Vom Schubsen und Stolpern
Über die gängigsten «Entscheidungsfehler» des Homo sapiens – und was die Privatwirtschaft damit anfängt.
Angenommen, jemand biete Ihnen eine Auswahl zwischen einem gesunden Snack (Apfel) und einem ungesunden Snack (Schokoriegel) an, beides gratis, aber Sie bekommen das Produkt erst nächste Woche. Wie entscheiden Sie? Wenn Sie wie die meisten Menschen sind, dann wählen Sie den Apfel. So wählten in einer Studie 74 Prozent der Probanden den Apfel für ihren geplanten Snack. Allerdings entschieden sich 70 Prozent für den Schokoriegel, wenn das jeweilige Produkt sofort verfügbar war.1
Dies ist ein Beispiel dafür, was in den Wirtschaftswissenschaften und der Psychologie als zeitinkonsistentes Verhalten bezeichnet wird. Darunter versteht man ein Verhalten, bei dem das Individuum (fälschlicherweise) von einem anderen Verhalten des «zukünftigen Selbst» ausgeht, im Vergleich zu dem tatsächlich gewählten Verhalten in der Zukunft. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die geringe Sparquote für die freiwillige Altersvorsorge, insbesondere bei weniger gut verdienenden Angestellten. Die Notwendigkeit privater Altersersparnis, insbesondere in Volkswirtschaften mit weniger stark ausgebauten Sozialversicherungen, ist den meisten Erwerbstätigen bekannt. Dennoch ist die Sparquote solcher Personen in der Regel niedrig, und sie steigt auch nicht bei Einkommenserhöhungen. Dies lässt sich leicht als Ergebnis zeitinkonsistenten Verhaltens herleiten: Sparen bedeutet weniger verfügbares Geld für Gegenwartskonsum, der einen unmittelbaren Nutzen und Lebensqualität verspricht. Man geht davon aus, dass man dann in Zukunft schon eher zu Verzicht bereit sein und entsprechend mehr sparen wird – umso eher nach einer Einkommenserhöhung, also muss das Sparverhalten heute nicht angepasst werden. Gleichermassen glaubt man, den gesunden Apfel in einer Woche dann schon zu essen, während man heute lieber zur Schokolade greift.
Errare humanum est
Zeitinkonsistentes Verhalten ist ein Beispiel für menschliche Entscheidungsfehler, ein Hauptforschungsgegenstand der Verhaltensökonomie. Zwar hat schon die klassische Ökonomie die Existenz von Entscheidungsfehlern eingeräumt, allerdings mit dem Einwand, dass solche Fehler unsystematisch seien. Gemäss Milton Friedman verhalten sich z.B. Konsumenten, «als ob» sie einem rationalen Kosten-Nutzen-Kalkül folgten, so dass Abweichungen davon rein zufällig sind. Zufällige Fehler sind nicht vorhersehbar und sollten daher die Märkte nicht systematisch beeinflussen können. Somit bedarf es keiner «Theorie der Fehler» in den Wirtschaftswissenschaften.
Eine wichtige Erkenntnis war daher, dass Entscheidungsfehler durchaus systematischer Natur sein können. Zeitinkonsistentes Verhalten ist nur ein Beispiel dafür. Fragt man Studierende: «Wie glücklich sind Sie?», und anschliessend: «Wie häufig haben Sie ein Date?», ergibt sich ein schwacher statistischer Zusammenhang zwischen den genannten Antworten. Wird aber die Reihenfolge der beiden Fragen umgedreht, lässt sich plötzlich ein starker statistischer Zusammenhang zwischen den Antworten nachweisen – bei identischem Inhalt der Fragen.2 Dasselbe Muster ergibt sich bei verheirateten Paaren, wenn die Dating-Frage durch «Wie häufig haben Sie Sex?» ersetzt wird. Solche Beobachtungen werden gemeinhin mittels des Anchoring-Effekts erklärt. Demnach dient die jeweils erste verfügbare Informationseinheit als Anker für die Evaluation aller Folgeinformationen. So setzt die Frage nach der Dating-Häufigkeit einen Anker, anhand welchem die Folgefrage nach dem Wohlbefinden evaluiert wird: Wenn ich schon lange kein Date mehr hatte, dann muss ich ja ziemlich unglücklich sein. Ein noch erstaunlicheres Beispiel ist, dass Probanden bei Schätzfragen im Mittel einen zu hohen oder zu tiefen Wert angeben, je nachdem, ob sie zuvor mit einer grossen oder kleinen Zahl konfrontiert waren – obwohl ihnen bewusst ist, dass die davor präsentierte Zahl keinen Zusammenhang mit der Schätzfrage ausweist.
«So glauben viele Fans beim Basketball an die ‹Hot Hand› ihres Stars:
Wenn dieser einige Würfe in Serie einkorben kann, dann muss doch
die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Treffers grösser sein
als seine durchschnittliche Trefferwahrscheinlichkeit.»
Ähnlich dazu gehen Menschen bei der Evaluation gewisser Gegebenheiten häufig heuristisch vor. Angenommen, zwei verschiedene Münzen mit Kopf (K) und Zahl (Z) werden jeweils viermal geworfen, wobei Münze A in «ZZKZ» und Münze B in «KKKK» resultiert. Dann sehen die Leute viel eher Münze A als «fair» an – obwohl aus statistischer Sicht auch bei einer perfekt fairen Münze (50 Prozent Chance für K oder Z) beide Sequenzen gleich wahrscheinlich sind. Eine Erklärung für die abweichende Beurteilung ist, dass Menschen eine spezifische Repräsentation eines Zufallsprozesses evozieren, um die Beobachtungen einzuordnen. Zufall bedeutet Unvorhersagbarkeit und Chaos, weswegen «ZZKZ» viel zufälliger aussieht als das wohlgeordnete «KKKK». Die Tendenz, in kleinen Stichproben bei «KKKK» statt Zufälligkeit ein Muster erkennen zu wollen, wird als Clustering-Illusion bezeichnet. So glauben viele Fans beim Basketball an die «Hot Hand» ihres Stars: Wenn dieser einige Würfe in Serie einkorben kann, dann muss doch die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Treffers grösser sein als seine durchschnittliche Trefferwahrscheinlichkeit. Statistische Untersuchungen konnten jedoch keinen solchen Zusammenhang nachweisen.3
Menschen haben auch die Tendenz, an der aktuellen Situation festhalten zu wollen. Zahlreiche empirische Untersuchungen belegen einen solchen Status-quo-Bias und den damit verwandten Default-Effekt. Letzterer besagt, dass Menschen häufig jene Option erhalten, die keine aktive Entscheidung erfordert. Beispielsweise lassen Handybesitzer häufig ihre Fernfunkverträge automatisch verlängern, ohne nach möglichen Kosteneinsparungen zu suchen. Ebenso halten viele Personen an ihren bisherigen Anlagefonds fest, auch wenn diese nicht optimal sind.4
Muster im Chaos?
Die Verhaltensökonomie gibt sich nicht mit der blossen Kartierung der verschiedenen Verhaltensanomalien zufrieden. Wie jede reduktionistische Wissenschaft – und der Clustering-Illusion zum Trotz – versucht sie, Muster in den verschiedenen Beobachtungen zu erkennen, um möglichst viele Phänomene aufgrund möglichst weniger Annahmen zu erklären. Ein bekannter Erklärungsansatz ist durch die Prospect Theory gegeben, die anders als das Rationalmodell davon ausgeht, dass die Werte, die Menschen den Objekten zuordnen, kontextabhängig seien. Besonders bekannt ist das Prinzip der Verlustaversion. Dieses besagt, dass Menschen einem Objekt, das sie bereits besitzen, einen höheren Wert zuschreiben, als wenn sie exakt dasselbe Objekt noch erwerben müssten. Verlustaversion prognostiziert eine gewisse Trägheit im menschlichen Verhalten, was eine Erklärung für Status-quo-Bias oder den Default-Effekt liefert.
Menschliches Verhalten wird entscheidend durch das Gehirn gesteuert. Somit ist es naheliegend, die beobachteten Muster des menschlichen Verhaltens auf grundlegende Eigenschaften der menschlichen Wahrnehmungs- und Denkprozesse zurückzuführen.
Das Janusgehirn
In Psychologie und Neurowissenschaft wird gemäss der Dual Process Theory menschliches Denken in zwei fundamental unterschiedliche Systeme aufgeteilt. System 1 denkt «schnell, intuitiv und automatisch», System 2 dagegen «langsam, reflexiv und analytisch». System 1 schaltet sich vornehmlich ein, wenn Entscheide schnell gefällt werden müssen oder wenn die begrenzte menschliche Aufmerksamkeit durch andere Faktoren absorbiert wird. Demgegenüber ähnelt die Informationsverarbeitung durch System 2 dem Prinzip der Optimierung, das den meisten Wirtschaftsstudenten am Beispiel der Konsumentscheidung im Fachbereich Mikroökonomie eingeimpft wird. System 1 funktioniert assoziativ und verwendet Daumenregeln, Heuristiken und Analogien bei der Entscheidungsfindung. Solche Prozesse sind anfällig für Verzerrungen, wie sie durch Anchoring oder Clustering beschrieben werden. In der Tat kann jeder Entscheidungsprozess, der prozedural einfacher ist als Rationalität, durch die reine Darstellung der Auswahloptionen («Framing») beeinflusst werden.5
System 1 ist auch anfällig für Aufmerksamkeitseffekte: Die Alternative, die am meisten Aufmerksamkeit anzieht, wird am ehesten gewählt, auch wenn es nicht die beste verfügbare Alternative ist. Böse Zungen würden so die Effektivität von Marketing begründen.
Trotz möglicher Fehler ist ein funktionierendes System 1 von evolutorischem Vorteil. Wenn Ihr Auto auf eine Klippe zurast, sollten Sie das Steuer herumreissen oder auf die Bremse treten (oder beides) und überleben; das Ausführen einer Berechnung des idealen Kurvenradius unter Berücksichtigung der Trägheit beim Bremsvorgang würde zur Katastrophe führen. Jedoch hat möglicherweise diese evolutorische Notwendigkeit dazu geführt, dass System 1 manchmal aktiviert wird, wenn eigentlich System 2 erforderlich wäre.
Der nette Schubs
Wie können menschliche Entscheidungsfehler vermieden oder mindestens reduziert werden? Eine theoretische Möglichkeit wäre, das menschliche Denken selbst zu ändern. Da sich unser Gehirn über Jahrtausende entwickelt und gefestigt hat, ist der Erfolg eines solchen Ansatzes fragwürdig, insbesondere in der kurzen Frist. Eine weitere Möglichkeit wäre, entsprechende Verhaltensgesetze oder -gebote zu erlassen und somit in die Wahlfreiheit der Individuen einzugreifen. So könnte man Schülern in einer Kantine gebieten, 2/3 ihres Tellers mit Gemüse oder Salat zu beladen, oder Autofahrern vorschreiben, sich anzuschnallen. Wiederum ein anderer Ansatz ist, die Struktur des menschlichen Denkens auszunutzen, ohne die Wahlfreiheit des Individuums zu beschränken.
Diesen Weg verfolgen Richard Thaler und Cass Sunstein mit dem Prinzip des Nudging («Schubsen»). Der Hauptgedanke dabei ist, die Ergebnisse des menschlichen Denkprozesses, insbesondere der Eigenarten von System 1, durch eine spezifische Ausgestaltung des Auswahlprozesses in einer erwünschten Art zu beeinflussen. Die Konstruktion einer Entscheidungssituation wird dabei als Choice Architecture bezeichnet. Ein Choice Architect wendet seine Kenntnis der von System 1 verursachten Verhaltensfehler an, um das Entscheidungsproblem möglichst so zu «framen», dass die gewünschte Handlung freiwillig gewählt wird. So würde er im Beispiel der Kantine, im Wissen um die Aufmerksamkeitseffekte, Salat oder Gemüse in prominenter Position am Anfang der Fassstrasse positionieren, Süssgebäck und Schokolade jedoch weit abseits davon. Ein weiteres Beispiel für einen Nudge ist die Einführung einer Lebensmittelampel, die in Analogie zum Strassenverkehr mit «Rot» vor stark zucker- oder fetthaltigen Lebensmitteln warnt, um so den Anteil an ungesunden Lebensmitteln im Warenkorb der Menschen zu reduzieren. Ein solcher «sanfter» Ansatz kontrastiert mit ökonomischen Lenkungsinstrumenten, wie einer Zuckersteuer, welche die ökonomischen Anreize (Preise) verändern.
«Auch libertärer Paternalismus ist noch immer Paternalismus.»
Ein besonders effektiver Nudge entsteht, wenn man die erwünschte Option als Default etabliert. So wurde im sogenannten SMarT-Programm, einem Vorsorgevertrag in der betrieblichen Altersvorsorge, eine automatische Erhöhung der Sparquote nach einer Lohnerhöhung zur Default-Option gemacht. Diese Option oder der Vertrag ist jederzeit kündbar, bedarf aber einer expliziten Handlung des Sparers. Im Praxistest mit einer US-Firma konnte das SMarT-Programm über die Studiendauer von 40 Monaten die Sparquote im Mittel von unter 4 auf über 13 Prozent erhöhen, bei einer freiwilligen Teilnahme von 78 Prozent der Arbeitnehmer. Das SMarT-Programm operationalisiert mit dem Default-Effekt jene Eigenschaft, die sonst für die tiefe Sparquote verantwortlich ist. Ähnlich wies eine Studie eine Verdoppelung der für die Organspende registrierten Personen nach, wenn sich Personen aktiv als Spender abmelden mussten.6
Gemäss Thaler und Sunstein sind die typischen Charakteristika einer Entscheidungssituation, wo Nudging wirksam sein kann: Komplexität, Seltenheit und kein direktes Feedback zur Qualität der Entscheidung. Letzteres gilt vor allem, wenn der Zeitpunkt der Entscheidung und die resultierenden Konsequenzen weit auseinanderliegen. Der Grund, weswegen Nudging funktioniert, ist genau derselbe, weswegen Menschen in erster Linie Entscheidungsfehler begehen. Der Nudge «schubst» uns sanft über jene Hindernisse, an denen wir sonst stolpern würden.
Die Beurteilung der Effektivität von Nudging erfordert eine normative Betrachtung – man muss wissen, was «besser» ist. Aus akademischer Sicht liegt hier der Hund begraben. Aus dem traditionellen Modell des «Homo oeconomicus» folgt, dass die Entscheidungen von Individuen deren wahre Präferenzen offenbaren. Diese Erkenntnis bildet die Grundlage, um beobachtungsbasiert Aussagen darüber treffen zu können, was «besser» für ein Individuum ist. Die Tatsache, dass ein Nudge Einfluss auf die Entscheidung von Individuen haben kann, widerlegt aber genau dieses Modell. Wenn nun folglich aber nicht mehr das beobachtbare Verhalten allein Grundlage für die Beurteilung sein kann, was einer Person nützt und was nicht, dann fehlt auch das theoretische Fundament, auf dessen Basis beurteilt werden kann, ob eine Person durch einen Nudge wirklich bessergestellt wird. Oder anders gesagt: Auch libertärer Paternalismus ist noch immer Paternalismus.7
Nudging in der Privatwirtschaft
Seit Adam Smith betonen Ökonomen, dass Eigennutz und individuelles Gewinnstreben aller Akteure in einer (perfekt kompetitiven und vollständigen) Marktwirtschaft wie durch eine «unsichtbare Hand» gesteuert zu einem kollektiv wünschenswerten Ergebnis führen. Das Wissen um Nudging und um die zugrunde liegenden menschlichen Denkprozesse ist grundsätzlich frei verfügbar. Eine zentrale Frage drängt sich somit auf: Wie geht der Markt mit diesem Wissen um? Können wir uns auch hier auf die «unsichtbare Hand» verlassen?
Firmen, denen es nicht hinreichend gelingt, Erträge aufgrund der Entscheidungsprinzipien der Konsumenten (ob fehlerhaft oder nicht) zu generieren, werden in einem strengen Wettbewerb nicht dauerhaft überleben können.8 Da Entscheide durch Nudges beeinflusst werden können, sollten wir davon ausgehen, dass Firmen zum eigenen Wohl als Choice Architects in Erscheinung treten wollen. Dafür gibt es viele Beispiele:
- Wer schon einmal ein Occasionsauto bei einem Händler gekauft hat, kennt wohl das «Discounting»-Phänomen. Bei den meisten Autos ist ein Basispreis angegeben, zusammen mit einem separaten Discount. Für den Käufer ist nur der Nettopreis massgebend – warum also nicht direkt diesen nennen? Der Autokauf erfüllt alle Kriterien eines Nudges: Er ist selten, komplex und Feedback gibt es erst später (wenn überhaupt). Gemäss Anchoring-Effekt wird der Discount (irrationalerweise) als eine Ersparnis interpretiert, was die Kauf- oder Zahlungsbereitschaft des Konsumenten erhöht.
- Firmen instrumentalisieren den «Default-Bias», indem sie an ein «Probeabo» ein reguläres Abo anbinden, das nur durch aktiven Widerruf der Konsumenten gekündigt wird.
- Casinos verwenden häufig digitale Anzeigetafeln, welche die an den verschiedenen Roulettetischen zuletzt gefallenen Zahlen und Farben ausweisen. Natürlich kann dies im Sinne einer transparenten Informationspolitik verstanden werden. Eher sind solche Tafeln aber wohl als Nudge im Sinne der Clustering-Illusion vorgesehen: Es ist doch viel wahrscheinlicher, dass bei einem Tisch mit viermal «Schwarz» jetzt endlich «Rot» folgen muss! Daher ist es doch sinnvoll, eine hohe Summe auf «Rot» zu setzen!
Die obigen Beispiele implizieren eine mögliche Umverteilung von Gewinnen von Konsumenten zu Firmen durch «firmenseitiges» Nudging. Solange Umverteilung der einzige Effekt bleibt, ist dies aus Sicht der ökonomischen Effizienz wenig problematisch. In gewissen Situationen kann Nudging allerdings auch zu Verzerrungen mit Wohlfahrtsverlusten führen. Interessanterweise kann dies insbesondere in regulierten Märkten geschehen, wie amerikanische Forscher vor kurzem gezeigt haben. Konkret können Nudges in der Gegenwart eines staatlich verordneten Basisangebots zu Verzerrungen führen, welche die Regulierung wirkungslos machen und zu allokativer Ineffizienz führen können. Dies geschieht, wenn ein Anbieter ein Premiumprodukt mittels Framings relativ zum verordneten Basisangebot besser erscheinen lässt, als es tatsächlich ist. Dieses vermeintlich bessere Premiumprodukt erlaubt eine überhöhte Preissetzung, weil die Kunden seinen Nutzen wegen des Framings überschätzen.9
Irrungen und Wirrungen
Führt das Gewinnstreben der Firmen immer zu «schlechten» Nudges aus Sicht von Konsumenten oder Gesellschaft? Nicht zwangsläufig, wie das folgende Beispiel suggeriert. Die «Nudge Unit», eine regierungsnahe Einheit in Grossbritannien, veränderte den Text des Briefes, der Personen mit ausstehenden Steuerzahlungen zugestellt wurde, und konnte damit ohne Zwang die Zahlungsmoral signifikant erhöhen. Dieser Ansatz könnte auch für die Privatwirtschaft attraktiv sein. Eine schlechte Zahlungsmoral der Kunden kostet Unternehmen Millionenbeträge, führt zu Mahnkosten und Betreibungen für Konsumenten und schafft generell aus volkswirtschaftlicher Sicht ineffiziente Schulden. Eine sanfte Intervention in der Form eines veränderten Briefinhalts könnte also für Firmen und Konsumenten sinnvoll sein.
«Nudging macht sich eine Eigenschaft menschlichen Verhaltens gezielt zunutze: Scheinbar irrelevante Änderungen in einem Entscheidungs-
problem können zu substanziellen Verhaltensänderungen führen.»
Generell stellt sich die Frage, wie der Markt mit Konsumenten, die verschiedene Formen von «Verwirrung» aufweisen können, umgeht. Profitieren Firmen immer von verwirrten Personen, oder gibt es auch Situationen, wo sie nach möglichst viel Transparenz streben? Ein neuer Aufsatz weist nach, dass die Antwort darauf entscheidend von der bereits vorherrschenden Verteilung der Meinungen der Konsumenten abhängt.10 Der Nährboden für eine strategisch beabsichtigte Verwirrung ist ein Zustand, wo viele Konsumenten in Tat und Wahrheit indifferent sind zwischen den Alternativen. Solche Indifferenz führt üblicherweise zu einem intensiven Preiswettbewerb unter den Anbietern, denn schon kleine Preisunterschiede können hier unter den Konsumenten den Ausschlag für die Kaufentscheidung geben. In so einer Situation haben Firmen einen Anreiz, Verwirrung zu stiften, z.B. durch komplizierte Verträge oder irreführende Marketingmassnahmen, die zu Unschärfe beim Vergleich der Produkte führen. Diese Unschärfe kann den Preiswettbewerb entscheidend abschwächen. Wenn in einer Situation mit vielen indifferenten Konsumenten Unschärfe in die Konsumentscheidung eingespeist werden kann, dann führt dies dazu, dass mehr indifferente Konsumenten zu «für ein Produkt entschiedene» Konsumenten werden als umgekehrt. Anders gesagt: Die firmenseitige Beeinflussung der Wahrnehmung durch die Konsumenten führt dazu, dass weniger Konsumenten die Produkte als gleichwertig betrachten als zuvor. Der dadurch abgeschwächte Preiswettbewerb ist für die Firmen von Vorteil, aber für die Konsumenten von zweifachem Nachteil: Sie bezahlen mehr und kaufen manchmal suboptimale Produkte, was aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive ebenfalls ineffizient ist.
Nudging macht sich eine Eigenschaft des menschlichen Verhaltens gezielt zunutze: Scheinbar irrelevante Änderungen in einem Entscheidungsproblem können zu substanziellen Verhaltensänderungen führen. Im Unterschied zu einer Welt mit perfekt rationalem Verhalten lässt sich allerdings aus dem beobachteten Verhalten der Menschen dann nicht mehr ohne weiteres auf deren wahre Präferenzen schliessen, was die Rechtfertigung von staatlichem Nudging aus wohlfahrtstheoretischer Hinsicht erschwert. Weiterhin ist klar: Auch Firmen können zu «Nudging-Strategien» greifen. Im letzteren Fall ist unklar, ob die unsichtbare Hand des Marktes noch funktioniert, ob also das individuelle Gewinnstreben aller Akteure zu einem ökonomisch wünschenswerten Gesamtergebnis führt.
Daniel Read und Barbara van Leeuwen: Predicting Hunger: The Effects of Appetite and Delay on Choice. Organizational Behavior and Human Decision Processes 76 (1998). ↩
Fritz Strack et al.: Priming and Communication: The Social Determinants of Information Use in Judgments of Life-Satisfaction. In: European Journal of Social Psychology 18 (1988). ↩
Thomas D. Gilovich et al.: The Hot Hand in Basketball: On the Misperception of Random Sequence. In: Cognitive Psychology 17 (1985). ↩
Alexander Kempf und Stefan Ruenzi: Status Quo Bias and the Number of Alternatives: An Empirical Illustration from the Mutual Fund Industry. In: Journal of Behavioral Finance 7 (2004). ↩
Die Komplexität wird gemessen durch die Anzahl «Zustände», die ein Computer bräuchte, um den Entscheidungsprozess zu simulieren. Siehe: Yuval Salant: Procedural Analysis of Choice Rules with Applications to Bounded Rationality. In: American Economic Review 101 (2011). ↩
Eric Johnson und Daniel Goldstein: Do Defaults Save Lives? In: Science 203 (2003). ↩
Jean-Michel Benkert und Nick Netzer: Informational Requirements of Nudging. In: Journal of Political Economy (2018), S. 126 ff. ↩
Paul Heidhues und Botond Köszegi: Exploiting Naivete about Self-Control in the Credit Market. In: American Economic Review 100 (2010). ↩
Yuval Salant und Ron Siegel: Contracts with Framing. In: American Economic Journal: Microeconomics (2018), S. 10 ff. ↩
Andreas Hefti et al.: Confusion, Indecisiveness and Polarization. Working Paper (2019). ↩