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Von den Vorzügen des Schattendaseins

Die Diktatur von unten sichert der Schweiz ihre Stabilität, seinen Erfolg aber verdankt das Land dem Zufall. Was kann die Confoederatio Helvetica tun, um am weltweiten Roulettetisch weiter zu den Gewinnern zu zählen? Ihre Trümpfe unsichtbar halten. Eine Provokation.

Von den Vorzügen  des Schattendaseins
Rolf Dobelli, photographiert von Christian Grund.

Angenommen, es geht Ihnen hervorragend. Sie beziehen ein überdurchschnittliches Einkommen. Ihr Portfolio hat sich prächtig entwickelt, die Ehe ist im Lot und der lokale Rotary Club hat Sie soeben zum Präsidenten gewählt. Warum diese Erfolgslawine? Antwort: Sie haben sie einem Gemisch aus Zufall und Faktoren zu verdanken, für die sie nicht viel können. «Zufall?», rufen Sie. «Nix da Zufall! Mein Erfolg ist das Ergebnis harter Arbeit!»

Auch der Schweiz geht es hervorragend. Sie erfreut sich der tiefsten Arbeitslosenrate ganz Europas. Globale Konzerne siedeln ihre Headquarters hier an. Das nationale Haushaltsbudget ist (fast) im Lot, das Wachstum ansprechend, der Schweiz geht es gut. Warum? Wiederum ein Gemisch aus Zufall und ein paar Faktoren, für die wir Bürger als einzelne nicht viel können. «Zufall?», wollen wir trotzdem rufen. «Nix da Zufall! Der Erfolg der Schweiz ist das Ergebnis harter Arbeit!»

Die Rechtfertigungen sind verständlich – logisch sind sie nicht. Stellen Sie sich vor, Sie spielen einen Abend lang Roulette mit zweihundert Freunden und Bekannten. Um Mitternacht listen Sie die Gewinne und Verluste jedes Spielers auf. Rein zufällig werden einige Spieler hervorragend abgeschnitten haben, andere miserabel. Es geht nicht anders. Jene, die gewonnen haben, werden den Erfolg ihren Fähigkeiten zuschreiben. Jene, die verloren haben, geben externen Faktoren die Schuld. Die Psychologie nennt dieses Verhalten Self-Serving Bias.

Genau gleich wiederum auf nationaler Ebene, wenn sich Länder miteinander messen. Einige schneiden hervorragend ab, andere miserabel. Die Gewinnerländer schreiben den Erfolg dem Arbeitseifer ihrer Bevölkerung und der Fähigkeit ihrer Regierung zu. Die Verlierer suchen die Schuld woanders.

Die Erde ist nichts anderes als ein grosser Roulettetisch: Je nachdem, wo Sie sich geographisch befinden und was um Sie her­um passiert, ob eine Pest über das Land zieht oder ein Bürgerkrieg, ob eine Revolution ausbricht oder ein Vulkan, finden Sie sich am oberen Ende der Liste, in der Mitte oder unten. Dass die Schweiz weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg angegriffen wurde, ist reiner Zufall und hatte nichts mit den diplomatischen Fähigkeiten unserer Landesregierung zu tun. Dass wir nicht in die Fänge der Sowjetunion gerieten, verdanken wir nicht unserem liberalen Willen. 500 Kilometer weiter östlich, und wir hätten hinter dem Eisernen Vorhang gelegen. Dass pompöse romantische Utopien in der Schweiz bis heute nicht Fuss fassen konnten, liegt nicht am messerscharfen strategischen Denken der Bevölkerung, sondern an der Geographie: Alpentäler sind kaum zentral zu regieren. Der Aufwand, einige engstirnige Eigenbrötler unter staatliche Kontrolle zu bringen, ist viel zu hoch, verglichen mit dem bescheidenen Vorteil, den man sich daraus erhoffen kann. Besonders wenn von diesen bescheidenen Jungs null revolutionäre Kraft ausgeht. Diese simple Investitionsrechnung haben seit den Karolingern alle grossen Mächte gemacht.

Aber warum, werden Sie einwerfen, geht es der Schweiz weiterhin so gut? Das muss doch einen Grund haben. Das kann doch nicht Zufall sein!

Doch, ist es, zumindest zu einem grossen Teil. Dazu nochmals ein Beispiel: Sie sitzen in der Konzernleitung eines Unternehmens mit zweihundert Filialen. Der Finanzchef hat eine Studie zum Thema Umsatzwachstum gemacht. Stolz präsentiert er seine Ergebnisse. Auf der Leinwand prangen die Namen der zehn wachstumskräftigsten Filialen. Was sofort auffällt: Es sind hauptsächlich kleine Filialen. Nach einem Moment der Stille sagt der Finanzler: «Meine Damen und Herren, der Fall ist klar, wir sollten unsere grossen Filialen zerschlagen.» Wäre das auch Ihre Reaktion? Ich hoffe nicht. Verlangen Sie stattdessen die Liste der zehn Filialen mit dem stärksten prozentualen Umsatzrückgang. Wieder sind es die kleinen Filialen. Der Grund: In einer winzigen Filiale hat ein einziger zusätzlicher Kunde prozentual einen viel grösseren Effekt als in einer riesengrossen Filiale. Ebenso stark fällt hier ein verlorener Kunde ins Gewicht. Die Ausschläge sind bei kleinen Filialen viel stärker als bei grossen.

So ist es auch mit Staaten. Ein kleines Land kann sein Bruttosozialprodukt schneller verdoppeln oder halbieren als ein grosses. Es reicht, wenn ein paar bedeutende Firmen dieses Landes sehr gut oder sehr schlecht wirtschaften. In einem grossen Staat fällt eine einzelne Firma oder eine einzelne Branche nicht sonderlich ins Gewicht, in einem kleinen hingegen schon. Das ist ein rein statistischer Effekt – das sogenannte Gesetz der kleinen Zahl.

Welches sind die Top 3 unter den Staaten, was das Wirtschaftswachstum im letzten Jahr betrifft? Libyen, Sierra Leone und die Mongolei. Welches die drei Schlusslichter? San Marino, Sudan und Griechenland. Alles relativ kleine Gebilde. Darum: Immer wenn Sie von (guten oder schlechten) Extremleistungen kleiner Staaten, Gemeinden, Schulen, Krankenhäusern etc. hören, sollten Sie hellhörig werden. Mit der Leistung dieser kleinen Entitäten hat das oft nichts zu tun, sondern nur mit dem Gesetz der kleinen Zahl.So weit das Argument für den Zufall – den rohen Zufall des Roulettes und des Gesetzes der kleinen Zahl. Damit haben wir vielleicht zwei Drittel des Schweizer Erfolgs erklärt. Kommen wir zum letzten Drittel, den handfesten Faktoren. Davon gibt es Dutzende. Ich habe sie nicht erforscht. Meine Hypothese: Der wichtigste Faktor ist die Diktatur von unten.

Die Stabilität der Schweiz beruht auf der Tatsache, dass das Land keine nennenswerte Regierung hat. Auf die Frage eines Journalisten der «Sonntagszeitung», wer dem Finanzdepartement vorstünde, hatte ich keine Antwort. Und ich war dar­über nicht im Mindesten beunruhigt. Im Gegenteil, das ist das Zeichen eines guten Systems: dass es nicht von Einzelpersonen abhängt. Bezüglich Firmen drückt es der Investor Warren Buffett so aus: «Investieren Sie in ein Geschäft, das auch ein Idiot führen könnte, denn früher oder später wird einer an der Spitze sein.» Genau das gilt auch für Staaten.

Es ist nicht so, dass die Schweiz keine Regierung hätte. Die eigentliche Regierung besteht aus Bürgern, die sich um Kanalisationsprojekte, Feinstaubemissionen, Trottoirsanierungen und andere uninspirierende Fragen streiten. Diese Diktatur von unten schützt das Land gegen grandiose romantische Utopien. Die Schweiz produziert Stabilität, und Stabilität ist der Nährboden für langfristige Investitionen – für Wachstum.

Vielleicht haben Sie sich auch schon gefragt, warum es keine Unternehmung mit hundert Millionen Mitarbeitern gibt. Antwort: Effizienz durch Grösse ist nur bis zu einem bestimmten Punkt möglich, danach schlägt Grösse in Ineffizienz um. Eine Megafirma mit hundert Millionen Angestellten wäre höchst zerbrechlich. Ähnliches gilt für Staaten. Grosse, zentralistische Gebilde sind zerbrechlich. Auch wenn Zentralisierung im ersten Augenblick Vorteile verspricht – Vermeidung von Doppelspurigkeit, Konzentration von Expertenwissen, Machtballung gegen aussen –, wiegen die Nachteile schwerer. Und das, glaube ich, ist der doppelte Vorteil der Schweiz. Sie ist klein und dazu noch dezentral organisiert – quasi unfähig zum Grössenwahn. Ein Bundesrat wird sich gut überlegen, riskante Grossprojekte durchzupeitschen. Scheitert er, wird er sich für den Rest des Lebens schämen. Kein schönes Gefühl, wenn man nach draussen geht. Der Regierungsbeamte in Brüssel, Washington oder Peking fühlt dieses Regulativ der Scham nicht. Darum: Hätte ich die Möglichkeit, würde ich sämtliche Nationalstaaten abschaffen und die Erde mit einem Netz von Hansestädten überziehen. Städte sind am Handel interessiert und nicht, wie Nationalstaaten, an Machterhalt oder gar Machtexpansion. Und: Viele Teile der Schweiz kommen meinem Ideal einer Hansestadt sehr nahe.

Das ist es also, was für die Schweiz spricht: der Zufall und ein paar handfeste Vorteile, am wichtigsten die Diktatur von unten. Das sind gute Karten für die Zukunft – jetzt dürfen wir sie bloss nicht verspielen.

Die Erdoberfläche wird bis auf weiteres überzogen sein von einem Teppich aus Nationalstaaten (und leider nicht von Hansestädten). Ein grosser Staat wird einen kleinen immer herumbugsieren können, aber nicht umgekehrt. Die USA oder Deutschland (und damit die EU) können die Entwicklung der Schweiz massiv beeinflussen, aber nicht umgekehrt. Ein kleines Land wie die Schweiz muss somit eine Strategie fahren, die die Vorteile der Kleinheit voll ausspielt – aber unter dem Radar der grösseren Staaten, um keine Begierden zu wecken. Gleichzeitig muss es sich als fairer Player darstellen.

Genau diese Strategie hat die Schweiz im letzten Jahrhundert mit Meisterschaft verfolgt. Das Bankgeheimnis, die Feinregulierung der Arbeitslosigkeit über Saison­niers, die «Diktatur von unten», der Berufsweg über Lehrstellen, der Steuerwettbewerb unter den Kantonen, der liberale Arbeitsmarkt, die eigene Währung – diese Vorteile waren über viele Jahrzehnte der Motor des wirtschaftlichen Erfolgs. Natürlich hat das Ausland diese Vorteile zur Kenntnis genommen, aber sie wurden mehr bewundert als beneidet. Doch dann liefen zwei Dinge aus dem Ruder. In den letzten 20 Jahren entstanden in einem Wahn zwei Grossbanken, die alles daransetzten, das Bankgeheimnis und damit die Steuerflucht lauthals als unique selling proposition zu proklamieren. Zudem verlangsamte sich das Wachstum der EU-Staaten und der USA im gleichen Mass, wie sich ihre Verschuldung erhöhte. Diese kritische Kombination musste Begehrlichkeiten wecken. Die mächtigen Staaten legten die Axt ans Schweizer Bankgeheimnis – ohne dass die Schweiz etwas dagegen hätte tun können.

Es geht hier nicht um die Moralität des Bankgeheimnisses. Es geht um die strategischen Optionen eines Kleinstaats im geopolitischen Spiel. Wir können uns dem Druck der Grossen nicht widersetzen, wie dies von rechts immer wieder gefordert wird. Und wir können das Machtgefüge um uns herum nicht wirklich mitgestalten, wie dies von links gerne behauptet wird. Wir können nicht als mächtige Spieler auftreten, denn wir sind es nicht. Ein Historiker, der in fünfhundert Jahren auf die Schweiz zurückblickt, wird uns als klassischen Vasallenstaat der EU (und teilweise der USA) bezeichnen. Wir sind erpressbar, ob wir es wollen oder nicht. EU und USA könnten, wenn sie wollten, mit einem einfachen Beschluss den Finanzplatz Schweiz austrocknen. Sie könnten uns vom Internet abkoppeln, von den Erdgasleitungen und der Logistikachse nach Rotterdam. Sie könnten auf Knopfdruck das GPS-Signal über der Schweiz abstellen oder die Überflugrechte einschränken. Könnte die Schweiz dagegen protestieren? Argumente zählen im Zwischenstaatlichen kaum. Es geht nicht um Vernunft. Es geht nicht um Werte. Es geht um Macht. Der kleine Staat hat sie nicht. All die oben erwähnten Vorteile – sie nützen ihm nur etwas, wenn er sie im «stealth mode» – im Unsichtbarkeitsmodus – ausspielt.

Was tun? Genau das. Die Schweiz sollte ihre Vorteile nutzen – ohne gross dar­über zu reden. Nach aussen sollte sie sich als hilfreicher Player vermarkten. Sie muss die Leistungen herausstreichen, von denen die ganze Welt profitiert: Erfindungen, Forschungsergebnisse, kulturelle und humanitäre Leistungen. Da liegt noch sehr viel PR-Stoff brach. Die Schweiz muss das Image des Parasiten eintauschen zugunsten dessen eines Huhns, das goldene Eier legt – goldene Eier für die Welt – und dar­um nie geschlachtet wird. Und sie soll zumindest den Anschein erwecken, konstruktiv am Projekt Europa mitzubasteln, auch wenn sie es gar nicht beabsichtigt.

Ich bin kein Patriot. Ich bin, wie die Leser dieses Essays, durch den Zufall in diese Zeit und in dieses Land hineingeboren. Man muss die Schweiz nicht lieben, um ein Citoyen zu sein. Es reicht, wenn man die Vorteile des Landes nicht blödsinnig aufs Spiel setzt.

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(c) Fotolia.
Unbehagen Schweiz. Fünf Autoren halten dem Land den Spiegel vor.

Die zeitweise fast panische Verwirrung um die «europäische Integration» hat ein helvetisches Missbehagen am eigenen Sonderschicksal an den Tag gebracht, das stark einer Angst vor der Zukunft glich. Die Zeit liegt nicht allzuweit zurück, in der die Schweizer es liebten, der Welt ihre Einrichtungen und Traditionen mit jenem Brustton der Überzeugung zu erklären, als müssten […]

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