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Von der Freiheit überfordert
Amber Dubinsky, zvg.

Von der Freiheit überfordert

Zu viele fixe Vorgaben begrenzen die freie Entfaltung des Individuums. Es braucht kreativere Lehr- und Lernformen, damit die Jugendlichen Selbstvertrauen tanken können.

 

Hin und wieder war ich überzeugt, die Uhr ginge rückwärts. Erst 14 Uhr? Wie war das nur möglich! Gelangweilt schaltete ich ab und vergass, was mir die Person an der Wandtafel beibringen wollte. Solche Situationen habe ich während meiner Schulzeit und meines Wirtschaftsstudiums leider allzu häufig ­erlebt. Während der Unterricht an mir vorbeiplätscherte, starb das Leben in mir. Zahlreichen Schulkindern wird es auch heute noch sehr ähnlich gehen. Ihre Kreativität findet im Schulalltag keinen Ausdruck und keine Förderung.

Ein Start-up-Weekend katapultierte mich in die Welt des Jungunternehmertums. Erst dort realisierte ich, wie viel Know-how man heutzutage braucht, um ein erfolgreiches Unternehmen zu lancieren. Es war eine Erfahrung, die mich nachdenklich stimmte: Woher sollten junge Menschen plötzlich all die nötigen Fähigkeiten nehmen, die das Führen eines Unternehmens voraussetzt? Woher sollten sie wissen, wie sie richtig auftreten, welche Gespräche Investitionen zur Folge haben oder wie das Führen von Mitarbeitern überhaupt geht? Ich schrieb mir auf die Fahne, Jugendlichen solche Erfahrungen zu ermöglichen.

Vor vier Jahren führte ich die erste von bisher sieben Projektwochen unter dem Titel «Jugendliche unternehmen» an einer ­Sekundarschule durch. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiteten dort in Teams Lösungen zu einer Problemstellung und präsentierten diese zusammen mit einem Prototyp zum Abschluss. So entstand beispielsweise die «Butterbox» – ein Behälter, der Butter im Kühlschrank stets auf milde, streichzarte 14 Grad kühlt. Die Struktur folgte der Innovationsmethode «Design Thinking»: In einem gestalterischen Umfeld kamen die knapp 14-Jährigen erstmals mit Unternehmertum in Berührung.

Zu Beginn staunte ich ob der Unselbständigkeit vieler Schülerinnen und Schüler. So wurde ich beispielsweise gefragt, wo man die erarbeiteten Flipcharts und Flugblätter nun abgeben müsse. Ich realisierte, dass die Absenz von fixen Vorgaben die Jugend­lichen schnell einmal überforderte. Auch beobachtete ich bei ­einigen Schülern eine erschreckende Begeisterungslosigkeit, ja eine Unfähigkeit, sich eine ganze Woche lang eigenen Interessen zu widmen. Abgesehen von «hängen» und «gamen» schienen sie kaum noch ein intrinsisches Interesse an einer Tätigkeit ent­wickeln zu können. Für mich sind das die Ergebnisse des sogenannten «Bulimie-Lernens». Die heutige Bildungspraxis liefert den Schülern nämlich den Anreiz, eine Masse an Wissen für einen bestimmten Stichtag in sich hineinzustopfen und diese gleich nach der Prüfung wieder auszuwerfen. Lernen und Leben werden dadurch voneinander abgekoppelt.

Dabei könnte doch alles ganz anders sein: Im richtigen Umfeld übernehmen die Schülerinnen und Schüler nämlich Verantwortung und stärken einander; ein Konzept, das sich vor allem auf Primarstufe bewährt: Die Älteren helfen den Jüngeren. Ent­scheidend ist, dass man den Jugendlichen dieses Verhalten auch zutraut und ihnen die nötige Freiheit zur Selbstentfaltung ent­gegenbringt. Erhalten sie Raum im Feld der Möglichkeiten, ­gehen sie ihren Interessen nach, entwickeln Ideen und geben ­ihnen Form und Farbe. Sie werden dabei begleitet, ihre eigene Welt mitzugestalten, und explorieren so in der Praxis, was ihr Tun bewirkt.

Mein Leben lang hatte ich falsche Erwartungen an das Bildungswesen. Mir ist fast, als hätte ich lange ein fremdes Drehbuch auswendig gelernt. Erst nach und nach stellte ich fest, dass es gar nicht zu mir passte. Also ging ich zurück in die unendlich grosse Drehbuchbibliothek, um mir neue Stücke anzusehen. Und realisierte, dass ich ja selbst die Autorin meines Lebensmanuskripts bin. Es ist diese Anregung zur freien Entfaltung, die den Jugend­lichen in der modernen Bildungsmaschinerie verwehrt bleibt.

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