuerer Ausdruck dessen, was man war und wollte mit dem Briefe. Eine andere Frage aber ist es nun, ob das Gleichniß hinreiche, eine gewisse Unförmlichkeit vorliegenden Romanes zu entschuldigen oder zu beschönigen» (11, 13f.).

Das hier exponierte «Gleichniß» vom Brief oder vom Briefeschreiben verdient eine genauere Betrachtung; denn es gibt einen Einblick in die Logik des Schreibens, die auch den Roman im ganzen bestimmt. Der Stein des Anstosses für die zeitgenössische Literaturkritik und vor allem für Keller selbst war die «Unförmlichkeit» des Romans im Verhältnis der Ich- und der Er-Erzählung, die durch die sich verselbständigende Länge der «Jugendgeschichte» entstanden war. Am Schluss der Jugendgeschichte – im dritten Band des vierbändigen Werkes – steht der Erzähler vor dem Problem, den Übergang zwischen der «Selbstbiographie» des Helden und dem «eigentlichen Roman» (11, 14) zu gestalten. Die letzten Sätze der «Jugendgeschichte» lauten in der ursprünglichen Fassung des Romans: «Mein einziges Trachten ging aber von nun an dahin, so bald als möglich über den Rhein zu gelangen, und um mir bis dahin die Stunden zu verkürzen, habe ich mir diese Schrift geschrieben» (12, 105). Diese wahrlich paradigmatische Formulierung selbstbezüglichen Schreibens – «habe ich mir diese Schrift geschrieben» – macht den Übergang von der Ich-Erzählung in die nun folgende, aus der Aussenperspektive berichtende Er-Erzählung schwer, und das nächste Kapitel überspringt mit seinem Beginn auch gleich volle zwei Jahre: «Das zweite Jahr ging seinem Ende entgegen, seit Heinrich in der deutschen Hauptstadt … sich aufhielt» (12, 106).

Auch in der sogenannten «zweiten Fassung» des «Grünen Heinrich», die 25 Jahre nach der ersten erschien, ist die Zäsur deutlich, obwohl der Roman nun insgesamt in der Ichform gehalten ist: «Wie lange ist es her, seit ich das Vorstehende geschrieben habe. Ich bin kaum derselbe Mensch, meine Handschrift hat sich längst verändert, und doch ist mir zu Muth, als führe ich jetzt fort zu schreiben, wo ich gestern stehen blieb» (2, 93). Höchst merkwürdig wirkt nun die Übereinstimmung dieser Stelle mit einer Bemerkung Kellers in dem ein Vierteljahrhundert zuvor verfassten Vorwort von 1853: «Man läßt den Brief ganze Zeiträume hindurch liegen, man wird vielfältig ein Anderer; aber wenn man das Geschriebene wieder zur Hand nimmt, fährt man genau da fort, wo man aufgehört hatte» (11, 13). Es gibt offenbar – so lässt sich diese Koinzidenz verstehen – eine eigene Zeit des Schreibens, die eine andere Logik hat als die Zeit des Erzählens oder gar die der erzählten Zeit im Roman selbst. Die Zeitlücken, die in jeder Erzählung aufbrechen, schliessen sich erst in der Erfahrung des Schreibens. Davon redet seltsamerweise das Vorwort, indem es das Briefgleichnis entfaltet. Wer einen Brief in diesem emphatischen Sinne schreibt, der vergewissert sich des Abwesenden als eines im Akt des Schreibens stetig Vergegenwärtigten. «Mittheilung» ist dabei mehr als nur der kommunikative Akt der Vermittlung einer Botschaft. Mitteilung im Brief bedeutet zugleich auch Teilhaben und Teilhabenlassen. Das Mitgeteilte liegt nicht unabhängig von der Mitteilung schon vor, sondern es entsteht erst während der Mitteilung selbst. Diese Emergenz des Schreibens führte dazu, dass der Roman in seiner ersten Fassung kein «streng gegliedertes Kunstwerk» werden konnte, sondern «eine gewisse Unförmlichkeit» an den Tag legte. Die Behebung dieser «Unförmlichkeit» war das Ziel der Umarbeitung, das sich Keller schon während der Niederschrift der ersten Fassung gesetzt hatte.

Das «Unförmliche» meint das Chaotische, das Formlose, es kann aber auch etwas Zwangloses bezeichnen – als Gegensatz zur Förmlichkeit im sozialen Umgang. Und so wird die «Unförmlichkeit» des Ganzen zwar kein «reines Kunstwerk» sein, dafür aber «doch den Eindruck einer wahr empfundenen und mannigfach bewegten Mittheilung» machen (11, 14). Der «Brief», der in der Vorrede als «Gleichniß» dient, um das Romanschreiben aus der Erfahrung des Schreibens heraus begreiflich zu machen, deutet aber auch auf etwas, das im Text des Romans immer wieder virulent ist, indem das Schreiben oder Nichtschreiben von Briefen die geheime Dramatik des Romans, seine eigentliche, unterschwellige Handlung ausmacht. Schon das Vorwort spricht davon, wie beim Briefschreiben der «ganze schöne Bogen» gefüllt wird. Zugrunde liegt hier eine Vorstellung vom Schreiben, die man als die Bedingung der Möglichkeit von Romanerzählung verstehen kann und die sich im Text auch immer wieder auf der Handlungsebene spiegelt.

Schon wenige Seiten nach Beginn des Romans entdeckt der Sohn, dass die Mutter ihm seinen Koffer gepackt hat und ist darüber unzufrieden: «Für Papier haben die meisten Hausfrauen überhaupt nicht viel Gefühl, weil es nicht in ihren Bereich gehört. Die weiße Leinwand ist ihr Papier, die muß in großen, wohlgeordneten Schichten vorhanden sein, da schreiben sie ihre ganze Lebensphilosophie, ihre Leiden und ihre Freuden darauf. Wenn sie aber einmal ein wirkliches Briefchen schreiben wollen, so findet sich kaum ein veraltetes Blatt dazu und man kann sich alsdann mit einem hübschen Bogen Postpapier und einer wohlgeschnittenen Feder sehr beliebt bei ihnen machen» (11, 23). Die Rede von einer wohlgeordneten und geschichteten weissen Leinwand, auf die eine «ganze Lebensphilosophie» geschrieben wird, ist stilistisch gesehen eine Stilblüte. Und doch ist gerade die unsichtbar beschriebene, weisse Leinwand eine der tragendsten Metaphern für den inneren Zusammenhang des Romans.

Die «weisse» Leinwand ist ein Bild für die Bedingung der Möglichkeit, schöpferisch zu sein. Sei dies in schriftstellerischer Weise, indem die Leinwand eine Metapher für den weissen Bogen Papier ist, sei es im eigentlichen Sinne, indem ein Maler, zum Beispiel ein Landschaftsmaler wie Heinrich Lee, durch die leere Leinwand angeregt wird, ein Bild zu malen. Die zwei Seiten der Metapher Leinwand/Papier erweisen sich so als Metonymien für die Doppelbegabung Heinrichs, der schreibt und malt, der also zwischen Dichterberuf und Malerberuf schwankt. Die weisse und zugleich doch nicht unbeschriebene Leinwand der Mutter ist aber auch in anderer Hinsicht ein zutiefst doppeldeutiges Bild: es ist ein erotisches Symbol und zugleich auch ein Symbol des Todes. Schon im ersten Abschnitt der Jugendgeschichte ist die Rede von der «derbe[n] ehrliche[n] Leinwand der Grabhemden» (11, 64). Und ganz am Ende des Romans wird ausdrücklich das Sargtuch der gerade verstorbenen Mutter erwähnt: «von weißer Leinwand, welche der Sitte gemäß eine Handbreit unter der schwarzen Decke hervorsehen muß» (12, 463). Das Weisse, vor dem sich – wenn es sich in Form des unbeschriebenen Blattes Papier zeigt – jeder Schriftsteller fürchtet, lässt sich gleichzeitig aber auch als jene Projektionsfläche begreifen, auf der die Männer ihre Frauenbilder erschaffen. Und so ist das Weisse – wie es der Kellerforschung schon öfter aufgefallen ist – auch ein erotisches Symbol oder vielleicht genauer gesagt: eine transzendentale Metapher für die Reinheit des Begehrens im Text des Romans.

Von den vielen Briefen, die im Text des «Grünen Heinrich» handlungsbestimmend werden, ist besonders reizvoll jener Liebesbrief Heinrichs an seine kindlich-ätherische Freundin Anna, in dem er seine ganze Liebe gesteht («in den heftigsten Ausdrücken, mit Vorsetzung ihres vollen Namens und Unterschrift des meinigen») und den er dann auf einem «Flüßchen» aussetzt. Aber statt dass der Brief ins offene Meer treibt, gelangt er «an die Brust einer badenden Frau, welche niemand anders als Judith war, die ihn auffing, las und aufbewahrte» (11, 331). Die – mit Kleist zu reden – «unwahrscheinliche Wahrhaftigkeit» dieser Erzählepisode, wo sich das verliebte Schreiben Heinrichs von selbst die richtige Adressatin sucht, offenbart ihre poetische Wahrheit gerade in dem metaphorischen Kollaps vom im Wasser treibenden Briefpapier und der entblössten Brust

einer Frau.

Die unwahrscheinliche Geschichte vom sich selbst adressierenden Liebesbrief hat noch eine Parallele. Denn Heinrich schreibt auch im 6. Kapitel des zweiten Buches einen Liebesbrief an Anna, den er auf dem Tisch am offenen Fenster liegen lässt. Der Brief wird dann vom Wind

hinausgeweht und verschwindet hinter einem «Bienenhaus». Später wird er aber von einem der Mädchen im Hause Annas gefunden und öffentlich, das heisst vor Anna, den neugierigen Mädchen und dem zunächst noch ahnungslosen Heinrich selbst, vorgelesen. Es gelingt Heinrich, durch eine schlaue Erklärung Anna und sich aus der Affäre zu ziehen; was aber poetologisch von Bedeutung ist, ist nicht nur der Umstand, dass das Mädchen Margot den gefundenen Brief «aus dem Busen» zieht, sondern auch die merkwürdige Wirkung des vorgelesenen Briefes. Der Brief wirkt nämlich wie eine Dichtung: die Zuhörerinnen «wurden … durch die ehrliche Schönheit und Kraft jener Worte betroffen und beschämt und sie errötheten der Reihe nach, wie wenn die Erklärung sie selber betroffen hätte» (11, 376). Diese Wirkung des Briefs im Roman – einer «Mittheilung» im poetischen Sinne der Teilhabe – entspricht nun auf merkwürdig genaue Weise der im «Vorwort» von 1853 erhofften Wirkung des ganzen Romans, von der der Autor wünscht: «einzig und allein möchte ich durch das Gleichniß [mit dem Brief] die Hoffnung andeuten, der geneigte Leser werde … doch den Eindruck einer wahr empfundenen und mannigfach bewegten Mittheilung davon tragen» (11, 14).

Die «wahr empfundene und mannigfach bewegte Mit-theilung» als poetisches Ziel des Romans hüllt sich in das «Gleichniß» mit dem Brief. Briefe im Roman können darüber zu Kristallisationspunkten des Romanerzählens werden und reflektieren es in sich selbst. Der undeutlich adressierte Brief (als poetologische Metapher für den «unförmlichen» Roman selbst) erfüllt seine Bestimmung, indem er sich mitteilt. Das Briefschreiben im Roman wird so zu einem selbstähnlichen Kompositionselement, das die Erzählung ebenso in die Irre lenkt, wie es sie auf rätselhafte Weise zusammenhält und weitertreibt.

Es ist der «erste» Brief Heinrichs überhaupt, in dem er der Mutter seine Berufswahl mitteilen will, Maler zu werden. Die Beschreibung dieses Schreibens im Text des Romans gibt sich erstaunlich umständlich: «Ich konnte den unbestimmten Zwischenzustand nun nicht länger ertragen, sondern suchte unter meinen Sachen nach einem feinen Blättchen Papier, um einen Brief an meine Mutter zu schreiben, den ersten in meinem Leben. Als ich ganz zu oberst am Rande das ‹Liebe Mutter!› hinsetzte, schwebte sie mir in einem neuen Lichte vor, ich empfand diesen feinen Fortschritt und Ernst des Lebens wohl und meine Schreibgeläufigkeit ließ mich anfänglich im Stiche und kaum die ersten Sätze finden. Doch führten mich die Schilderungen meiner Reise und des Aufenthaltes im Pfarrhause, so wie der sonstigen Erlebnisse bald in das Geleise zurück, und meine Beschreibung fiel nur allzu geschmückt und prahlerisch aus. … Alsdann ging ich auf den Zweck meines Schreibens über und erklärte ihr weitläufig, daß ich nun durchaus glaubte, ein Maler werden zu müssen, und in Folge dessen bat ich sie, sich vorläufig umzusehen und mit den verschiedenen Erfahrenen unserer Bekanntschaft sich zu berathen. Die Familienberichte und Grüße, so wie einige wichtige Aufträge über kleine Gegenstände bildeten den Schluss des Briefes, ich faltete ihn eng und künstlich zusammen und verschloß ihn mit meinem Leibsiegel, einem unbehülflichen Anker, das Zeichen der Hoffnung, welches ich längst in ein weiches Stückchen Alabaster selbst gegraben hatte und nun zum ersten Mal zu einem wirklichen Zwecke gebrauchte. Die Adresse schrieb ich sehr ausführlich und besonders das ‹an Frau Lee, née Hartmann› mit ungemeiner Ansehnlich-

keit» (11, 270).

Keller beschreibt hier in aller Präzision eine klassische Schreibszene, in der die Umstände des Schreibens mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht werden wie das Schreiben selbst. Die Ausgangssituation ist dabei «ein unbestimmter Zwischenzustand», den zu beenden der eigentliche Anlass des Briefes ist. Dieser «erste» Brief Heinrichs wird nun lesbar als ein poetischer Schöpfungsakt: Indem der Schreiber «zuoberst am Rande das ‹Liebe Mutter!› hinsetzt» wird sie ihm lebendig und erscheint ihm «in einem neuen Lichte» und schwebt ihm vor, so wie einem beim Schreiben das vorschwebt, was man gerade artikulieren möchte.

Die Beschreibung der Niederschrift dieses Briefes erinnert wieder an das «Vorwort», wo das Briefschreiben als poetologisches Gleichnis des ganzen Romans entfaltet wurde; denn auch bei Heinrichs Brief macht die anfängliche Weitschweifigkeit schliesslich der Notwendigkeit des «Mitzutheilende[n]» Platz, das ja hier die alles entscheidende Wahl des Malerberufs betrifft. Dass der initiale Brief an die Mutter nach Beendigung der Niederschrift umständlich mit des jungen Heinrichs «Leibsiegel, einem unbehülflichen Anker, das Zeichen der Hoffnung» gesiegelt wird, greift, durchaus im Sinne einer tragischen Ironie, auf das Ende des Romans vor: auf die für Heinrich tödliche Zweideutigkeit des Verses von der «Hoffnung», der auf dem Zettel geschrieben steht, den Heinrich noch in der Hand hält, als er – buchstäblich auf der letzten Seite des Romans – stirbt. Aber nicht nur das Siegel, das sich, quer zum Text, als

eine Hoffnung lesen lässt, die nicht hilft, sondern auch die Adresse, die im Text ausdrücklich thematisiert wird, zeigt eine über sich hinausweisende konnotative Dynamik: «Die Adresse schrieb ich sehr ausführlich und besonders das ‹an Frau Lee, née Hartmann› mit ungemeiner Ansehnlichkeit.» (Bei der Umarbeitung des Romans wird Gottfried Keller diesen Satz streichen).

Der Mädchenname von Heinrichs Mutter wirkt als sprechender Name: die verwitwete Mutter soll eigentlich «Hartmann» sein, nämlich das, was der vaterlose Heinrich so sehr vermisst: ein harter Mann. Der seltsame schlagreimartige Effekt einer dergestalt formulierten und mit «ungemeiner Ansehnlichkeit» hingeschriebenen Adresse: «Frau Lee, née Hartmann» wirkt (laut gelesen) dann aber doch wieder wie eine trotzige Verneinung des Vaternamens «Lee». Je nachdenklicher man diesen Brief Heinrichs in der ersten Fassung betrachtet, umso mehr erweist er sich als eine Art Hologramm des ganzen Romans, das die tiefen psychischen Ambivalenzen und das Schicksal des grünen Heinrich von der Geburt bis zum Tod in der gescheiterten Hoffnung auf eine seltsame Weise schon in sich enthält.

* Der nur zwei Seiten umfassende Entwurf stellt das älteste erhaltene Dokument zum «Grünen Heinrich» dar. (Ausschnitt, Ms. GK 23, f. 25, Zentralbibliothek Zürich).

** zitiert mit Band und Seitenzahl nach der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA): «Der Grüne Heinrich», hrsg. von

K. Grob, W. Morgenthaler, P. Stocker, Th. Binder, unter Mitarbeit von D. Müller, Stroemfeld, Basel/Zürich: Stroemfeld, NZZ-Verlag, 2005–2006, Bände 1, 2, 3, 11, 12, 19 und 20.

Wolfram Groddeck, geboren 1949, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich.

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