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Vom Schweigen und Staunen

Vielleicht ist es das schönste Kompliment, das man Peter Stamms Schreibkunst machen kann: klappt man seine Erzählbände zu – auch seinen neusten Band «Wir fliegen» – und sinnt dem Gelesenen nach, so erinnert sich das Gedächtnis kaum an Handlungsabläufe. Was sich festgesetzt hat, was auferstehen wird, sind einzelne Bilder und ein paar aus behutsamer Distanz […]

Vielleicht ist es das schönste Kompliment, das man Peter Stamms Schreibkunst machen kann: klappt man seine Erzählbände zu – auch seinen neusten Band «Wir fliegen» – und sinnt dem Gelesenen nach, so erinnert sich das Gedächtnis kaum an Handlungsabläufe. Was sich festgesetzt hat, was auferstehen wird, sind einzelne Bilder und ein paar aus behutsamer Distanz skizzierte Figuren. Und es ist ein latentes Grundgefühl, das seine Sätze durchdringt: ein Flair, ein wenig lastend, ein wenig herbstlich, so wie der Geruch von gefallenem Laub – ein Gefühl der Melancholie.

«Es gibt eine Welt unter uns im Stein, eine Welt voller Wunder und Geheimnisse», sagt Christoph, der Höhlenforscher, während eines Vortrags. Dann schweigt er. Die «sinnlose Schönheit» des Höhlensystems, die Geräusche des seit hunderttausenden von Jahren tropfenden Wassers – das Plätschern und Fliessen, die Rinnsale, die Felsritzen und Spalten und das immerwährende gleichgültig kalte Dunkel in den Gängen – wer es nicht selbst erlebt hat, wird es nicht verstehen. Worte reichen nicht hin, zu den Wundern und Geheimnissen, Bilder auch nicht. Die Angst vor dem Zerreden, dem Zerstören eines Wissens – oder soll man es

eines Ahnens nennen? –, das nur ihm gehört, lässt Christoph verstummen. Also redet er nicht weiter. Also belässt er eine Lücke in seinem Bericht und fährt fort mit dem Ausstieg aus der Höhle, mit der Rückkehr ans Licht, an die Sonne, zu den Farben und Gerüchen.

«Wir fliegen», die Titelgeschichte über ein Kinderkrippen-Kind, welches, von den Eltern vergessen, nicht abgeholt wird und «Kinder Gottes», eine «Neu-Bethlehem-Geschichte», gehören mit zu den schönsten neuen Erzählungen Peter Stamms. Und da ist vor allem die letzte Geschichte des Buches, «In die Felder muss man gehen…» – ein eigentlicher Credo-Text. Die in Erinnerung gebliebenen zwei Bilder dazu zeigen einen Mann, einen Maler, allein in einer südlichen Landschaft, skizzierend, vor sich einen Jungen, den Kopf ihm zugewandt, fragend. Und diesen Jungen, am Boden kauernd, spielend mit einem Stück Holz, der Mann daneben stehend, fragend. Die Fragen und die Antworten sind knapp und präzise auf den einen, entscheidenden Punkt zugespitzt: «Warum tun Sie das, Monsieur?», fragt der Junge, und stellt damit die schrecklichste aller Fragen, «Die Frage, die man nicht einmal sich selbst stellen darf». Weil er ein Maler sei, nichts als ein Maler, denkt der Mann. Einer, der malen möchte, so wie Mozart komponiert hat – so, dass keiner mehr fragt.

So, dass keiner mehr fragt. Nicht danach, weshalb es ihm, dem Maler, um die grösstmögliche Genauigkeit gehe – aber nicht um die Genauigkeit der Abbildung, sondern um die grösstmögliche Genauigkeit dessen, was nur er sehen kann. Es geht um die Erschaffung der eigenen Wirklichkeit so, wie das Stück Holz in den Händen des kleinen Jungen zur Kutsche gerät. So, wie Peter Stamms Wirklichkeit sich in seinen schönen, beeindruckenden Sprachbildern zeigt. Lärmlos verhalten, verzichtend auf Gags und Plots. Sollte man vielleicht sogar auf ein altes Wort zurückgreifen und von Demut sprechen?

vorgestellt von Silvia Hess, Ennetbaden

Peter Stamm: «Wir fliegen». Frankfurt am Main: S. Fischer, 2008.

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