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Vom Verlust der Langeweile

Wissen Sie noch, wie es ist, wenn nichts ist? Der Tag endlos und das Handy fern ist?
Die Leere, die wir zuweilen herbeisehnen, verdammten frühere Literaten als Lethargie und ausbleibenden Lebenswillen – und führten Gewalt und Krieg ins Feld, um ihn neu zu erwecken.

In einer frühen Ausgabe der Zeitschrift «Jugend» aus der Zeit um 1900 dichtete ein junger Mann von seiner Langeweile, die ihn sonntagnachmittags daheim bei seinen bürgerlichen Eltern überkommt: Draussen schneit es, der Vater redet von nichts als Steuern, die Mutter giesst behäbig den Gummibaum; er aber träumt von «unendlichen Prärien, Skalps, Bärenschinken und Old Shatterhand». Solche Momente sind rar geworden, nur noch selten sitzen wir sonntags auf dem Sofa und können unsere Zeit nicht füllen. Meist verlocken das Netz, Wii, Netflix oder die Angry Birds auf dem Pad, werden Whatsapp-Texte geschrieben, wird getweetet, geskypt, gegoogelt, geposted. Wir sind nur noch selten unbeschäftigt und teilnahmslos, sondern vielmehr in einem Zustand permanenter Konnektivität und Empfangsbereitschaft. Doch mit der Leere der Langeweile sind ganze Kontexte, Erfahrungsweisen und Körpergefühle verloren gegangen, deren Erleben einst einen Grossteil von Kunst und Literatur ausmachte.

«Allein zu sein, stumpfsinnig, ohne Gedächtnis, am Meer», beschreibt D. H. Lawrence in seinem Roman «Kangaroo» (1923) die Langeweile des Protagonisten Richard an einem australischen Strand. «So alleine, so abwesend und so präsent wie ein Aboriginal, dunkel auf dem Sand in der Sonne. Das seltsame Wegfallen von allem. Und dort versank er in Gleichgültigkeit. Weit weg, weit weg, als wäre er auf einem anderen Planeten gelandet, wie ein Mensch nach dem Tod landen könnte. […] Alles, was ihm einst so viel bedeutet hatte, verronnen. […] Die Landschaft? – er scherte sich keinen Deut um die Landschaft. […] Menschlichkeit? – es gab keine. Denken? – wie ein Stein ins Meer gefallen. Die grosse, glanzvolle Vergangenheit? – abgetragen, zerbrechlich wie eine brüchige, am Ufer angespülte Muschelhülse.» Langeweile bedeutet für Lawrence nicht genussvolle Musse, sondern desinteressierte Beschäftigungslosigkeit, Entfremdung und fehlende Neugierde an der Welt, Apathie und Gleichgültigkeit Gegenwart und Vergangenheit gegenüber.

Im 19. Jahrhundert von Künstlern wie Joris-Karl Huysmans oder Aubrey Beardsley kultiviert, ist die desinteressierte Abkehr von der Welt, der «Ennui», zugleich von vielen Schriftstellern als Schlaffheit kritisiert worden: Dandies des neunzehnten Jahrhunderts, wie die literarische Figur des Dorian Gray in Oscar Wildes gleichnamigem Roman oder der französische Dichter Charles Baudelaire, sahen sich der Neugierde an der Gegenwart, der Suche nach Modischem und neuen Trends verpflichtet.
Langeweile bedeutete für sie eine sündhafte Willenlosigkeit gegenüber der Welt. In der Menagerie menschlicher Sünden, schrieb Baudelaire in seinem berühmten Langeweile-Gedicht «An den Leser» (1857), seien zwar viele Laster augenfällig, ja brüllend laut und ins Auge stechend wie Panther oder Schakale, keines aber sei bösartiger als die alles verschlingende, alles zum Stillstand bringende Langeweile. Der «Ennui» sei hinterlistig wie ein Insekt, dessen Stich der Mensch sich nicht erwehren könne. Den Befallenen mache er «willenlos», versetze ihn in Schlappheit und träge Bewegungslosigkeit.

 

Die Sünde des Nichts

Indem sie den Ennui als Sünde sahen, reihten sich die Kritiker in eine lange Tradition ein. Während die Langeweile in der Moderne als ein den Menschen mitkonstituierendes notwendiges Übel gilt, trug sie im Mittelalter das Stigma sündhafter Untätigkeit. Sie wurde als typische Verfassung der oberen, im Gegensatz zu Bauern und Kaufmännern «unbeschäftigten» Gesellschaftsschichten Adel und Klerus angesehen. Auch «Mönchskrankheit» oder Acedia genannt, überkam die Langeweile Mönche vor allem in der Mittagspause. Der im 5. Jahrhundert lebende Abt Cassian de Marseilles beschreibt diese Momente als: «der Traurigkeit ähnelnd […]. Sie befällt die Mönche vor allem um die sechste Stunde herum [mittags]. Wenn sie einmal einen Elenden ergriffen hat, erfüllt sie ihn mit Abscheu vor seiner Umgebung, Ekel mit der Zelle, und […] macht ihn in seinen vier Wänden faul und bewegungslos angesichts all der Arbeit, die er zu erledigen hat […]. Dann erwecken die fünfte und sechste Stunde eine solche Schlappheit und eine derartige Gier nach Essen in ihm, dass er sich so erschöpft fühlt, als habe er eine lange Reise hinter sich. […] er betrachtet die Sonne, als würde sie zu langsam untergehen, […] so teilnahmslos und leer ist er geworden.»

Hingegen bedeutete für den Philosophen Arthur Schopenhauer nicht die Mittagspause, dafür aber der Sonntag Langeweile. Dass der Sonntag als Ruhetag Tag der potentiellen Langeweile ist, hängt mit dem abrupten Wegfall der Arbeit und der Beschäftigung in der Freizeit zusammen. Zeiten der Beschäftigungslosigkeit – das Ausruhen am Wochenende oder in den Ferien, Krankheit und Bettruhe, Arbeitslosigkeit – bergen die Gefahr der Langeweile. Auch für Schopenhauer bedeutet Langeweile Willenlosigkeit gegenüber der Welt, das Ausbleiben des «beharrlichen Willens zum Leben» und das starre, «leere Sehnen» der «Lethargie».

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1813–1855) entwarf für die Langeweile das Bild des Toten Meeres: «Meine Seele gleicht dem Toten Meere, über das kein Vogel fliegen kann; hat er den halben Weg zurückgelegt, so stürzt er matt hernieder in Tod und Untergang.» Das Tote Meer ist das von unfruchtbarem Kargland umgebene windstille Meer, auf dem nichts geschieht, keine Schiffe segeln können, die Vögel nicht fliegen und dessen Tiefen kein Mysterium mehr bereithalten. Auch Friedrich Nietzsche nennt die Langeweile die «Windstille der Seele, die einer glücklichen Fahrt und lustigen Winden vorausgeht»; fehlender Wind und stille Luft bedeuten Stillstand. Dieses Bild entsteht aus dem Gefühl heraus, mit der Langeweile in einem zähen, ewigen Jetzt gefangen zu sein, ohne zeitliche Progression, ohne Neues und ohne Zukunft.

Die Windstille verweist auf einen Raum, in dem Leere herrscht, nichts sich bewegt und den Blick fesselt. Baudelaire spricht deshalb von der Langeweile als «Ausgeburt der dumpfen Teilnahmslosigkeit», und Martin Heidegger beschrieb diese Strukturmomente der Langeweile, die er «tiefe Langeweile» nennt, mit den Begriffen «Leergelassenheit» und «Hingehaltenheit». Leergelassenheit ist die wesentliche Erfahrung der Langeweile im Gegensatz zu der Beschäftigung mit oder Hingenommenheit von den Dingen. Während wir ständig mit Dingen beschäftigt sind, konfrontiert uns die Langeweile mit Leere. Leere bedeutet nicht die Abwesenheit von Dingen, sondern deren Vorhandenheit. Die Dinge sind da, haben aber «nichts zu bieten», so Heid-egger, sondern lassen uns gleichgültig. Dabei stehen wir den Dingen in so hohem Masse gleichgültig gegenüber, dass wir gleichermassen an sie gebunden sind. «Das Dasein findet sich so ausgeliefert an das sich im Ganzen versagende Seiende», schreibt Heid-egger. Dies bezeichnet den Zustand der Hingehaltenheit an etwas, was sich uns in all seinen Möglichkeiten darbietet, sich aber gleichzeitig versagt: alles ist da, aber unzugänglich. Das Leben liegt brach, es ist wie ein desaktiviertes Feld.

 

«Hurra, wir leben noch!»

Um das Leben zu aktivieren, aus der Stagnation der ewigen Gegenwart auszubrechen und eine neue Zukunft zu schaffen, wurden seit dem 19. Jahrhundert von Schmerz bis Wut, von Tat über Aggression bis Krieg verschiedenste Formen des Erlebens, Handelns und Empfindens hochgehalten. Kierkegaard beispielsweise beschreibt in seinem Buch «Entweder/Oder» (1843), wie sich die Langeweile auf körperlicher Ebene auswirkt. «Ob man mir gleich alle Herrlichkeiten der Welt böte oder alle Pein der Welt, es rührt mich gleich sehr, ich würde mich nicht auf die andere Seite kehren, weder um sie zu empfangen noch um sie zu fliehen», heisst es. Schmerz hingegen böte ihm eine willkommene Erlösung aus der Langeweile. So habe sich – Kierkegaard weiter – Prome-theus, obwohl er an den Felsen gekettet war, nicht gelangweilt, da er unaufhaltsamen Schmerz durch den Geierbiss verspürte: «Der Geier frass doch fort und fort an des Prometheus Leber; auf Loki träufte fort und fort doch Gift hernieder; es war doch eine Unterbrechung, wenn auch einförmig.»

Der Analytiker Erich Fromm steigert diesen Gedanken noch: Die Langeweile sei nicht nur Wunsch nach Schmerz, sondern Hauptquelle von Aggression und Zerstörung. Das gelangweilte Individuum, führt Fromm in «Anatomie der menschlichen Destruktivität» (1973) aus, richte Aggressionen gegen die Umwelt, die es als unzugänglich und feindlich erlebe. Dann scheint Gewalt – oder die Gewaltphantasie, wie sie die gelangweilte Lady Dedlock in Charles Dickens’ Roman «Bleak House» (1853) angesichts ihres gutgelaunten Zimmermädchens entwickelt – die einzig mögliche Ablenkung für den Gelangweilten. Charles Baudelaire spricht in seinem Gedicht «Die Zerstörung» (1857) von dem Dämon der Erschöpfung, der ihn in die «Einöde der Langeweile» verbanne und dort Gewaltphantasien in ihm erwecke: «Der Dämon […] führt mich […] keuchend und erschöpft von Müdigkeit, in unabsehbar öde Ebenen […] Und wirft in meine ganz verwirrten Augen besudelte Gewänder, offene Wunden und das blutige Gepränge der Zerstörung!» Erschöpfung – etwa von der Arbeit – lasse Langeweile und soziale Unzufriedenheit entstehen, schreibt gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts auch der französische Soziologe Gustave Ribaud. Dann gebe sich der Mensch «Traurigkeit, Entmutigung, Misanthropie, schuldbeladener Beschwerde gegen das Schicksal und bitteren Vorwürfen gegen die soziale Ordnung» hin. Die Langeweile stachle Menschen beizeiten zur realen Zerstörung anderer an, so sieht es der amerikanische Autor Philip Roth. Aus der Ausweglosigkeit des langweiligen Lebens heraus betrügen sie einander, wie Mickey Sabbath seine alkoholkranke Frau in «Sabbaths Theater» (1996), oder klatschen, tratschen und verleumden, manchmal gar bis in den Tod, so stellt es der Roman «Der menschliche Makel» (2000) dar.

Tatsächlich beschwören manche zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Krieg als Ausweg aus der Langeweile der bürgerlichen Gesellschaft. «Wir weben in abgeschiedenen Zeiten […] indes der Augenblick verfliesst. […] Wir spürten Sehnsucht nach Präsenz, […] und wären in das Eis, das Feuer und den Äther eingedrungen, um uns der Langeweile zu entziehen», schreibt Ernst Jünger in den «Marmorklippen» (1939) und beschreibt damit den geplanten Angriff des Volkes am See Marina gegen den «Oberförster». Nicht von allen, aber doch von vielen wurde deshalb der Erste Weltkrieg als Beginn von neuem Leben begrüsst, der Besseres und Neueres bringen würde, wenn nötig auch mit Gewalt: «Hurra, wir leben noch!», rief der Dichter Bruno Frank bei Kriegsausbruch; für den futuristischen Künstler Filippo Tommaso Marinetti bedeutete er die schon 1909 geforderte «Heilung» der Gesellschaft von Langeweile und Stagnation.

Natürlich können heutige Medien auch langweilig sein; Momente der Langeweile gibt es weiterhin. Doch scheint es, als wäre das Gefühl reiner Langeweile verloren gegangen: die Eintönigkeit als Form körperlichen Schmerzes, die absolute Willenlosigkeit zur Beschäftigung, die isolierte Entfremdung, Gleichgültigkeit und Lethargie. Mit dem Verlust der Langeweile hat sich auch das Verhältnis zum Neuen und zum Besonderen verändert. In Briefen an seine Verlobte Felice beschwerte sich Franz Kafka noch regelmässig über das lange Warten auf Antwort von ihr. Felices Briefe waren Besonderheiten, bedeuteten den Ausbruch aus Monotonie und Einsamkeit des Versicherungsangestellten. Inzwischen fehlt schlichtweg die Zeit für die zäh verrinnende Zeit der Langeweile; wie ein Google-Glass überformt die mediale Überstimulation die Monotonie des Alltags. Die Hoffnung auf das Neue ist der Gewissheit gewichen.

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