Von Bankern, Bürgern und Bürokraten
Schützt der Anlegerschutz die Anleger?
Im Anlagebereich herrscht die neue Unübersichtlichkeit. Die Zahl der Anlagemärkte mit unterschiedlichen Regeln nimmt ständig zu: Brasilien, Russland, China, Indien, Äthiopien, Südafrika und weitere. Selbst heimische Unternehmensbilanzen erschliessen sich nur mehr wenigen Eingeweihten. Die Anreizsysteme der Vermögensverwalter sind intransparent, oder konkreter: direkte und versteckte Gebühren werden eingenommen und hinter dem Rücken der Kunden als Retrozessionen umverteilt. Neue Anlageklassen wie Hedge Funds, Private Equity oder Timber Investments beherrschen die Szene. Und neue exotisch klingende Finanzprodukte – Fund of Funds, ETFs, SICAVs, Public-Private-Partnerships, strukturierte Produkte, Trusts, Limited Partnerships und viele mehr – werben um die Gunst der Sparer.
Dabei stellt sich natürlich die eine grosse Frage: Wer profitiert von der neuen Unübersichtlichkeit?
Finanzberater lieben die (Schein-)Komplexität und haben eine eigene Kultur entwickelt, diese mittels rasch wechselnder Anlagethemen sowie unverständlicher Produktenamen wie Groi, Spread Multi Defender, Twin Win, Perles, Shorty oder Bonus Income Note zu akzentuieren. Je unübersichtlicher die Anlagewelt, desto einfacher lassen sich Gebühren verstecken beziehungsweise einstecken. Und desto mehr gewinnen die Berater an Bedeutung, weil allein sie die wachsende Komplexität angeblich zu bändigen vermögen.
Sie haben für jede noch so unplausible Entwicklungsprognose der Weltwirtschaft ein entsprechendes Produkt zur Hand. Das unlösbare, empirisch tausendfach bewiesene Grundproblem, dass sich die Treffsicherheit von Finanzprognosen kaum vom Zufall unterscheidet, wird dabei geflissentlich verschwiegen. Denn liquide Märkte absorbieren in Windeseile alle relevanten Informationen in Form von Preisänderungen; neue Informationen treten zufällig auf, so dass auch Preisänderungen diesem Muster folgen. Kurz: wer gelegentlich eine besonders gute Performance aufweist, hat im Schnitt einfach Glück gehabt.
Rendite und Risiko
Das Gros der Anbieter in der Finanzbranche hat sich darauf spezialisiert, hochtrabende Rendite- oder überzogene Sicherheitsversprechen in komplexe Produkte zu verpacken. Das garantiert schöne Gebühreneinnahmen ganz ohne Risiko – denn das Risiko trägt selbstverständlich der Kunde, mit dessen Geld ja hantiert wird. Die Sache ist nun aber die, dass es genau die Kunden – also die Anleger – sind, die sich nach solchen Produkten sehnen: ohne Nachfrage kein Angebot! Aus Gier oder Naivität erliegen sie der Hoffnung, einen Guru oder doch wenigstens ein wundersames Modell zu finden, das ihnen erlaubt, viel Geld möglichst risikolos zu verdienen. Das scheint heute ein allgemeiner Glaubenssatz geworden zu sein, der die meisten Manager, Finanzinstitute, Politiker, Bürger und Anleger verbindet, obwohl er doch täglich Lügen gestraft wird: eine hohe Rendite zu erwirtschaften, ohne dafür ein hohes Risiko einzugehen. Es ist der tief verwurzelte Wunsch nach einem Free Lunch.
Der gesunde Menschenverstand, der an den ökonomischen Grundsatz erinnern sollte, wonach höhere Renditen stets mit einem höheren Risiko erkauft werden, wird dabei erfolgreich ignoriert. Klingt ein sicherer Coupon von 12 Prozent im Umfeld tiefer Zinsen nicht zu verlockend, als dass man ihm nicht glauben könnte, ja müsste? Die Damen und Herren, die dieses Versprechen anbieten, werden sich ja wohl etwas dabei gedacht haben…
Zur Erinnerung: Vor dem Start der Finanzkrise im Jahr 2007 wurden viele «renditeoptimierende» Finanzprodukte verkauft, mitunter ein sogenannter «Barrier Reverse Convertible», lautend auf drei europäische Bankaktien mit einem sicheren Coupon von 12 Prozent. Allem guten Glauben zum Trotz haben konsternierte Anleger mit solchen Produkten bis zu 90 Prozent des Einsatzes verloren, als die Bankaktien einbrachen, weil sich deren Anlageprofis mit noch komplexeren Produkten verzockt hatten. Das private Geld war weg, die strauchelnden Banken mussten mit Milliarden an Steuergeldern gerettet werden. Der Volkszorn war perfekt. Aber eben – es ist zum Teil dasselbe Volk, das nun wieder munter mitzockt.
In der Demokratie lebt der gewiefte Politiker davon, Stimmungen im Volk aufzunehmen. Schnell waren die ersten zur Stelle und predigten die Notwendigkeit eines Anlegerschutzes, der alle bisherigen Standards in den Schatten stellt. Wie die Berater lieben auch die Berufspolitiker die Scheinkomplexität. Auf deren Basis gedeiht die Selbstinszenierung mittels aktivistischer Gesetzgebung – jeweils zugeschnitten auf den konkreten Einzelfall – prächtig und mit ihr auch die entsprechende Überwachungsbürokratie.
Die neue Dokumentenflut
Der Blick ins europäische Ausland bestätigt dies. So hat Brüssel angeblich zum Schutz des Anlegers unter anderem diverse Finanzmarktrichtlinien – Stichwort MIFID eins und zwei – erarbeitet. Diese sollen die Eignung einer Anlageempfehlung im Kontext des Erfahrungs- und Verständnishorizontes eines Anlegers sicherstellen. So dürfen deutsche Bankkunden bereits heute mehrseitige Fragenbögen ausfüllen, um sozusagen über ihren eigenen Kenntnisstand aufgeklärt zu werden. Sie müssen offenlegen, seit wann sie Börsenerfahrung haben und mit welchen Anlageinstrumenten wie viele Transaktionen sie getätigt haben, wie gross diese im Durchschnitt waren, ob sie Erfahrungen mit Anlageberatung haben, wie hoch ihr Wertpapiervermögen ist, wie gross das sonstige Vermögen ist, wie das regelmässige Einkommen und die Ausgaben aussehen, wie sie ihre selbstdeklarierte Risikobereitschaft einschätzen und so weiter.
Bemerkenswert daran ist nun, dass angesichts der im Namen des Anlegerschutzes rasant gestiegenen Dokumentenflut der effektiv bewirkte Schutz des Anlegers abnimmt: Je häufiger der Anleger dauernd ändernde Dokumente unterzeichnen muss, desto bereitwilliger wird er seine Unterschrift ohne genaueres Prüfen des Inhalts unter jene setzen, die vor ihm auf dem Tisch liegen. In der Praxis bitten ironischerweise sogar viele Bankkunden den Berater, vor dem sie geschützt werden sollen, inständig darum, den oben erwähnten Fragebogen auszufüllen.
Aber damit nicht genug. Gemäss der Finanzmarktrichtlinie sind europäische Banken verpflichtet, von den Kunden ein Gesprächsprotokoll unterschreiben zu lassen. Das soll die Kunden schützen, führt jedoch ebenfalls zum gegenteiligen Effekt. Denn es ist klar: Mehr rechtsgültige Papiere helfen im Grundsatz jener Seite, die mehr Anwälte beschäftigen kann.
Dies sei illustriert am Beispiel des oben erwähnten «Barrier Reverse Convertible». Nachdem der Bankberater, der eigentlich Verkäufer ist, den hohen Coupon zur Renditeoptimierung angepriesen hat, zeigt sich der eigentlich konservative Anleger plötzlich interessiert. So viel Rendite für so wenig Risiko, unglaublich! Er bekommt den Prospekt vorgesetzt, in dem steht, das Produkt eigne sich besonders mit Blick auf die Erwartung seitwärts tendierender Märkte; ohne Berührung der Barriere werde der Gesamtbetrag zuzüglich des Coupons zurückbezahlt; im Falle eines Berührens der Barriere werde das Produkt zum «Reverse Convertible»; das Verlustrisiko sei geringer als bei einer Direktanlage in den Basiswert, und die drei Basiswerte ermöglichten einen höheren Coupon oder eine tiefere Barriere. Alles klingt für den Anleger maximal ungefährlich, und er unterzeichnet dann das Dokument, das später belegen wird, dass er mittels Prospekts über die Risiken informiert worden ist.
Das Gute daran: Damit ist dem Gesetz Genüge getan. Nicht aber der Berufsethik, denn es muss für den Berater offensichtlich sein, dass der konservative Anleger das enthaltene Kursrisiko nicht verstanden hat. Dieses versteckt sich in der Angabe, das Produkt werde im Falle eines Berührens der Barriere zum «Reverse Convertible». Wenn also der Kurs einer der drei Bankaktien genügend einbricht, macht der Anleger einen grossen Verlust – dann ist auch der «sichere» Coupon nur ein kleiner Trost.
Diesem regulationslastigen «Problemlösungsansatz» liegt ein spezifisches Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger zugrunde, das dem schweizerischen Staatsverständnis eigentlich zuwiderläuft. Kurz: der Bürger glaubt eher den Anweisungen der Behörden (den staatlichen Experten) als seinem eigenen Verstand. Dem Gesetz Genüge zu tun, heisst in diesem Fall nichts anderes, als zu unterschreiben, dass es andere besser wissen als man selbst. Die allumfassende Detailregulierung dient dem kontrollierenden Beamtenapparat dazu, die eigene Existenz zu rechtfertigen, indem dieser den unmündigen Bürger nicht (nur) vor andern, sondern vor allem vor sich selbst schützt. Der Bürger ist nicht in der Lage, das Beste für sich zu wollen; er kann jedoch groteskerweise mit seiner Stimme die richtigen Politiker wählen, die ihn dann umsorgen. Die Grundlogik scheint klar: In einer komplizierten Welt wissen Spezialisten am besten, was für den Bürger gut ist. Deshalb wird von Gesetzes wegen der Umgang mit der komplexen Anlagewelt an Spezialisten – Beamte, Revisoren, Berater – delegiert. Diese produzieren dann nach jedem Anlageunfall noch komplexere Regeln und umfassendere Standards, weil das vorherige Set an Regelungen offensichtlich nicht strikt genug war. Je mehr reguliert wird, desto klarer wird, dass noch immer zu wenig reguliert wird.
Wohin führt dieser sich selbst befruchtende Regulierungsdrang? Der Anleger wird entmündigt und kennt seine Rechte gar nicht mehr. Der Produkteanbieter hingegen lebt nach dem Motto: Erlaubt ist, was nicht explizit verboten ist. Verboten ist der Verkauf nur, wenn die Eignung einer Anlageempfehlung nicht gegeben ist. Dass sie scheinbar gegeben ist, bestätigt der Kunde schriftlich. Leider ist es oft kaum möglich zu prüfen, ob beispielsweise der Käufer des «Barrier Reverse Convertible» diese komplexe Risikobombe wirklich verstanden hat. War ihm wirklich bewusst, dass ein ökonomisch unzweckmässiges Portfolio mit Klumpenrisiken entstehen kann, die Unsicherheit der zugrundeliegenden Marktprognose gross ist und die «Worst-of»-Struktur einer puren Antithese zur sinnvollen Diversifikation entspricht?
Rasch kehrte bei diesem Anleger Ernüchterung ein, als er beim Einbruch des Aktienmarktes die schlechteste der drei Bankaktien angedient erhielt, und zwar zu einem Preis, der weit über dem Marktkurs lag. Wenn die emittierende Bank in Konkurs gegangen wäre, hätte er gar das volle Gegenparteirisiko getragen und sein ganzes Geld verloren. Weil er in mehrere ähnliche Produkte investiert hatte, sass er mitten in der Finanzkrise gleichsam unverhofft auf einem viel zu teuer eingekauften Portfolio an maroden Finanztiteln.
Vollkaskomentalität
Was ist nun die Konsequenz für den regulierenden Staat? Der Staat selbst geht mit einer allumfassenden Detailregulierung ein erhebliches Risiko ein, denn auch in Zukunft werden mit Sicherheit Anlageunfälle geschehen. Diese Unfälle halten die Anleger – ob selbstverschuldet oder nicht – nun dem Staat vor, weil die Einzelfallregulierung und die Finanzmarktüberwachung dem Bürger suggerieren, alles sei sicher und staatlich geprüft. Der Staat wird nun Ziel von Schadenersatzklagen. Die Vollkaskomentalität wird dadurch weiter perfektioniert, und Eigenverantwortung bleibt ein längst vergessenes Wort für ewiggestrige Anleger. Der gesunde Menschenverstand erinnert uns hingegen daran, dass nur jener Anleger, der einem möglichen Schaden ausgesetzt bleibt und auch in diesem Wissen handelt, die Angebote im Markt auf Herz und Nieren prüft. Oder anders gesagt: eine Detailregulierung führt letztlich zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Banken- und Finanzmarktkrisen und erhöht somit langfristig die Risiken für jene Anleger, die sie zu schützen beansprucht.
Der beste Schutz des Anlegers beruht noch immer auf dem Vertrauen in seinen eigenen Verstand: Er kauft nur, was er versteht. Entweder versteht er komplexe Produkte und kann für sich selbst entscheiden, ob er die damit verbundenen Risiken eingehen will, oder er meidet solche Black-Box-Konstrukte konsequent.
Komplexität reduzieren durch Wissen oder Vermeiden, das ist die Lösung. Wer Komplexität vermeidet, bleibt unabhängig von Spezialisten. So hätte der Anleger statt des Sammelsuriums an «Barrier Reverse Convertibles» ein diversifiziertes und erst noch kostengünstigeres Portfolio aus soliden Aktien und erstklassigen Anleihen kaufen können. Die Risiken sind dort transparent und auch für den Laien verständlich: Ein Anteil an Aktien von 80 Prozent ist offensichtlich risikoreicher als einer von 20 Prozent. Wenn der Anleger hingegen trotz guter Informationslage glaubt, mit dem Coupon eines wundersamen Finanzprodukts 12 Prozent pro Jahr «mit Sicherheit» einstreichen zu können, und dabei Geld verliert, so hat er sich entweder getäuscht oder Pech gehabt – beides ist legitim und führt zu einem Lerneffekt.
In einer Demokratie, zumal in einer direkten, ist die Mündigkeit der Bürger – und somit zwangsläufig der Anleger – per definitionem vorausgesetzt. Es wäre geradezu grotesk, den Bürger in Abstimmungen über Milliardenprojekte zu befragen, die auch andere betreffen, ihn jedoch beim Kauf eines Finanzproduktes von ein paar Tausend Franken, der nur ihn selbst betrifft, zu bevormunden. Oder will der Staat seinen Bürgern beim Abschluss des komplexen und potentiell äusserst kostspieligen Kontrakts der Ehe bald ebenfalls zur Seite stehen?
Der mündige Bürger weiss mit seiner Freiheit umzugehen, sofern man ihm diese Kompetenz nicht erfolgreich abtrainiert. Er ist mit gesundem Menschenverstand ausgestattet und er lernt aus seinen Fehlern. Dies kann er allerdings nur, wenn er einerseits frei entscheiden kann und anderseits die Konsequenzen seiner Entscheidung tragen muss – unabhängig davon, ob sie ihm passen oder nicht.
Aufgabe des Staates
Den (Selbst-)Schutz des Anlegers kann der Staat durchaus fördern, wenn er wirklich will. Er kann – erstens – den gesunden Menschenverstand trainieren, d.h. durch die Aufnahme einer elementaren Grundausbildung über wirtschaftliche Zusammenhänge – wie jenen zwischen Risiko und Rendite – in den Lehrplan die finanzielle Mündigkeit der heranwachsenden Bürger gewährleisten. Zweitens kann er mittels einer zweckmässigen Rahmenregulierung für die notwendigen Entscheidungsgrundlagen sorgen und Informationsasymmetrien zwischen Anbieter und Abnehmer abbauen. Statt einer umfassenden Einzelfallregulierung bedarf es in Analogie zur angelsächsischen «Prudent Investor Rule» einer «Prudent Advisor Rule». Diese ist am besten allgemein gehalten gemäss dem Grundsatz: Zulässig ist, was zweckmässig ist – und zwar aus der Optik einer sachkundigen und sorgfältig agierenden Person. Dabei ist die volle Transparenz hinsichtlich direkter und indirekter Kosten sicherzustellen, damit der Käufer die Anreize des Verkäufers kennt. Dieser wiederum muss sich allein schon aus berufsethischen Gründen so verhalten, als würde er mit eigenem Geld hantieren, und sich stets sicher sein, dass die ökonomischen Grundprinzipien eingehalten sind. Dies stärkt die Eigenverantwortung auf beiden Seiten und bewahrt den Marktteilnehmern den nötigen Handlungsspielraum.
Wer gegen diese Prinzipien verstösst, wer also seine Freiheit zum Schaden anderer ausnützt, darf nicht mit Milde rechnen. Das konsequente und rasche Verfolgen von Missbrauch durch die Strafbehörden ist wichtig. Hierin läge der wichtigste Beitrag des Staates zur Stärkung der Rechte der Anleger. Angesichts der langen Dauer zwischen Anlagebetrugsfällen und Anklage dürfte die Schweiz hier mehr Handlungsbedarf haben als bei der Erhöhung der Regulierungsdichte nach europäischem Vorbild.
Ein effizienter Staat macht nicht möglichst viele, sondern möglichst gute Regeln – und setzt diese konsequent durch. Dies bewahrt dem Staat langfristig die Glaubwürdigkeit und dem Bürger die Freiheit.