Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Vom Schiessen in den eigenen Fuss

Perfektionismus, übertriebene Fürsorge, Hang zu Tradition und Tunnelblick: über die Haltungen, die den Erfindergeist bremsen – und umsetzbare Vorschläge, wie man diese ändern kann.

Zum Einstieg berichte ich Ihnen von vier Episoden, die ich an einem einzigen Tag (es war im Februar 2014, das genaue Datum ist belanglos) erlebt habe:

Zunächst war ich bei einer Unternehmung im Finanzdienstleistungsbereich zu Besuch, als Start-up vor einigen Jahren gegründet, nun mit einigen hundert Mitarbeitern. Der Betrieb hatte soeben eine Kontrolle des Arbeitsamtes hinter sich und war gerügt worden, weil die Erfassung der Arbeitszeit nicht lückenlos war. Leitende Mitarbeiter – teils mit dem Einkommen eines Bundesrates oder auch mehr – hatte das Unternehmen von der Stechuhr befreit, zu Unrecht, wie das Arbeitsamt feststellte.

Einer der Gründungspartner meinte dazu, das Unternehmen hätte nie zum Erfolg geführt werden können, wenn man sich an solche Vorschriften gehalten hätte. Und als ich davon einem meiner Kollegen in der Anwaltskanzlei erzählte, stellte dieser sarkastisch fest, bei einer wörtlichen Befolgung des Arbeitsrechts müssten wohl alle grossen Schweizer Kanzleien das – nicht nur, aber auch finanziell – interessante Geschäft mit der Beratung bei Mergers and Acquisitions ins Ausland abgeben, weil weder die Vorschriften für die maximal zulässige Arbeitszeit pro Tag noch jene für die Wochenendarbeit bei solchen Transaktionen eingehalten werden könnten. Und vor allem: weder der Mitarbeiterstab des aufstrebenden Start-ups noch meine leistungswilligen jüngeren Kolleginnen und Kollegen wollen geschützt werden. Sie wollen unbehindert durch Zeitkontrollen Leistungen erbringen und Teil einer Erfolgsstory sein1.

Zweite Episode: Zurück im Büro, erhielt ich Post von der Finma. Dieser Behörde ist unter anderem die Genehmigung der Organisationsreglemente von Finanzdienstleistern vorbehalten. Ich hatte vor einiger Zeit zwei revidierte Reglemente zur Prüfung eingereicht. Im ersten war vorgeschrieben, bei Pattsituationen im Verwaltungsrat habe der Präsident den Stichentscheid. Im zweiten war umgekehrt festgehalten, dem Präsidenten komme bei Stimmengleichheit kein Stichentscheid zu. Beides war überlegt und aus Sicht des jeweiligen Verwaltungsrates der konkreten Situation angemessen. Zum ersten Reglement hatte ich bereits Bescheid erhalten: Der Stichentscheid müsse weg. Nun kam die zweite Antwort: Hier müsse der Stichentscheid hinein!

Dass es für beides – Stichentscheid und damit ein positiver Änderungsbeschluss trotz Pattsituation oder Fehlen eines solchen Privilegs des Vorsitzenden und damit Verharren beim Status quo – gute Gründe geben kann, ist geschenkt. Dass aber die Aufsichtsbehörde besser als die direkt Betroffenen weiss, was der Gesellschaft im konkreten Fall frommt, daran habe ich Zweifel.

Dritte Episode: In einer Verwaltungsratssitzung, an der ich am Nachmittag mitwirkte, zerbrachen sich die Beteiligten den Kopf über die Umsetzung der Lex Minder.2 Die beiden ausländischen, international versierten Mitglieder konnten die neuen Vorschriften kaum glauben, der Präsident beklagte, dass nun wegen derartiger Auseinandersetzungen mit Details kaum mehr Zeit für die für den Unternehmenserfolg und damit für die Wahrung der Interessen der Aktionäre und aller Stakeholder viel wichtigere Strategiediskussion bleibe3.

Und schliesslich informierte ich mich am Abend noch vor Ort über die Umbauarbeiten an einem gut hundertjährigen Haus, bei denen der Denkmalschutz involviert war. Vieles war unbestritten, aber da gab es folgende Auflage: Beim freigelegten Boden wurde eine Tragkonstruktion aus der Zeit der Errichtung vorgefunden. Die Balken aus Holz konnten zwar ihren Dienst nicht mehr erfüllen, aber sie mussten nach Ansicht des Denkmalschutzes erhalten bleiben. Darüberzulegen waren aus Sicherheitsgründen massive (neue) Eisenträger. Und auch die Stützsäulen durften nicht ersetzt werden: Sie konnten und mussten aber – wiederum aus Gründen der Sicherheit – durch einen tragenden Metallmantel umgeben werden. Die alten Konstruktionselemente konnten so gerettet werden, allerdings wird die Rettung – bis zur nächsten grundlegenden Sanierung in 50 oder 100 Jahren – für niemanden sichtbar sein. Ich frage mich, was dereinst bei erneuten Bauarbeiten unsere Nachkommen denken werden, wenn sie die merkwürdige Bauweise ihrer Vorfahren entdecken. Zurzeit steht jedenfalls fest, dass sich die Kosten des Umbaus durch solche und andere Auflagen des Denkmalschutzes glatt verdoppeln dürften.

All dies weiss ich noch so genau, weil ich damals ein Memorandum verfasst habe mit der Überschrift: «Vom Schiessen in den eigenen Fuss». Ich möchte nicht missverstanden werden: Es geht mir nicht darum, einzelne Regelungen und Entscheide anzuprangern. Und es ist mir natürlich auch klar, dass diese anekdotische Evidenz nicht repräsentativ ist. Vielmehr wollte ich – durch Beispiele, die rein zufällig an einem einzigen Tag passierten – eine Tendenz aufzeigen, eine Grundhaltung, die auf den verschiedensten Ebenen zum Ausdruck kommt: auf Verfassungsebene in der durch eine massive Zustimmung der Stimmbürger geadelten Verfassungsinitiative Minder, auf Gesetzesebene im Arbeitsrecht, auf der Umsetzungsebene durch den Gebrauch des Verwaltungsermessens seitens der Finma sowie der Denkmalschutzbehörde. Charakteristisch scheinen mir dabei fünf Stossrichtungen:

– Der Hang zur Perfektion («Wenn schon, dann gleich richtig!»).

– Das Festhalten an bewährten Regeln («Die Erfahrung hat gezeigt, dass…»).

– Die lückenlose Fürsorge für alle («Es dürfen keine Schlupflöcher offengelassen werden!»).

– Extensive Eingriffe durch behördliche Ermessensentscheide, mit Fokus ausschliesslich auf ein ganz bestimmtes und begrenztes Ziel («Für den Denkmalschutz ist es wichtig, dass…», «Es liegt im Interesse des Finanzmarktes, wenn…»).

– Das Ausblenden des Faktors Zeit («Wir können mit dieser Frage bis vor Bundesgericht…»).

Ich brauche nicht zu betonen, dass diese Vorgaben – vor allem dann, wenn sie, als höherwertig eingestuft, allen anderen Zielen vorgehen sollen – der Innovation nicht förderlich sind. Für innovative Ideen braucht es Freiraum, das Wagnis zum Risiko, die Inkaufnahme des Misslingens. Und es braucht eine sichere und klare rechtliche Basis, über die sich die Betroffenen einfach und rasch orientieren können.

Dazu möchte ich nun einige Themen ansprechen, über die man aus der Sicht des Juristen diskutieren sollte, wenn man zugunsten der Innovatoren Gegensteuer geben will. Vorher aber noch zwei ernüchternde Vorbemerkungen:

Es kann nicht darum gehen, einen Kippschalter von «Ja» auf «Nein» zu drehen, mit einem «Ruck durch das Land»4 eine neue Basis für öffentliches Handeln – vom Stimmbürger über den Gesetzgeber bis hin zur rechtsanwendenden Behörde – zu schaffen. Fast immer gibt es durchaus gute Gründe für die bestehenden Regeln und ihre Umsetzungstraditionen, Argumente, die nicht einfach ignoriert werden dürfen. Ziel kann es nur sein, den Regler auf der Skala zu schieben, weg von der Perfektion, hin zu mehr Freiraum. Aber diese Verschiebung ist meines Erachtens nötig, wenn Innovationen gefördert und Innovatoren unterstützt werden sollen, eine Unterstützung übrigens, die den Staat nichts kostet, sondern oft, ganz im Gegenteil, Geld spart.

Einen Free Lunch gibt es auch hier nicht: Staatliche Regeln werden ja nicht aus Schikane aufgestellt. Und auch wenn für einzelne Bestimmungen der Grund weggefallen sein mag, erfüllen die meisten noch immer einen valablen Zweck. Werden also Vorschriften gestrichen oder wird auf Massnahmen verzichtet, dann hat dies häufig eine Kehrseite: einen Abbau von «Gerechtigkeit» im Einzelfall, den Verzicht auf eine für die konkrete Situation passende Lösung oder auf den Schutz von einzelnen, die des Schutzes bedürfen.

Es gilt also Kosten und Nutzen abzuwägen – ohne die Hoffnung auf Vollkommenheit, aber auch ohne Prinzipienreiterei.

Nun einige Postulate für mehr Innovationsfreiraum – allesamt nur skizziert und holzschnittartig, gedacht als Basis für das Weiterdenken:

 

Abbau von Perfektionismus

Mir scheint, dass wir im Willen, jeden Einzelfall «richtig» zu entscheiden und jedem einzelnen gerecht zu werden, nicht selten zu weit gehen. Die Folge sind komplexe Regelungen, die allenthalben als bürokratisch gerügt werden, an denen man aber nicht vorbeikommt, wenn man konsequent für jede Situation eine massgeschneiderte Lösung präsentieren will.5 Nachzudenken wäre über robustere Ordnungen, ungleich einfacher zu handhaben und preiswerter6 zudem. Einfachere Regeln haben zumeist auch den Vorteil, dass deren Konsequenzen leichter überschaubar sind. Auch das spart Zeit und Aufwand. Ein beliebtes Medium anekdotischer Evidenz zum Überborden staatlicher Reglementierung ist der Anstieg der Seitenzahlen in der amtlichen Sammlung der Bundeserlasse. In der Tat hat deren Volumen in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen. Doch ist dies als schlüssiges Kriterium für zunehmende Einschränkungen insofern untauglich, als die Zunahme des Umfangs nicht unbedingt einen Freiheitsverlust bedeutet. Eine Regelung kann auch dazu dienen, Freiraum zu sichern.7 Aber mit Bezug auf das Streben nach Perfektion besteht zum Umfang der Gesetzessammlung sicher eine Korrelation. Ein zuverlässiger Marker für den Anstieg von Komplexität ist sodann das massive Anwachsen der Rechtsabteilungen und der Auf- und Ausbau grosser Compliance-Organisationen bei den international tätigen Unternehmen in den letzten drei Jahrzehnten. Das mag zwar die Anwaltszunft freuen, zeugt aber von abschmelzendem Freiraum.8

 

Förderung des Denkens in Alternativen

Es ist bequem und verständlich, wenn man sich an traditionelle Denkvorgaben hält. Sie haben sich bewährt, werden kaum hinterfragt, und wenn es trotzdem schiefgeht, kann man sich auf die bis anhin bewährte Überlieferung berufen. Aber es ist Gift für Innovation, wenn man die bestehende Ordnung nicht in Frage stellt, und es ist daher nach Wegen zu suchen, wie – schon auf der Ebene des Gesetzgebers, vor allem aber auch auf der der Rechtsanwender – ein Denken in Alternativen gefördert oder gar erzwungen werden kann. Am eingangs erwähnten Beispiel des Denkmalschutzes: Für einen Bruchteil der Kosten, welche der Erhalt der historischen Zeugnisse – ein Erhalt im Geheimen – verursacht, könnte man die historische Realität professionell dokumentieren und so für alle Interessierten offenlegen. Für die Auseinandersetzung mit der Herkunft wäre dies sinnvoller als das versteckte Konservieren von Altem unter Einsatz teurer technischer Klimmzüge.

 

Schutz nur für die, die Schutz benötigen und wollen

Niemand wird bestreiten, dass es einen Schutz der Arbeitnehmenden durch zwingendes Recht braucht. Wenn aber dadurch ehrgeizige und leistungswillige Mitarbeitende, die sich schnurstracks auf dem Weg zur ersten Einkommensmillion pro Jahr bewegen, vor ihrem Arbeitgeber und vor sich selbst geschützt werden sollen, ist der Gedanke des Schutzes des Schwächeren pervertiert. Es ist daher stets zu prüfen, ob die Betroffenen wirklich durch den Staat geschützt werden müssen oder ob sich die scheinbar schwächere Partei nicht selbst wehren kann und ihr die Entscheidungsfreiheit überlassen bleiben soll.9 Die Fokussierung von Schutzmassnahmen auf wirkliche Schutzbedürftige – vollzogen nach einem einfachen Massstab und unter Verzicht auf Ausnahmen – kann freilich da und dort zu neuen Härtefällen führen. Auch hier gibt es also keinen Free Lunch, und will man entschlacken und vereinfachen, dann darf dem Ruf nach einer Korrektur durch wiederum neue Regeln, der nach dem ersten Härtefall unweigerlich laut werden wird, nicht nachgegeben werden.

 

Begrenzung von Verwaltungsermessen

Eine Verwaltungsbehörde will – das ist ihr Recht und auch ihre Pflicht – die Ziele, für die sie geschaffen ist, optimieren. Der Einbezug von Drittinteressen ausserhalb der eigenen Aufgabe steht zumeist nicht im Pflichtenheft und ist daher auch nicht im Fokus. Dass diese anderen Interessen – worunter eben auch das Interesse fällt, Innovation zu ermöglichen und zu fördern – nicht zu kurz kommen, kann durch eine Beschränkung der Kompetenzen gefördert werden. Durch die Einschränkung von Ermessen steigt auch die Vorhersehbarkeit des zu Erwartenden, und die Verfahren können verkürzt werden. Auf der Strecke bliebe dabei – um wieder auf die Flip Side hinzuweisen – die Rücksichtnahme auf Besonderheiten des Einzelfalles. Spezialisierte Behörden verfügen über viel Sachkunde und sind oft in der Lage, massgeschneiderte Lösungen zu entwickeln, die einer standardisierten Regelung ohne Bezug auf die konkrete Situation überlegen sind. Auch hier ist also ein Kompromiss zu finden, und vielleicht gibt es auch Alternativen für den Kampf gegen eindimensionales Entscheiden: eine entsprechende Zusammensetzung des Entscheidungsträgers, vielleicht sogar einen runden Tisch.10

 

Den Faktor Zeit einbeziehen

Ich habe eingangs dieser Wunschliste für eine robustere Ordnung plädiert, aber auch moniert, dass eine solche auf Kosten der Einzelfallgerechtigkeit gehen kann. Eine den Besonderheiten des Einzelfalles umfassend Rechnung tragende Regelung kann allerdings in der Praxis – nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit – auch daran scheitern, dass sie der Realität und vor allem dem Faktor Zeit nicht Rechnung trägt. Das gilt sowohl auf der Stufe der Gesetzgebung als auch auf jener der Rechtsanwendung: Gesetzesänderungen benötigen in der Schweiz gut und gerne zehn Jahre. Zwar gibt es in neuerer Zeit vor allem im Wirtschaftsrecht viele Fälle der Überstürzung, aber die allgemeine Tendenz zur Langsamkeit bleibt. Das heute geltende Aktienrecht brauchte vom Startschuss bis zum Inkrafttreten mehr als zwei Jahrzehnte. Die derzeit hängige Aktienrechtsreform ist schon seit 2005 unterwegs, neues Recht ist nicht vor 2020 zu erwarten. Das Problem ist dabei nicht nur, dass man auf überfällige Neuerungen zu lange warten muss, sondern auch, dass die zentralen Probleme und die herrschenden Ansichten im Laufe einer halben oder ganzen Generation ändern.11 Eine Beschleunigung tut daher oft not, aber die Kehrseite wird sogleich sichtbar: Die extensiven Möglichkeiten aller Betroffenen – theoretisch eines jeden einzelnen Bürgers – zur Meinungsäusserung und Mitwirkung würden zwangsläufig eingeschränkt. Im Privatrecht gibt es bekanntlich keine «ewigen» Verträge. Und bei Dauerschuldverhältnissen – etwa Aktionärsbindungsverträgen – sind Klauseln verbreitet, wonach der Vertrag nach einer gewissen Zeit überprüft und geänderten Verhältnissen angepasst werden soll. Das schafft zwar keine Garantie für Aktualität und das Abschneiden alter Zöpfe, aber immerhin den Zwang, sich mit der bestehenden Ordnung erneut auseinanderzusetzen. Dieses Konzept könnte für gewisse – sicher nicht alle – Erlasse fruchtbar gemacht werden: Gesetze und Verordnungen wären mit einem Verfallsdatum bzw. einem Zeitpunkt, zu welchem eine Überprüfung und Überarbeitung erfolgen soll, zu versehen. Auch im öffentlichen Bereich ergäbe sich daraus zwar keine Garantie für die Beseitigung von obsolet gewordenen Regeln und überflüssigen und kostenintensiven Verfahren, sondern nur – aber immerhin – der Zwang zum Überdenken. Und wird in guten Treuen neu gedacht, dann wird vielleicht auch auf Überlebtes verzichtet.12 Auf der Stufe der Rechtsanwendung ist zu prüfen, ob man die Entscheidungsfindung durch Verwirkungsfristen zulasten der zuständigen Verwaltungsorgane beschleunigen könnte.13 Im Privatrecht sind solche Fristen gang und gäbe. Warum sollten sie nicht auch bei Verwaltungsbehörden im Sinne einer raschen Klärung der Lage vorgesehen werden? Und wenn die Gerichte zur Beschleunigung von Verfahren befugt und verpflichtet sind, den Parteien rigide Fristen anzusetzen, warum sind solche nicht auch ihnen zumutbar?

 

Förderung einer Kultur des Scheiterns?

Schliesslich fragt es sich – aber das ist nun vorwiegend ein gesellschaftspolitisches und weniger ein rechtspolitisches Problem –, ob wir nicht intensiver über eine verstärkte Kultur des Scheiterns nachdenken sollten. In den USA wird dem Scheitern zwar nicht gerade applaudiert, aber es wird dieses auch als für die Zukunft wertvolle Erfahrung verstanden. In der Schweiz sind zwar die Zeiten vorbei, in denen bei einem Konkurs der Offiziersgrad (damals ein Gütesiegel auch für das zivile Leben) aberkannt wurde. Aber der Innovator, der auf Risiko gesetzt hat und trotz redlichen Bemühens gescheitert ist, bleibt auch heute stigmatisiert. Hier könnte man, wenn man Innovation fördern will, auf der juristischen Ebene über einen Richtungswechsel nachdenken, indem die gravierenden wirtschaftlichen Konsequenzen für Fallierte gemildert werden. Im Aktienrecht etwa könnte man die unbeschränkte Haftung für Schaden, der aufgrund einer auch nur leichten Fahrlässigkeit verursacht worden ist, hinterfragen14. Allgemein liesse sich – etwa in Anlehnung an das deutsche Insolvenzrecht – vorsehen, dass Verlustscheine nach einem Zeitraum des Wohlverhaltens, in welchem die Schulden in zumutbarem Ausmass abbezahlt wurden, endgültig verfallen.15 Ganz besonders ist aber auch hier wiederum eine Gesamtschau nötig: Mehr Freiraum für kreative Unternehmensgründer bedeutet fast zwangsläufig mehr Freipässe für Missbrauch. Es braucht daher wieder eine Abwägung und nicht eine Kehrtwendung, es braucht ein Schieben des Reglers, nicht das Kippen eines Schalters.

Und bei einer solchen Gesamtschau zeigt sich, dass es Spannungsfelder auch zwischen den hier vorgetragenen Postulaten gibt, etwa zwischen sicherer Vorhersehbarkeit und rascher Anpassung an geänderte Verhältnisse, zwischen dem Denken in Alternativen und eindeutigen Vorgaben. Markige Postulate sind zwar einprägsam, und man kann ihnen, wenn nicht der Lackmustest der Überprüfung am konkreten Fall ansteht, nur selten widersprechen. Aber für die Umsetzung taugen sie selten.

 

Nach all diesen Hinweisen auf Schwachstellen ein versöhnlicher Ausklang: In allen möglichen Rankings zur Attraktivität von Standorten für unternehmerische Tätigkeit und für Innovation findet sich die Schweiz in der Spitzengruppe, wenn nicht gar an der Spitze überhaupt. Aber diese Feststellung wird mehr und mehr mit dem Wörtchen «noch» verbunden. Andere Wirtschafts- und Forschungsstandorte holen rasch auf, der Vorsprung der Schweiz nimmt ab. Die bestehende Ordnung ist daher zu hinterfragen, und das immer wieder neu. Auch das ist Ausdruck einer innovativen Haltung.


Der vorliegende Text ist die überarbeitete Version eines Referats, das der Autor vor dem Forum der Max-Schmidheiny-Stiftung am 19. Mai 2015 hielt. Der Sprechstil wurde beibehalten.


1 Klammerbemerkung: Ich weiss, dass nun Schritte unternommen werden, um das Problem zu entschärfen. Der Lösungsvorschlag – Beitritt zu einem Gesamtarbeitsvertrag mit dem einzigen Inhalt der Abkehr von der arbeitsvertraglichen Regelung – ist allerdings eher kurios. Und natürlich ist mir auch die Möglichkeit bekannt, von den zuständigen Stellen Ausnahmebewilligungen für Einzelfälle zu bekommen – auch prophylaktisch für einen möglichen künftigen Bedarf. Aber diese Bittstellung verlangt einen erheblichen Aufwand. Auch was sich in der gesetzgeberischen Pipeline findet, scheint kompliziert und aufwendig.
2 Unter anderem auch über eine unterschiedliche Auslegung verschiedener Handelsregisterämter in einem wichtigen Punkt.
3 Auch hier eine Klammerbemerkung: Die Befassung mit der Entschädigung von 15 bis 30 Personen an der Unternehmensspitze beansprucht seit letztem Jahr die Verwaltungsratssitzungen weit über Gebühr. Und in den Generalversammlungen haben die Präsidenten und CEOs vielfach ihre Referate stark gekürzt oder gar gestrichen, um Zeit für den Reigen der bis zu 30 Abstimmungen – eine Verdoppelung zu früher – freizubekommen. Abgespeckt wird damit der meist interessanteste und informativste Teil der Generalversammlung, zugunsten von Abstimmungsmarathons, deren Ergebnisse überwiegend schon im voraus bekannt sind.
4
Diese Forderung wurde 1997 vom damaligen deutschen Bundespräsidenten Herzog aufgestellt, und in der Tat ging dann (freilich kaum aufgrund der Rede) ein Ruck durch Deutschland, das sich im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends punkto Effizienz, Produktivität und Innovationsfähigkeit von einem der Schlussplätze in eine Spitzenposition emporgearbeitet hat.
5
Ein neues bundesrätliches Paket von Vorschlägen zur Regelung der Lebensmittelbranche umfasst 2080 Seiten und über 200 Seiten Erläuterungen.
6
Ich bezahle für die Erstellung meiner Steuererklärung alljährlich einen fünfstelligen Betrag, obwohl ich ein langweiliger Fall bin. Könnte ich diese Summe aufgrund einer einfachen Ordnung, die auch für einen Halblaien wie mich ohne grosse Einarbeitung umsetzbar ist, einsparen, dann würde ich sie gerne dem Staat zukommen lassen.
7 So etwa beim Datenschutz und im Kartellrecht.
8 Diese Entwicklung ist stark durch internationale oder ausländische Vorgaben bestimmt, was die Möglichkeit, Gegensteuer zu geben, einschränkt. Auf den üblichen Swiss Finish kann aber verzichtet werden.
9 Vom Entwurf des Fidleg (Finanzdienstleistungsgesetz) wird etwa gesagt, es werde darin ein Konsumentenschutz betrieben, der ein Affront für den mündigen Bürger sei. Ähnliche Tendenzen finden sich im Kollektivanlagenrecht.
10 Oder auch – eine andere Idee – die Auflage an die zuständige Behörde, sich in ihrer Entscheidung und Begründung auch mit anderen, ebenfalls schützenswerten Interessen explizit auseinanderzusetzen. Mit solchen Konstrukten wird freilich die Vorhersehbarkeit der zu erwartenden Entscheidung – ein weiteres Desiderat zur Unterstützung von Innovation – beeinträchtigt.
11 In der letzten Aktienrechtsreform etwa war die Vinkulierung anfänglich kaum ein Thema. Im Laufe der Revisionsarbeiten wurde sie – mit gänzlich unterschiedlichen Vorgaben: mal Verschärfung, mal weitgehende Abschaffung – diskutiert, und gegen das Ende war sie die Thematik, der sich das Parlament schwergewichtig annahm und die schliesslich sogar zu einer zweigeteilten Regelung – unterschiedlich für kotierte und für nicht kotierte Gesellschaften – führte. Auch die Diskussion zum Bundesgesetz über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland (Lex Koller) ist ein Seismograph der politischen Strömungen: 2007 schlug der Bundesrat dem Parlament noch vor, die Lex Koller ganz aufzuheben. Nun hat der Wind gedreht: Das Gesetz soll im Gegenteil verschärft werden.
12 In den USA sind solche sunset clauses verbreitet. In der Schweiz gibt es m.W. hierfür nur wenige Beispiele: Abgesehen von für dringlich erklärten Bundesgesetzen, die ein Jahr nach dem Inkrafttreten auslaufen, wenn sie nicht in einer Volksabstimmung angenommen werden, ist zu denken an die probeweise Einführung von Verkehrsvorschriften (seinerzeit die Geschwindigkeitsbegrenzung innerorts auf 50 km/h, in neuerer Zeit wiederholt das Schliessen einer Fahrspur, wobei man den Eindruck hat, es gehe nicht so sehr um den Gewinn von Erfahrungen als darum, die Allgemeinheit an eine unpopuläre Massnahme zu gewöhnen).
13 Wird nicht innert Frist ein gültiger und begründeter negativer Entscheid gefällt, ist ein Gesuch genehmigt. Entsprechende Bestimmungen finden sich etwa im Kartellrecht.
14 Diese Konsequenzen stehen in krassem Gegensatz zum Haftungsrisiko bei anderen Dienstleistungen. Arbeitsverträge etwa werden regelmässig selbst dann im sog. «gegenseitigen Einvernehmen» aufgelöst, wenn ein grobfahrlässiges Verhalten vorliegt.
15 Noch bestehende Forderungen verfallen nach deutschem Recht nach sechs Jahren endgültig. In der Schweiz verjähren Verlustscheine zwar nach 20 Jahren, doch kann die Frist unterbrochen und so beliebig verlängert werden.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!