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«Vom sanften Monster»

Deutsche Intellektuelle zeichneten sich bisher nicht durch prononcierte EU-Kritik aus. Hans Magnus Enzensberger bricht mit dieser Tradition und klagt Brüssel wortgewaltig an. Ein Gespräch über die Stärken Europas, das System EU und einen Störenfried namens Schweiz.

Herr Enzensberger, wir sitzen im Garten von Loriots Lieblingshotel in Zürich. Der verstorbene deutsche Humorist hat einmal gesagt: «Aus einem Europa befreundeter Staaten wird eine zänkische, missgünstige Grossfamilie werden.» Was halten Sie, als Europäer, von seiner düsteren Prognose?

Er hat recht, in einem ganz elementaren Sinn. In der Kleinfamilie zanken sich bereits die Söhne und Töchter. Eine Grossfamilie zankt sich unter den Teilfamilien. Auch ganze Regionen zanken sich, denken Sie etwa an die Rivalitäten im Fussball oder an den Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschland. Das lässt sich weiterdenken bis zu einander bekriegenden Staaten. Loriots Aussage ist also nichts Aussergewöhnliches, sondern beschreibt bloss die Normalität.

 

Loriots Bild ist suggestiv und problematisch zugleich, denn Staaten sind keine gewachsenen Familien, sondern geschaffene Territorien. Das ist ein grosser Unterschied.

Das stimmt schon. Die Staaten Europas können aber, wie auch einzelne Familienmitglieder, nicht einfach voneinander weg. Nachbarstaaten sind eine geographische Realität, sie sind untereinander verbandelt und auch aufeinander angewiesen. «Pack schlägt sich, Pack verträgt sich» – so funktioniert die Vergesellschaftung des Menschen überall auf der Welt, auch in Europa. Wir sollten bei der Benutzung des Begriffs «Europa» jedenfalls darauf achten, dass wir dabei vom gleichen reden.

 

Vielleicht beginnen wir also ganz von vorn und Sie erklären mir, was das für Sie ist, «Europa».

Der Ausdruck ist ein wenig missverständlich geworden. Es gibt zweierlei Erscheinungen Europas. Die eine ist das, was man das wirkliche Europa nennen könnte, die geographische Realität, bestehend aus einem Kontinent mit verschiedenen Ländern. Das andere ist eine politische Konstruktion, bestehend aus Institutionen: die Europäische Union. Ein politischer Trick besteht nun darin, dass man die beiden gleichsetzt. Wer an dieser Gleichsetzung inter-essiert ist, ist wiederum die Institution. Sie nimmt für sich in Anspruch, die ganze geographische Realität zu repräsentieren. Sie kennen sicher den Ausspruch vieler Politiker: «Wir brauchen mehr Europa!» Hier spricht die Institution. Wenn ich mir aber anmasse, über Europa zu sprechen, rede ich über das Europa der Leute, das Europa der Geschäfte, das Europa der literarischen Übersetzungen und so weiter – das sind zahllose Relationen, oft privater Art, ein weit dichteres und vitaleres Netz also, als wir es in trockenen Maastricht- oder Lissabon-Verträgen finden.

 

Wieso ist Europa ein Ideal, mit dem sich eine Institution schmücken kann?

Jeder Europäer, der den Kontinent einmal verlassen hat, also in Uganda war, auf Haiti oder in Japan, der weiss ganz genau, was er an Europa hat. Ich sage immer: wenn Sie mich an einem Fallschirm abspringen lassen, irgendwo auf der Welt, werde ich Ihnen nach der Landung innerhalb von zehn Minuten sagen können, ob ich mich in Europa befinde oder nicht. Da ist diese Landschaft, die seit mehreren tausend Jahren von Menschenhand durchgearbeitet ist. Da ist der Grundriss eines europäischen Dorfes, egal ob in Flandern oder auf Sizilien: in der Mitte der Marktplatz, daneben die Kirche. Er sieht überall ähnlich aus. Und wenn Sie mich irgendwo in einer europäischen Stadt am Bahnhof rauslassen, finde ich instinktiv ins Zentrum. Versuchen Sie das mal in Los Angeles oder in Karachi! Es handelt sich um eine Art europäischen way of life, der historisch gewachsen und nur auf diesem Kontinent zu finden ist, dort aber überall. Damit kann man sich identifizieren – und das tun die Europäer.

 

Sie sehen also eine Art kulturelle europäische Identität. Ich sage: diese wird instrumentalisiert. Funktionäre, Politiker und Kommissare binden das Überleben oder die Friedenssicherung Europas an ein Überleben der Institution EU oder – neuerdings – an ein Überleben des Euros.

Es handelt sich um Usurpation, da stimme ich Ihnen zu.

 

Verrät die Institution damit die «Idee Europa» als einen Zusammenschluss souveräner Staaten?

Ich würde es «Kidnapping» nennen, nicht Verrat. Man muss das ein wenig historisch betrachten. Die Idee einer EU bekam Aufwind nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Politik – ich Rede von den Ideen Konrad Adenauers, Charles de Gaulles, Jean Monnets – ging es zunächst um eine Wirtschaftsgemeinschaft: um ein paar wirtschaftliche Spielregeln, die den Handel unter den einzelnen Staaten vereinfachen sollten. Man hat sich gedacht: wenn die Länder wirtschaftlich vernetzt sind, miteinander einfacher Handel treiben können, dann entsteht ein Netz gegenseitiger Abhängigkeiten auf der Basis der Ökonomie, und militärische Konflikte würden auf diese Weise obsolet, weil zu teuer.

 

Dagegen ist ja erst einmal nichts einzuwenden. Der Philosoph Frédéric Bastiat hat diese Formel schon im 19. Jahrhundert auf den Punkt gebracht, als er sagte: «Wenn nicht Waren die Grenzen überqueren, so werden es Armeen tun.»

Man kann der EU bescheinigen, dass diese Rechnung bis heute aufgegangen ist. Allerdings hat diese Art des wirtschaftlichen «Reparaturbetriebs» – so bezeichne ich die ökonomisch motivierte Frühphase dessen, was wir heute Europäische Union nennen – mit unserer Gegenwart nicht mehr viel zu tun. 1945, 1948 oder 1952 sah die Welt völlig anders aus als unsere heutige – man hat aber die Strukturen der Institutionen nie angepasst, man hat bloss ihre Befugnisse ausgeweitet.

 

Die Institutionen der EU basieren also auf einem System der bürokratischen Herrschaft. Sie breitet sich von Brüssel aus…

Nicht so schnell! Hier darf man nicht alle Entwicklungen in denselben Topf werfen. Die Personenfreizügigkeit und der Abbau der Zollbarrieren waren sinnvolle Operationen und sind heute völlig zu Recht kaum noch wegzudenken. Diese Entwicklungen dienen den Europäern. Allerdings zeigen sich heute Probleme, denen mit den alten Strukturen der EU nicht mehr begegnet werden kann.

 

Können Sie die konkreter benennen?

Ich rede in erster Linie von der Entwicklung eines globalen Finanzmarktes. In den 1940ern waren Kohle und Stahl die Schlüsselindustrien, weswegen man damals auch von einer Montanunion gesprochen hat. Heute hat die Finanzindustrie diese Schlüsselstellung eingenommen, sie agiert aber global und nicht mehr national oder kontinental. Und sie diktiert, was die Politik machen oder nicht machen kann. Die Ratingagenturen sind damit mächtiger als alle Finanzministerien, und das antiquierte, langsame Modell der EU ist dafür schlicht nicht gerüstet. Ausserdem ging man bei ihrer Gründung davon aus, dass der wirtschaftliche Aufschwung in den angeschlossenen Ländern nach dem Krieg parallel oder doch zumindest untereinander ähnlich verlaufen würde. Heute ist für
jedermann ersichtlich, dass das ein Fehlschluss war. Die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Ökonomien ist sehr unterschiedlich, was die verschiedensten Gründe haben kann. In dieser Vielfalt sehe ich – das möchte ich hinzufügen – keine Schwäche Europas, sondern seine Stärke.

 

Sie vertreten in Ihrem kürzlich erschienenen Essay «Sanftes Monster Brüssel» die These, dass das Projekt EU schon in den Kinderschuhen auf eine Nivellierung dieser Unterschiede angelegt war.

Ja, die «Vereinigten Staaten von Europa» waren bereits im frühen Ansatz mitgedacht. Das ist einer der Geburtsfehler der Europäischen Union. Man hat die Unterschiede nicht gesehen oder nicht sehen wollen. Diese Unterschiede existieren überall, auch auf engstem Raum, sie zeigen sich in den verschiedensten gesellschaftlichen, kulturellen oder ökonomischen Ausprägungen. In der Schweiz muss man bloss auf den Kantönligeist hinweisen und jeder weiss, was gemeint ist: die Puppe in der Puppe.

 

Wieso weiss jeder, der einen Nachbarn hat, um diese Unterschiede, aber die Entscheidungsträger in Brüssel nicht?

Auch das liegt an einem Geburtsfehler der Institution. Von Anfang an stand hier der technokratische Aspekt im Vordergrund: Politik hinter verschlossenen Türen. Geheimniskrämerei. Kabinettspolitik. Die Gründer hielten nicht viel von Volksabstimmungen und
Referenden, stattdessen musste das Volk mit der Gründung überrumpelt werden. Verfassungsreferenden werden bis heute als störend empfunden. Was die Technokraten aber am meisten stört, ist die Demokratie.

 

In der Schweiz fürchtet man die EU. Ein Beitritt ist schon allein deshalb undenkbar, weil man weite Teile der direkten Demokratie preisgeben müsste.

Die Schweizer Staatsform ist inkompatibel mit den derzeitigen EU-Verträgen. Strenggenommen sind europäische Kommission und europäischer Rat keine demokratisch gewählten Regierungen. Es gibt zwar ein Parlament, aber dessen Kompetenzen sind sehr beschränkt. In der EU werden die Kommissare ernannt, nicht gewählt. Es gibt auch keine Gesetze, sondern Direktiven. Die Leute merken das. Fragen Sie doch einmal auf der Strasse in Wien, Kopenhagen oder Lille: «Wer entscheidet eigentlich für Sie?» Nicht einmal die Namen sind bekannt! «Wer ist Ihr Europaabgeordneter?» Niemand kennt ihn.

 

Vielleicht sollten sich die EU-Bürger einfach besser informieren?

Es liegt nicht daran, dass die Leute ahnungslos wären, wie man in Medienkreisen gern sagt. Die Politikverdrossenheit ist nur logisch: der sogenannte Volksvertreter ist in Brüssel meist so weit weg von seinem Wahlkreis, räumlich und institutionell, dass er den Kontakt zum Bürger verlieren muss. Die Demokratie wird immer «dünner», je weiter der Repräsentant sich vom Repräsentierten entfernt. Die Verfassungskämpfe des 19. Jahrhunderts, so scheint es, hatten nahezu keinen Einfluss auf die Institution EU. Man muss kein Verfassungsrechtler sein, um zu erkennen, dass es hier einen grossen Konflikt mit der direktdemokratischen Verfassung der Schweiz gibt.

 

Tut die Schweiz also gut daran, der EU nicht beizutreten?

Die Widerstände von Ländern wie Norwegen und der Schweiz sind aus ihrer Geschichte heraus gut begründet. Ich meine, das schadet den positiven Aspekten der europäischen Einigung nicht. Es ist ein Segen für Europa, dass es Länder wie die Schweiz gibt, denn es muss immer jemanden geben, der das Ganze sabotiert. Ohne dieses Korrektiv wäre die EU wie ein Auto ohne Bremsen.

 

Hört man Ihnen zu, so klingt es beinahe, als sei die Schweiz auf dem besten Wege, eine Art demokratisches Museum in der Mitte Europas zu werden.

Was die direkte Demokratie in der Schweiz angeht, so kann man natürlich auch die kritisch unter die Lupe nehmen. Von einem Museum würde ich nicht unbedingt sprechen, denn genau besehen kann auch auf die Schweiz geschimpft werden – dafür haben Sie ja den Herrn Ziegler und andere. Es gibt eine lange Tradition von Störern in der Schweiz. Von Gottfried Keller über Max Frisch bis zu Adolf Muschg. Man kann diese Leute mögen oder nicht – sie dienen der gesellschaftlichen Selbstjustierung.

 

Der unter Schweizer Intellektuellen weitverbreitete Selbsthass kann also durchaus fruchtbar sein?

Nicht für die Schweizer Intellektuellen selbst, sondern für die Gesellschaft, die durch die kritische Nachfrage einiger Störenfriede zum Nachdenken angeregt wird. Ähnliches kann die Schweiz auch in bezug auf die EU leisten: Es geht mir um einen Vorgang, den man in der Biologie «Diffusion» nennt: Druck- und Gegendruckbewegungen, die dafür sorgen, dass es einen Ausgleich zwischen den einzelnen Systemen gibt. Die Schweiz kann durch ihr Beispiel also dazu beitragen, dass sich demokratische Prozesse auch innerhalb der Institution EU durchsetzen.

 

Die Schweiz in der Rolle des Störenfrieds? Das wird EU-weit kaum goutiert.

Mag schon sein, aber sie ist dennoch wichtig! Der Störer ist im Sinne der Vielfalt, seine Aufgabe ist unliebsam, aber wichtig. Und die Schweiz ist diesbezüglich ja eine überaus unwahrscheinliche Erscheinung: eine gute Idee, die auf kultureller Vielfalt basiert. Eine Konföderation! Sie ist sogar eine der bis heute gelungensten Konföderationen. Das hat sie ihrem Glück, aber auch dem Geschick ihrer Bürger zu verdanken.

 

So geschickt sind aber nicht alle Schweizer. Die Befürworter eines EU-Beitritts der Schweiz haben bis vor kurzem mit ökonomischen Argumenten versucht, das Ende des Schweizer Abwehrverhaltens herbeizuführen. Schaut man sich die derzeitigen Schlagzeilen an, muss man sagen: gut, dass niemand auf sie gehört hat!

Die einzelnen Nationalstaaten befinden sich im Wettbewerb. Und die eigenen Wettbewerbsvorteile müssen eingebracht und auch geschützt werden. In der Schweiz betrifft das zum Beispiel den Bankenplatz. Diese Wirtschaftspolitik widerspricht der von der EU gewollten Homogenisierung. Das Ziel der Europäischen Union ist die gemeinsame Norm für alles und jedes. Die Direktive bis ins Detail. Das ist uneuropäisch, würde ich behaupten. Und selbstverständlich unattraktiv für Länder wie die Schweiz oder Norwegen.

 

Man könnte argumentieren, dass EU-weite Normen für Wirtschaft und Verbraucher durchaus sinnvoll sein können – denken Sie nur an den lästigen Steckdosenadapter, den Sie auf Auslandslesereisen mitführen müssen.

Ich wäre durchaus bereit, über einige dieser Normen zu diskutieren. Aber dann kommen die Normgurken, die Normporrees, das Normlicht und andere Lächerlichkeiten. Sinnvolle Standards können sich auch ohne Direktive von oben durchsetzen, man kann sie national oder privatwirtschaftlich organisieren. Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar günstiger. Günter Verheugen, ehemaliger EU-Kommissar und Sozialdemokrat, schätzt, dass die Vorgaben der EU die europäische Privatwirtschaft etwa 600 Milliarden Euro jährlich kosten. Natürlich übersteigen die Gewinne diese Summe bei weitem. Aber es gibt heute keinen klar ersichtlichen Grund mehr, wieso die Einzelwirtschaften der Länder ihre Gewinne ohne neue EU-Gesetze nicht in gleicher Höhe hätten erwirtschaften können. Die EU hat als Institution, die in der Vergangenheit angetreten war, um sich an wirtschaftlichen Erfolgen messen zu lassen, heute also auch ihre ursprüngliche Legitimation verloren.

 

Missstände wie die Normgurke sind auch Ihren Landsleuten zu einem Gutteil bekannt. Sie ringen ihnen allerdings bloss ein resignierendes Schulternzucken oder einen sarkastischen Lacher ab. Das dahintersteckende System stellt jedoch niemand in Frage.

Schauen Sie, viele Dinge kann man erklären, wenn man einen Blick auf die Geschichte wirft. Die Deutschen waren unheimlich froh, als sie nach dem Krieg erstmals gleichberechtigt mit anderen Staaten an einem europäischen Tisch sitzen durften. Ähnlich froh waren sie vielleicht noch anlässlich des sogenannten «Wunders von Bern». Balsam für die Seele, Punkte für das eigene Selbstverständnis. Nachkriegsdeutschland war ein Protektorat, kein souveräner Staat. Die Erfahrung, wieder mitgestalten zu dürfen, etwas zu bedeuten, sitzt tief, bis heute. Wir Deutschen wollten wieder brav sein, und das sind wir eben geblieben.  

 

In letzter Konsequenz treibt dieses Selbstverständnis Deutschland als grössten Nettozahler in den Ruin. 

Es geht ja nicht nur um Deutschland. Weiten Sie den Blick. Die Vorherrschaft der Finanzökonomie ist ein globales Phänomen; sollte es also zu einem Crash kommen, so trägt Brüssel höchstens eine Teilschuld. Die Schuldenlasten der Griechen sind im Vergleich mit jenen der USA vernachlässigbar.    

 

Griechenland ist nicht allein. Es folgen Island, Irland, Portugal, Spanien… In Brüssel herrscht dennoch business as usual. Für einmal scheint niemand auf Hans Magnus Enzensberger, der sonst als «intellektueller Stichwortgeber» gilt, hören zu wollen.

Zum Teil mag es an mir liegen, dass man mich nicht hört. Weil ich zum Beispiel nie in Talkshows gehe. Dort könnte ich mein Buch in die Kamera halten; das ist mir aber einfach zu blöd. Der Essay ist auch ohne meine Präsenz in Talkrunden gerade in der sechsten Auflage erschienen, wird in 14 Sprachen übersetzt. Das hat einen Grund: Mundpropaganda! Sie funktioniert subtiler und besser als herkömmliche Reklame. Kürzlich hörte ich, dass der Text auch in Brüssel gelesen werde. Allerdings eher unter dem Tisch – wie eine Art Porno. Seitens der Institution gibt es natürlich keine Reaktion. Bei der Mafia nennt man dieses Vorgehen Omertà.

 

Man sitzt die Kritik schweigend aus.

Genau. Die lästige Fliege ist aber, wie Sie wissen, nicht so leicht zu verscheuchen.

 

Wie lässt sich ein derart Kritik-immunes System reformieren?

Durch seinen Rückbau. Das ist kein radikaler Vorschlag, aber ein praktikabler. Die Institution muss auf ihr Kerngeschäft zurückgeführt werden, sie muss Kompetenzen an nationale Stellen zurückgeben.

 

Welche genau?

Ich sage Ihnen, was bleiben darf und bleiben wird: die Idee eines gemeinsamen Marktes und die Idee der Personenfreizügigkeit. Was nicht bleiben darf, ist die Usurpation demokratischer Rechte. Denn die Folge davon, das sehen wir gerade, ist der Aufstieg populistischer Kräfte, die die EU-Kritik als Vehikel zum Machtgewinn nutzen. Die Schweiz hat ihren Blocher, die Finnen ihre «wahren Finnen» und die Dänen kontrollieren sogar schon die Grenzen wieder. Selbst in Schweden und Norwegen gibt es 20-Prozent-Parteien, die ausschliesslich dank ihrer Antihaltung zur EU erfolgreich sind. Der Bürger sagt sich: solange ich überhaupt noch wählen darf, wähle ich die Gegner der Institution. Völlig verständlich. Paradoxerweise ist an genau dieser europaweiten Bewegung die EU selbst schuld. Sie fährt ihren eigenen Karren aufgrund der ihr innewohnenden demokratischen Mängel an die Wand.

 

Fromme Wünsche zum Rückbau werden die EU nicht davon abhalten, die Kompetenzen weiter auszubauen und zu zentralisieren.

Der Rückbau funktioniert nur unter Druck. Die populistischen Bewegungen üben diesen Druck nun aus, und die etablierten Parteien und Funktionäre müssen auf irgendeine Art und Weise darauf reagieren. Bezeichnend mag auch hier wieder sein, dass der Druck in Deutschland im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten der EU sehr gering ist. Weder die Linke noch die Rechte schafft es, sich mit dem Thema prominent zu positionieren. Sobald man über die Grenzen schaut, sieht das ganz anders aus: Václav Klaus, der Präsident der Tschechischen Republik, zum Beispiel ist sehr EU-skeptisch.

 

Klaus hat ein Problem: er wird medial mit Verschwörungstheoretikern und Reaktionären in einen Topf geworfen. Haben Sie nicht auch Bedenken, in dieser Ecke zu landen?

Sie reden vom «Beifall von der falschen Seite». Damit habe ich mich schon sehr früh beschäftigen müssen. Ich höre weder auf den «richtigen» noch auf den «falschen» Beifall, das würde mich ja ganz verrückt machen. Jeder, der öffentlich auftritt, sorgt dafür, dass man sich ein Bild von ihm macht. Sobald die Menge dieser Bilder eine kritische Masse überschreitet, kann man von einer Legende sprechen. Man kann dann behaupten, ich sei Anarchist, Christ, ein guter Mensch, ein Sadist, was Sie wollen. Die Geschichte einer öffentlichen Person erzeugt man nicht selbst, sie wird erzeugt. Da ist man machtlos. Mir war ohnehin nie das Talent gegeben, ein gutes Mitglied oder so etwas zu sein.

 

Das wurde Ihnen von Ihren Schriftsteller- und Intellektuellenkollegen häufiger vorgeworfen.

In den 1960er Jahren hat man in der Linken die Unterscheidung gemacht zwischen «guten Genossen» und «schlechten Genossen». Eine kleine Anekdote, an die ich mich erinnere: Der DDR-Schriftsteller Peter Hacks hat mir auf meine Kritik hin einmal gesagt, der Sozialismus sei eben «kein Weihnachtsmann». Ich habe ihm geantwortet: «Wenn der Sozialismus nicht wie der Weihnachtsmann ist, dann kann er mir gestohlen bleiben!» (lacht) So wird man kein guter Genosse.

 

An intellektueller Unterstützung aus der jüngeren Geschichte mangelt es Ihrer Bürokratiekritik jedenfalls nicht. Sie zitieren Hannah Arendt, den Staatsrechtler Roman Herzog…

…und ich hätte noch viele weitere zitieren können. Niklas Luhmann zum Beispiel. Ich hatte aber nicht den Anspruch, eine Geistesgeschichte der Bürokratie zu verfassen. Im übrigen könnte ich auch einen Aufsatz zur Verteidigung der Bürokratie verfassen, wenn Sie mich danach fragen. Denn es ist ja nicht so, dass die «bösen Bürokraten» die «arglosen Leute» überfallen! Das Bedürfnis nach Regeln kommt aus der Gesellschaft selbst. Jeder kennt das: Leute gehen vor Gericht, weil das Laub vom Baum des Nachbarn über die Grundstücksgrenze fällt. Sie wollen ein Gesetz, das dies verbietet. Es ist also zu simpel, zu behaupten, man könne die Bürokratie einfach so loswerden. Ich habe einen Vorschlag gemacht, die Ausarbeitung müssen nun andere übernehmen – Kompetenzen in dem Bereich gibt es genug.

 

Wer könnte diese Sisyphusarbeit übernehmen?

In Deutschland gibt es einen Mann namens Paul Kirchhoff, der unter anderem die Ambition hat, das sinnlose, absurde deutsche Steuersystem grundsätzlich zu reformieren. Er kommt damit bisher noch nicht durch, aber er hat jahrelange Erfahrung auf diesem Gebiet. Das ist der Profi. Aber ich, ich bin nur der Amateur. 

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